FSP-Tag: Diversität. Historische und gegenwärtige Perspektiven

21. Juni 2024, 09:00-17:00

Universität Innsbruck (Ágnes-Heller-Haus, Seminarraum 14), Innrain 52a / Schloss Ambras

Diversität ist eines der großen gesellschaftlichen Themen der Gegenwart. Als besonders relevant werden aktuell Kategorien wie Geschlechtszugehörigkeit, soziale Herkunft, Nationalität, Religionszugehörigkeit bzw. Weltanschauung, aber auch körperliche Konstitution und Alter erachtet. Diese Diversitätsdimensionen und der gesellschaftliche Umgang damit ist Ausgangspunkt vieler gegenwärtiger Debatten. Wir wollen diese Debatten situieren und im historischen Vergleich besser verstehen. Denn selbstverständlich ist Diversität kein Phänomen der Gegenwart, sondern prägt auch historische Gesellschaften. Welche historische Spezifik können wir also finden und damit die Entstehung und Geltendmachung, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse ebenso wie soziale Folgen von Differenzkategorien im Kontext erforschen?

„Schauen erlaubt?“ titelt die Sonderausstellung 2024 des Schloss Ambras in Innsbruck, die anhand der eigenen Kunst- und Wunderkammer und darin befindlicher historischer Objekte die Bedeutung und Funktion solch musealer Sammlungen für den gesellschaftlichen Umgang mit Vielfalt thematisiert. Der FSP-Tag „Diversität – Historische und gegenwärtige Perspektiven“ nimmt die Sonderausstellung zum Ausgangspunkt, um gesellschaftliche Differenzkategorien sowie deren Konstruktion und Wirksamkeit historisch wie gegenwartsbezogen in den Blick zu nehmen und diskutiert insbesondere, wie Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang mit Diversität gesellschaftliche Aushandlungsprozesse sichtbar machen.

Wir bitten um Anmeldung bis 18. Juni 2024 per Mail an fsp-kultur@uibk.ac.at

Programm

09:00–09:15 Uhr | Eintreffen

09:15–09:30 Uhr | Begrüßung und Einführung

09:30–10:30 Uhr | "Alter als Defizit? Was uns der Kindskönig Ladislaus Postumus über Diversität in der Vormoderne sagen kann" von Julia Burkhardt

Prag 1457: Unerwartet für die Zeitgenossen stirbt Ladislaus Postumus (1440–1457), König von Böhmen und Ungarn sowie Herzog von Österreich. Sein Tod löst nicht nur Spekulationen über die Nachfolge in seinen Herrschaftsgebieten aus, sondern auch Gerüchte über sein Dahinscheiden in jungen Jahren. Das Alter schien für Ladislaus Postumus beinahe sein Leben lang ein Defizit zu sein: Der nach dem Tod seines Vaters Albrecht II. geborene Ladislaus avancierte bereits im Säuglingsalter zum Erben und Nachfolger des Vaters in Österreich, Böhmen und Ungarn. Anfänglich vor allem von seiner Mutter Elisabeth von Luxemburg unterstützt, befand er sich bis 1452 in der Obhut seines Vormundes Friedrich III. und wurde erst auf Druck verschiedener Parteiungen mit 12 Jahren für regierungsfähig erklärt. Dabei galt Ladislaus Postumus stets entweder als „zu jung“ oder er legte vermeintlich „erwachsene“ Verhaltensweisen an den Tag, die nicht zu seinem Alter passen wollten.

Wie aber verändert sich unsere Perspektive auf diesen Kindskönig, wenn wir den Blick auf Differenzkategorien wie Alter, Geschlecht, soziale Herkunft oder Sprache lenken? Ausgehend von dieser Frage diskutiert der Vortrag anhand der Biographie des Ladislaus Postumus die Funktion von „Diversität“ als historische Analysekategorie. Erörtert wird, wie Ladislaus‘ Alter sowie weitere Differenzkategorien zeitgenössisch sowie später kulturell konstruiert, codiert und repräsentiert wurden und wie sich mit ihrer Hilfe daran gesellschaftliche Aushandlungsprozesse der Vormoderne sichtbar machen lassen.

10:30–11:00 Uhr | Kaffeepause

11:00–11:40 Uhr | "Behinderungen im Blick. Wie Bilder Be-Deutungen erhalten." von Rouven Seebo

Die Forschung mit Bildern erfordert das Übersetzen des visuellen Gehalts in Textsprache. Mithilfe von Beschreibungen, Analysen und Interpretationen können visuelle Daten rekonstruiert und gedeutet werden. Für Interpretationen und die Be-Deutung von Bildern müssen jedoch auch Wissensbestände berücksichtigt werden, die nicht zwangsläufig bildinhärent sind, dafür aber an diese herangetragen werden. Mithilfe dieses Deutungswissens erscheinen Bilder auf eine bestimmte Weise und damit auch das, was im Bild überhaupt gesehen werden kann. Das Wissen um die Kontexte, in denen Bilder entstanden sind, beeinflusst den Deutungsprozess. 

Anhand von zwei Bildbeispielen möchte ich in meinem Beitrag zeigen, wie Wissen um Körper und Behinderungen nicht nur in Bildern eingeschrieben ist, sondern auch durch die Betrachtungsweise und die an die Bilder herangetragenen Wissensbestände mit-konstruiert werden. 

11:40-12:20 Uhr| "Poetische Anrede: Diversität und Gemeinschaft" von Brigitte Rath

Anrede ist ein sozialer Akt, der Angesprochene ebenso prägt wie Anredende. Wie wir uns entscheiden, andere zu adressieren charakterisiert die Gemeinschaften, die wir schaffen. Die Anrede im Gedicht bietet ein großes Reservoir an alternativen Formen der Adressierung; in der Auseinandersetzung mit dem dort entfalteten breiten Spektrum an Möglichkeiten wie auch mit den Beschränkungen ihrer Verbreitung zeigt sich die potentiell gemeinschaftserweiternde Kraft der poetischen Anrede wie auch der Widerstand, auf den sie stößt.

In diesem Beitrag möchte ich die Bildung heterarchischer Gemeinschaften in Szenen der poetischen Anrede verfolgen. Auf der Basis eines umfangreichen kommentierten Korpus beschreibe ich typische Dynamiken der Anrede im englischen Sonett von 1530 bis 1910 und ihre Veränderungen. Dabei konzentriere ich mich darauf, wie breit und divers das Spektrum möglicher Adressat:innen in mancher Hinsicht ist: neben realen und fiktiven Personen können andere Lebewesen, Gegenstände oder auch abstrakte Konzepte angesprochen werden. In der Auseinandersetzung mit einigen ausgewählten Sonetten wird die komplexe Interdependenz all ihrer Teilnehmer:innen bei der Schaffung einer momentanen, erweiterten und diversen Szene der Gemeinschaft wie auch deren Anfechtungen, Ausschlüsse und Grenzen deutlich.

12:20-13:00 Uhr| "'Aktenkundig' - Behinderung als bürokratische Bestandsaufnahme und (sonder-)pädagogischer Auftrag im Nationalsozialismus" von Josefine Wagner

In meinem Beitrag möchte ich mich der Zeitzeugin Elvira Hempel widmen, die in ihrem zweistündigen Interview, vorliegend im Jeff and Toby Herr Oral History Archive des United States Holocaust Memorial Museums, davon berichtet, wie ihre Familie „aktenkundig“ wird und damit in das Blickfeld des nationalsozialistischen Verwaltungsapparats gerät. An der Schnittstelle von Armut, Vernachlässigung und sogenannter „Bildungsunfähigkeit“ wird Elvira durch verschiedene psychiatrisch-medizinische Instanzen letztlich in eine Tötungsanstalt verwiesen. Als Zeitzeugin der „Kindereuthanasie“, dem 5,000 Kinder zwischen 1939 und 1945 zum Opfer fallen, kann sie entkommen, da sie letztlich doch als „brauch- und bildbar“ eingeschätzt wird. Ein Blick in die Schulbuchliteratur der Kriegsjahre zeigt jedoch, dass ihre Lehrerinnen und Lehrer an der Ausgrenzung, Beschämung und Isolation von Kindern mit sogenannten Beeinträchtigungen beteiligt waren und ihren pädagogischen Beitrag zur Implementation der Sterilisations- und Aussonderungspolitik der Nationalsozialisten leisteten. „Aktenkundig“ zu sein, war somit auch mit einem Bildungsauftrag verbunden, der darauf ausgerichtet war, die „Brauchbaren“ von den „Unbrauchbaren“ zu trennen. 

13:00–14:00 Uhr | Gemeinsame Mittagspause

14:15 Uhr | Gemeinsame Abfahrt zum Schloss Ambras

15:00-17:00 Uhr | Führung durch die aktuelle Sonderausstellung "Schauen erlaubt?!" des Schloss Ambras 

 

Vortragende

Julia Burkhardt

Prof. Dr. Julia Burkhardt ist Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Prodekanin der Fakultät 09 der LMU. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Mitteleuropas (Deutschland, Polen, Böhmen, Ungarn) in politik-, kultur- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, religiöse Gemeinschaften im Hoch- und Spätmittelalter sowie die Überlieferung und Edition von Exempel-Texten. Zu ihren wichtigsten Publikationen gehören Ich, Helene Kottannerin. Die Kammerfrau, die Ungarns Krone stahl (mit Christina Lutter, 2023) sowie Von Bienen lernen. Das Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf (Analyse, Edition, Übersetzung Kommentar) (2020).

Rouven Seebo

Rouven Seebo, M.A. studierte an der Leuphana Universität Lüneburg Kultur- und Bildungswissenschaften. Er ist Universitätsassistent  im Lehr- und Forschungsbereich Disability Studies und Inklusive Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck. Aktuell forscht er in seinem Dissertationsprojekt zu Selbstdarstellungen von Menschen mit Behinderungen auf Social Media. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der kulturwissenschaftlichen Bildungsforschung, pädagogischer Anthropologie sowie visuellen Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 

Brigitte Rath

Brigitte Rath arbeitet am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck und forscht zu Nicht-Einsprachigkeit und Pseudoübersetzungen, zu Relationalität und zur gemeinschaftsbildenden Kraft der Anrede im Gedicht.

Josefine Wagner

Josefine Wagner arbeitet als Universitätsassistentin (Postdoc) am Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung der Univesität Innsbruck. Nach ihrem Doktorat, das sie in dem European Doctorate in Teacher Education an der UIBK und der Universität Niederschlesien in Polen erworben hat, war sie als Gastforscherin am United States Holocaust Memorial Museum mit ihrem Projekt Sonderpädagogik: Continuities and Ruptures of Eugenics Discourses in Special Needs Education tätig. Momentan schließt sie ihr Buchprojekt Schools for All? Central European Education between Eugenics and Human Rights ab und befindet sich in enger Zusammenarbeit mit der Maynooth University in Irland, wo sie für ihr nächstes Projekt, Learning Friendship: An Ethnography of Social Belonging in Education schulethnographisch forscht.   

Sonderausstellung: "Schauen erlaubt?!"

 

 

Organisation

Forschungsschwerpunkt "Kulturelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte // Teresa Millesi & Silke Meyer

Kontakt: fsp-kultur@uibk.ac.at // Teresa Millesi & Silke Meyer

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