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Problematische Identitäten: Ein diskursanalytischer Blick auf die Genreklassifikation des autobiografischen Computerspiels Dys4ia

Obwohl wir ständig mit ihnen hantieren, sind Genreklassifikationen alles andere als festgefügt. Gerade bei Computerspielen gibt es immer wieder Diskussionen um die richtige Benennung. Die Klassifikation randständiger Phänomene eignet sich besonders für einen tiefen Einblick in kulturelle Aushandlungsprozesse. Der Spur des Spiels Dys4ia folgend, soll dies im folgenden Beitrag geschehen.

Gibt es das Genre Autobiografische Computerspiele? Diese zunächst unschuldig scheinende Frage wirft bei näherer Betrachtung doch einige Probleme auf, da die Antwort auf sie wohl je nach Position der oder des Antwortenden unterschiedlich ausfallen würde. Versetzte ich mich in die Lage einer GamerIn, VerkäuferIn oder JournalistIn, der/die im Bereich Computerspiele tätig ist, wäre die Antwort eventuell ein „Ja“ mit einem folgenden Verweis auf eine Reihe von Spielen. Ich könnte beispielsweise Spiele wie Dys4ia, That Dragon, Cancer, The Beginner’s Guide, Papo & Yo oder That War of Mine nennen. Dieses hypothetische Gespräch könnte man um eine dritte Person erweitern, die womöglich den Einwand vorbringt, dass es sich bei den genannten Titeln nicht um autobiografische Spiele handele, sondern um Personal Games oder dass diese Bezeichnung zumindest passender sei.

Will ich nun aus der Perspektive einer WissenschaftlerIn heraus auf die anfangs gestellte Frage antworten, verkompliziert sich die Sachlage weiter. Vielleicht würde ich ebenfalls mit „Ja“ antworten und eine lange Erklärung folgen lassen, was das Autobiografische ausmacht, was Spiele und im Besonderen Computerspiele definiert, und damit schließen, dass es Computerspiele gibt, die den eben definierten Kriterien genügen. Diese Liste autobiografischer Computerspiele könnte sich allerdings von der vorherigen Liste unterscheiden. So stünde vielleicht That War of Mine nicht auf der Liste, weil dessen Spielinhalte nicht auf das Leben einer spezifischen Person und schon gar nicht auf das spezifische Leben eines Menschen, des Autors oder der Autorin, bezogen werden kann. Eventuell wäre aber auch ein „Nein“ möglich, mit einer anschließenden Erklärung, was das Autobiografische ausmacht, was Spiele und im Besonderen Computerspiele definiert, gefolgt von der Aussage, dass es keine Spiele gibt, bei denen alle notwendigen Kriterien erfüllt sind.

Eine andere Antwort aus wissenschaftlicher Perspektive könnte auch ein „Ja“, „Nein“ oder „Vielleicht“ sein, jeweils mit dem Zusatz, dass es aber im Grunde egal ist, ob es das Genre gibt. Interessant ist lediglich die Frage, ob es Menschen gibt, die von autobiografischen Computerspielen sprechen, was sie gegebenenfalls damit meinen, und falls mehrere Leute davon sprechen, ob sie das Gleiche, etwas Ähnliches oder etwas Anderes meinen. Diese letzte Perspektive könnte die einer HistorikerIn oder DiskursanalytikerIn sein. Bleiben wir bei dieser Perspektive, muss wieder das erste hypothetische Gespräch in den Blick genommen werden, nun jedoch nicht als Gedankenexperiment, sondern als Untersuchungsgegenstand, und zwar nicht mehr als hypothetische Überlegung, sondern in seinen realen Ausprägungen.

Bezogen auf mein Dissertationsprojekt sind hier die wichtigen Perspektiven genannt, unter denen ich mich möglichen autobiografischen Computerspielen nähern will. Einen ersten Teil wird eine werkseitigen Analyse bilden, bei der die Fragen im Vordergrund stehen, wie die Spiele die Idee des Autobiografischen als Spiel umsetzen, wie sie funktionieren, wie sie erzählen und schließlich welche Rezeptionsmöglichkeiten oder besser Handlungsmöglichkeiten und -angebote sie den SpielerInnen bieten.

Um aber zunächst den Gegenstand zu bestimmen, ist eine diskursanalytische Perspektive auf die Rezeption der Spiele unerlässlich. So sollen primär die Spiele in den Blick genommen werden, die als autobiografisch begriffen werden, sei es seitens der Presse, seitens der SpielerInnen oder auch in Form einer Selbstbezeichnung. Hier steht besonders die Frage im Hintergrund, ob die Kategorie des Autobiografischen als Kriterium für die Gegenstandsbestimmung tragfähig ist. Weiterhin ermöglicht es ein solcher Blick, die behandelten Spiele im zweiten Teil des Dissertationsprojektes in den größeren Diskursfeldern rund um die Definition von (Computer-)Spielen, in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung sowie ihrem Verhältnis zu Kunst zu verorten. Der Schluss dieses Beitrags wird darauf einen kurzen Ausblick geben. Im Folgenden soll nun jedoch anhand der Rezeption des Computerspiels Dys4ia nachgezeichnet werden, wie schwierig sich Genreklassifikationen gestalten können und welche Rolle schließlich das Autobiografische dabei spielt.

Ein autobiografisches (?) Spiel: Dys4ia im Spiegel seiner Rezeption

Schon auf dem Titelbildschirm Spiels Dys4ia werden die beiden einzigen an der Entwicklung beteiligten Personen genannt. Es handelt sich um Anna Anthropy, der Games-Designerin, und um Liz Ryerson, die sich für die musikalische Gestaltung verantwortlich zeigt. Direkt auf den Titelbildschirm folgt ein einführender Text:

This is an autobiographical game about my experiences with hormone replacement therapy. My experience isn’t anyone’s else’s and is not meant to be representative of every trans person.

In Verbindung mit dem vorherigen Titelbildschirm ist es eindeutig, dass hier Anna Anthropy als Erzählerin auftritt und sich das folgende Spiel um ihre spezifischen Erlebnisse dreht, es daher autobiografisch ist.

Diese Selbstbezeichnung wird u.a. vom Onlinemagazin giantbomb.com übernommen. Es führt „Autobiography“ als „Concept“ auf und nennt verschiedene Computerspiele, denen dieses Konzept zu Grunde liegt. Dys4ia befindet sich zusammen mit That Dragon, Cancer, Papo & Yo oder That War of Mine darunter. Abermals genannt wird es auf der Seite molleindustria.org als eines der Top-Spiele des Jahres 2012 und wieder explizit als autobiografisches Spiel bezeichnet: „There have been a few overtly autobiographical games in recent years (Jason Roh[r]er’s [sic] Gravitation and Papo and Yo come to my mind) but nothing has been as direct and vivid as Dys4ia.“

Eine andere Auflistung bietet das MIT Game Lab. Hier taucht Dys4ia als eines von zehn „Documentary Games“ auf. Im kurzen Textbeitrag zu Dys4ia heißt es:

Anna Anthropy is a prolific game designer and game studies author who has produced several works around various aspects of her life, in a genre increasingly known as ‘diary/journal games.’

Nun könnte die Frage gestellt werden, wie sich das Genre „diary/journal games“ zum Genre „Documentary Games“ verhält, oder die Frage, ob der Genrebegriff „diary/journal games“ tatsächlich vermehrte Verwendung findet.

Um aber die Spur von Dys4ia noch ein wenig weiter zu verfolgen: Es begegnet uns auch in einem Beitrag, der unter puls, der Jugendsparte des Bayerischen Rundfunks, veröffentlicht wurde. Der Beitrag ist mit „Personal Games – Wenn man die Vergangenheit des Entwicklers zockt“ überschrieben. Neben dem Textbeitrag gibt es einen angegliederten Videobeitrag unter dem Titel „Personal Games – Games, die euch zum Weinen bringen“. Dys4ia wird dort nicht behandelt, ist aber die erste Nennung des Textbeitrags. In diesem ist allerdings an keiner Stelle von autobiografischen Spielen die Rede (oder von vergleichbaren Klassifikationen), was jedoch im Video bei der Beschreibung von That Dragon, Cancer geschieht. Zu Dys4ia heißt es im Text:

Viele queere Gamedesigner haben Personal Games für sich entdeckt. Unbedingt kennen sollte man ‚Dys4ia‘. Entwickelt wurde es nämlich von Transgender-Gamedesignerin Anna Anthropy, einer Pionierin des Genres.

Auch wenn hier nur ein kleiner Blick in die Quellenlage gegeben wurde, zeichnet sich doch folgendes Bild ab: 1. Es scheint eine gewisse Schwierigkeit zu geben, selbst bei einem einzelnen Spiel wie Dys4ia eine einheitliche Genrebezeichnung zu finden. 2. Es ist zunächst nicht ungewöhnlich, dass es bei Computerspielen eine eher lockere Genreklassifikation gibt. Diese funktioniert überwiegend nach einem additiven System, in dem eine oder mehrere spielmechanische Eigenheiten wahlweise mit inhaltlichen Bezeichnungen kombiniert werden. So kann z.B. von einem Sci-Fi-First-Person-Shooter die Rede sein. Verglichen damit ist es im Falle von Dys4ia und anderen Spielen, die in seinem Umfeld genannt werden, ungewöhnlich, dass die spielmechanische Klassifizierung in den Hintergrund tritt und die Gruppierung rein anhand inhaltlicher Kriterien erfolgt. 3. Es gibt zwar keine einheitliche Genrebezeichnung im Falle von Dys4ia, jedoch spielt das Autobiografische in den angeführten Beschreibungen des Spiels stets eine wichtige Rolle.

In jedem Fall rufen die Genrebezeichnungen Vorstellungen einer expliziten AutorInnenschaft auf und suggerieren die Herleitung der Spielinhalte aus dem Leben des oder der jeweiligen AutorIn. Dies scheint der entscheidende Aspekt zu sein, weshalb es relativ große Überschneidungen zwischen den Mengen der autobiografischen Computerspiele, „personal games“ oder „diary/journal games“ gibt – Kategorien, die allesamt auf die genannten Ideen des Autobiografischen rekurrieren. Trotz des Befunds, dass bisher nicht einheitlich von dem Genre Autobiografische Spiele gesprochen wird, scheint die Frage nach autobiografischen Spielen dennoch geeignet, eine sinnvolle Gruppe von Computerspielen für eine weiterführende Analyse zu bestimmen.

Ein autobiografisches Spiel (?): Ein Ausblick

Die gezeigten Versuche einer Genreklassifizierung lassen sich in einem größeren Kontext betrachten. Zunächst handelt es sich bei den Spielen, welche mit einer Idee des Autobiografischen in Verbindung gebracht werden, nicht um besonders prominente oder alltägliche Computerspiele. Sie werden als sog. Indie Games verhandelt, was impliziert, dass sie meist von sehr kleinen Teams bis hin zu einzelnen Individuen entwickelt und unabhängig von großen Publishern veröffentlicht wurden. Einerseits ist ihr Bekanntheitsgrad dadurch überschaubar, andererseits gelten sie als innovativ, experimentell oder künstlerisch anspruchsvoll. Sie werden auch deutlich stärker als große Mainstreamproduktionen mit einzelnen Individuen identifiziert, die für Design und Inhalt maßgeblich verantwortlich seien. Hierbei schwingen ebenfalls die Ideen eines individuellen künstlerischen Ausdrucks und damit auch eine Erweiterung des Ausdrucksrepertoires von Computerspielen und durch Computerspiele mit. Besonders bei den hier genannten Beispielen steht in der Berichterstattung gerade dieser persönliche Ausdruck im Zentrum, der im Falle von Dys4ia zusätzlich mit der Identitätsverortung einer Angehörigen der LGBQT+-Community verbunden wird. Dass es hierbei auch um den Beleg der künstlerischen und gesellschaftlichen Relevanz von Computerspielen geht, zeigt nicht zuletzt die Aufnahme von Dys4ia in die Ausstellungen des Zentrums für Kunst und Medien „zkm_gameplay. the next level“ sowie „Games and Politics“.

Allerdings finden sich auch Stimmen, die den genannten Spielen weniger aufgeschlossen gegenüberstehen. Besonders in User-Reviews tauchen immer wieder Kritikpunkte auf, die sich auf die angeblich zu kurze Spielzeit oder das wenig fordernde Gameplay beziehen. Mitunter wird gar in Frage gestellt, ob es sich noch um Computerspiele handelt. Gegenläufig zu den Diskursen um mögliche künstlerische Ausdrucksformen durch Spiele und Erweiterungen des inhaltlichen Repertoires sind solche thematisch außergewöhnlichen und schwer zu fassenden Spiele also ebenfalls Anlass für die diskursive Bestimmung dessen, was ein gutes oder überhaupt ein Computerspiel ausmacht. Über die Analyse der Spiele als Umsetzung des Autobiografischen im Medium Computerspiel hinaus bieten sie also in ihrer schwierigen Verortung zwischen (Unterhaltungs-)Spielen, Art Games und Serious Games einen Ausgangspunkt, um ein tieferes Verständnis über aktuelle, teils konfliktreiche Diskurse rund um eine Definition von Computerspielen sowie ihrer Fähigkeiten und ihres gesellschaftlichen Stellenwerts zu erlangen.  

(Felix Tenhaef)


Felix Tenhaef absolvierte von 2010–2019 ein Bachelor- und Masterstudium in den Fächern Kunstgeschichte und Musikwissenschaft an der Universität zu Köln. Seit März 2020 ist er Universitätsassistent am Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck und arbeitet an einem Promotionsprojekt zum Thema „Das Genre autobiografischer Computerspiele – zwischen persönlichen Selbstzeugnissen und künstlerischen Ausdrucksformen“. Davor war er 2018–2020 Projektassistent beim Deutschen Musikrat gGmbH / Deutschen Musikinformationszentrum, 2018 freier Mitarbeiter der Margarethe Krupp-Stiftung, 2017–2018 Freier Mitarbeiter der Firma Forschung am Bau GbR, 2015–2018 Wissenschaftliche Hilfskraft am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln, Abteilung Architekturgeschichte, 2014–2015 Wissenschaftliche Hilfskraft im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln.

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