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"Terra di Cleopatra" von Annie Vivanti (Mondadori: Milano 1929). Foto von Evelyn Ferrari

Kolonialismus, Hybridität und der weibliche Körper im Roman "Mea Culpa" (1927) von Annie Vivanti

In meinem Beitrag biete ich Ansätze zu einer postkolonialen Lektüre von Annie Vivantis Text "Mea Culpa" (1927) an. Meine Analyse fokussiert sich dabei auf die Rolle und die Darstellung des weiblichen Körpers.

Annie Vivanti, eine (fast) vergessene Schriftstellerin

Annie Chartres Vivanti (Norwood, 1866–Turin, 1942) war eine kosmopolitische und ebenso vielseitige wie vielschichtige Schriftstellerin: Ihr Vater war Italiener, ihre Mutter Deutsche, aufgewachsen ist Annie in England. Ihre Erstsprachen waren daher Englisch und Deutsch. Italienisch lernte sie erst später, aber es war die Sprache, in der sie ihre wichtigsten Werke veröffentlichte. Der Vater war Jude, aber Annie wurde protestantisch erzogen, gleichwohl sie später zum Katholizismus konvertierte. Annie Vivanti lebte in England, Frankreich, den USA und Italien. Ihre vielfältige literarische Produktion umfasste Gedichte, Romane, Novellen und Artikel für Zeitungen sowie Theaterstücke und ist Ausdruck ihres politischen Engagements. Das Interesse für soziale Themen bewegte sie dazu, sich mit aktuellen und gesellschaftlich relevanten Problemen zu beschäftigen wie der irischen Unabhängigkeit, den elenden Lebensumstände der italienischen Risorgimento-Kämpfer im englischen Exil und dem Kolonialismus. Ihre kosmopolitische Familienbiografie bestimmte nicht nur das Interesse an internationalen sozialen Fragen, sondern auch die Tatsache, dass Annie Vivanti sich keiner Nation zugehörig fühlte; vielmehr identifizierte sie sich als Bürgerin der Welt. Trotz des anfänglich großen Erfolgs ihrer Werke geriet sie nach ihrem Tod in Vergessenheit, auch wegen des Inkrafttretens der Rassegesetze in Italien (1938), welche die Werke vieler Autor*innen jüdischer Herkunft aus den Bibliotheken und den Verlagen verbannten. Heute, im Zuge des Interesses für das weibliche Schreiben, ist Annie Vivanti zusammen mit vielen anderen Autorinnen wiederentdeckt worden.

Eine Analyse aus der Sicht der Postcolonial Studies

Mit Fragen des Kolonialismus hat sich Annie Vivanti insbesondere in drei ihrer Werke auseinandergesetzt, und zwar in der Novelle Tenebroso amore (1920) und in zwei Romanen: Terra di Clepoatra (1925) und Mea Culpa (1927). Das macht diese Werke zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand für eine Analyse aus der Sicht der Postcolonial Studies. Die Postcolonial Studies sind ein Forschungsansatz, welcher sich ab den 1960er und 1970er Jahren entwickelt hat. Im philosophisch-politischen Bereich beschäftigen sich die Postcolonial Studies mit Fragen bezüglich der Entwicklung einer nationalen Identität in Ländern, welche kolonisiert wurden, und den Machtverhältnissen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten. In den Literaturwissenschaften können aus der Perspektive der Postcolonial Studies einerseits literarische Texte von Autor*innen analysiert werden, die den Kolonialismus aus einer eurozentrischen Perspektive heraus rechtfertigen. Ziel ist es hier, die herabwürdigenden Darstellungen des „Anderen“ kritisch zu hinterfragen. Auf der anderen Seite ermöglichen die Postcolonial Studies einen Blick auf die Werke zu werfen, welche von kolonialisierten Schriftsteller*innen geschrieben wurden, um marginalisierte Diskurse gegenüber den hegemonialen Sichtweisen der Kolonialmacht in den Fokus zu rücken.
Es ist interessant, eine Autorin wie Annie Vivanti aus der Sichtweise der Postcolonial Studies zu betrachten, denn sie befindet sich in einer Position, die ihr eine doppelte Perspektive erlaubt: Als Engländerin gehörte sie zur Seite der Kolonialmacht, aber aufgrund der väterlichen Erfahrung als Kämpfer für die Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft während der ersten Risorgimento-Unruhen konnte Annie Vivanti aus nächster Nähe die Auswirkungen der Besetzung eines Landes seitens einer anderen Nationalmacht auf die Bevölkerung des besetzten Gebiets miterleben.
Was bei der Lektüre der Texte Vivantis sofort ins Auge sticht, ist außerdem die Funktion, welche die Frau und der weibliche Körper einnehmen. Im kolonialen wie im Kriegsdiskurs wurde der weibliche Körper als Verkörperung der Heimat oder des zu erobernden Landes angesehen: Die Heimat zu verteidigen, bedeutete für die (männlichen) Soldaten, die Frauen zu schützen, während ein neues Land zu erobern für die (männlichen) Eroberer meinte, die einheimischen Frauen zu besitzen (vgl. Braun 2000: 28). In diesem Sinne kann der weibliche Körper zu einem umkämpften Terrain werden. Die Funktion, die der weibliche Körper in den in meiner Dissertation untersuchten Werken einnimmt, geht jedoch noch darüber hinaus: Er wird nicht nur zu einem Terrain des Konflikts gemacht, sondern auch zu einem Terrain der Begegnung und einer positiven Hybridität und Diversität.

Der weibliche Körper als zugewiesenes Terrain des Konflikts und der Begegnung im Roman Mea Culpa

Im Folgenden werde ich am Beispiel des Romans Mea Culpa und auf Basis dieser Überlegungen zum weiblichen Körper im kolonialen Diskurs eine kurze Analyse des Werkes aus der Sicht der Postcolonial Studies anbieten.
In diesem Roman verliebt sich die Protagonistin Astrid, eine Irin, in Saad Nassir, einen ägyptischen Patrioten, mit dem sie eine Woche in der Wüste verbringt. Sie heiratet aber schlussendlich Norman Grey, einen britischen Kommandanten. Als Astrid ein blondes und hellhäutiges Kind bekommt, Darling, ist sie sich sicher, dass das Kind von ihrem Ehemann und nicht von Saad stammt. Doch Jahre später, als Darling ein Kind von ihrem britischen Mann erwartet, stellen alle bei der Geburt überrascht fest, dass dieses Kind dunkle Haut, dunkle Haare und dunkle Augen hat. Somit wird klar, worauf sich das Mea Culpa des Titels bezieht: Darling, die bei der Geburt stirbt, war in Wirklichkeit die Tochter von Saad Nassir, und ihr Neugeborenes verkörpert, nach einem Generationensprung, Astrids „Schuld“. Nach dieser Offenbarung bricht Astrid mit ihrem Enkelkind auf und erreicht Saad in der Wüste, um mit ihm als Dreier-Familie zu leben.
Der weibliche Körper steht von Anfang des Romans an im Zentrum der Aufmerksamkeit: Astrids blondes Haar, ihre blauen Augen und ihre weiße Haut stehen in einem Gegensatz zu den dunklen Augen, Haaren und Haut von Saad Nassir. Aber auch wenn die englischen Soldaten in Ägypten Saad und die Einheimischen aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminieren und für unterlegen halten, ist Astrid von Saad fasziniert und angezogen. Somit befindet sich Astrid mitten im Konflikt zwischen Kolonisten (in der Figur vom Kommandanten Norman Grey) und Kolonisierten (in der Figur von Saad Nassir). Beide Männer kämpfen nämlich gleichzeitig für die Eroberung bzw. Verteidigung und Befreiung Ägyptens und für die Eroberung der Frau (in diesem Fall Astrid).
Wie oben angeführt und wie in diesem Roman deutlich zum Ausdruck kommt, kann der weibliche Körper zu einem Terrain der Kriegsführung, genauso aber zu einem Terrain der Begegnung gemacht werden. Letzteres sieht man an Astrids Schwangerschaft. Die Entscheidung, eine kurze, aber intensive Liebesbeziehung mit Saad zu erleben, ist für Astrid eine Antwort auf die Gewalt seitens ihres zukünftigen Ehemannes und seiner Soldaten gegenüber der einheimischen Bevölkerung: Indem sie Saad, den „Anderen“, liebt und akzeptiert, versucht sie, den von den Engländern gebrachten Tod und die Gewalt auszugleichen. Astrid und Saads Kind, Darling, verkörpert die Verschmelzung von zwei verschiedenen Ethnien, obwohl man es nicht an seinem Aussehen ablesen kann. Nur bei der Geburt von Darlings Baby zeigen sich die Gene von Saad Nassir. Das enthüllt Astrids Geheimnis und führt zu ihrer Abschottung.

Das mag nicht tröstend klingen: Die Beziehung mit Saad wird von Astrid als Schuld erlebt, für die sie büßen muss, während sie versucht, die Erinnerung daran zu verdrängen. Der Roman spricht daher eine vor allem in kolonialen Kontexten sehr verbreitete Angst an, und zwar "the fear that the consequences of an occasional contact with a different race could linger for decades […] before resurfacing when least expected“ (Benedetti 2007: 63). Allerdings darf dieser Roman nicht als Warnung vor interethnischen Beziehungen gelesen werden; die Rückkehr von Astrid mit Saad und ihrem Enkelkind in die Wüste suggeriert, dass Nationalität, Kultur, Sprache und Religion keine Grenzen sind bzw. sein müssen, sondern Anknüpfungspunkte, und dass es möglich, obgleich mitunter schmerzhaft ist, einen Treffpunkt mit dem „Anderen“ zu finden. Dass eine positive Begegnung mit dem „Anderen“ durch den weiblichen Körper und genau durch die Schwangerschaft stattfinden kann, wie es in mehreren Romanen von Annie Vivanti der Fall ist, bleibt natürlich ein problematischer und nicht zu vernachlässigender Aspekt.
Aus der Sicht der Postcolonial Studies ist relevant, dass sich in diesem Roman der Versuch feststellen lässt, ein writing back anzuwenden, um die damaligen Ideen über eine vermutete „Hierarchie der Rassen“ zu unterminieren und für einen alternativen und konstruktiven Umgang mit dem „Anderen“ zu plädieren. Dieses Potenzial von Vivantis Werken lädt zu einer Lektüre ihrer Texte aus der Sicht der Postcolonial Studies ein, mit dem Ziel, die Reichweite und die Grenzen ihres writing back aufzuzeigen.

Literatur

Ashcroft, Bill; Griffiths, Gareth; Tiffin, Helen: The Empire Writes Back. Theory and practice in post-colonial literatures. Routledge: London; New York 2002.
Benedetti, Laura: The Tigress in the Snow. Motherhood and Literature in Twentieth-Century Italy. University of Toronto Press: Toronto; Buffalo; London 2007.
Braun, Christina von: „Gender, Geschlecht und Geschichte“. In: Braun, Christina von; Stephan, Inge (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Metzler: Stuttgart; Weimar 2000, S. 16-57.
Vivanti, Annie: Mea Culpa. Mondadori: Milano 1929. 

(Evelyn Ferrari)


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Evelyn Ferrari wurde 1995 in Trient (Italien) geboren und hat von 2014–2018 Germanistik und von 2016–2018 Italienisch an der Universität Innsbruck studiert. Ebendort beendete sie 2020 das Masterstudium Romanistik (Schwerpunkt: italienische Literatur- und Kulturwissenschaft) mit einer Arbeit über die Schriftstellerin Annie Vivanti. Von 2018 bis 2020 war sie studentische Mitarbeiterin im FWF-Projekt „Kino der Migration in Italien seit den 90er“, geleitet von Univ.-Prof. Dr. Sabine Schrader und seit Oktober 2020 ist sie als Senior Lecturer für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Innsbruck tätig. In ihrem Dissertationsprojekt möchte sie eine systematische, bisher noch nicht durchgeführte Lektüre der Texte von Annie Vivanti aus der Sicht der Postcolonial Studies anbieten.

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