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Indigenität versus Globalität: Eisenzeitliche Keramik als Mittel zur bewussten Repräsentation ausgewählter Identitäten

Die bewusste Repräsentation von Identitäten diente bereits in der Antike als Hilfsmittel zur Erlangung und Ausübung politischer Macht. Vor allem keramische Gefäße können einen Einblick in die Art der damaligen vielschichtigen Identitätsarbeit geben.

Archäologische Arbeit besteht neben der Tätigkeit im Feld zu großen Teilen darin, materielle Hinterlassenschaften zu analysieren und interpretieren, um so Einblicke in längst vergangene Lebenswelten zu erhalten. So kann der Versuch unternommen werden, die Sicht der damaligen Akteure nachzuvollziehen. Doch kann dies ohne schriftliche Quellen, welche eine solche Eigensicht darlegen, überhaupt gelingen? Als ein möglicher Ansatz zur Lösung dieser Problematik kann das Konzept der situativ repräsentierten Identitäten dienen, welches hier anhand des Fallbeispiels eisenzeitlicher Keramik im westlichen Binnenland Siziliens dargelegt wird.

Historisch-kulturelle Ausgangslage

Vom 8. bis ins 6. Jh. v. Chr. wurde der Mittelmeerraum durch die sog. Große Kolonisation geprägt. Sowohl Griechen als auch Phönizier gründeten entlang der Mittelmeerküsten neue Siedlungen und Handelsposten. Die im Hinter- und Binnenland ansässige indigene Bevölkerung wurde so in intermediterrane Handelsunternehmungen und Migrationsbewegungen eingebunden, wodurch sie Zugang zu neuen kulturellen und materiellen Welten erhielt. Dies gilt insbesondere für den Westen Siziliens, wo es zu einer dichten Kontaktzone zwischen Neusiedlern und Einheimischen gekommen war. Einen Hotspot solchen fremdkulturellen Kontaktes bildete die indigene Siedlung auf dem Gipfelplateau des Monte Iatos, etwa 40 km südwestlich des heutigen Palermos. Zur Erforschung dieser verdichteten Kontaktzone der ersten Hälfte des ersten Jtsd. v. Chr. führt ein Team des Instituts für Archäologien der Universität Innsbruck unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Erich Kistler und MMag.a Drin Birgit Öhlinger seit 2010 feldarchäologische und materialkulturelle Untersuchungen durch.

Pots=People?

Als eine der wichtigsten Fundgattungen zur Rekonstruktion und Datierung vergangener Lebenswelten gilt die Keramik. Im westsizilischen Binnenland ist dabei insbesondere Keramik im griechischen Stil hervorzuheben. Dank einer mehr als hundertjährigen Tradition stilgeschichtlicher und formtypologischer Forschung ist eine Datierung oft bis auf wenige Jahre genau möglich. Sich bei der Rekonstruktion und Datierung vergangener Lebenswelten auf griechische Keramik zu fokussieren, hatte jedoch zur Folge, dass Keramiken in indigener Machart, für Sizilien insbesondere jene der ritz- und stempelverzierten sowie der mattbemalten Keramik, weniger Beachtung erfahren hatten. Zudem wurde Keramik nach dem Paradigma „Pots=People“ klassifiziert. Unter der Annahme, dass eine bestimmte Keramikgattung immer nur einem bestimmten Volk zugehörig ist, wurden keramische Gruppen mit bestimmten Ethnien in Verbindung gebracht, die antike Autoren als Bevölkerungsgruppen des früheisenzeitlichen Siziliens genannt haben. Wie das Beispiel des archaischen Monte Iatos zeigt, vereinfacht diese Gleichsetzung von Keramik mit Bevölkerungsgruppen die Komplexität damaliger Kontaktzonen auf eine unzulässige kolonialistische Weise.

So wurde etwa auf dem Monte Iato im frühen 5. Jh. v. Chr. ein Bankett- und Wohnhaus errichtet, das in Größe und Ausstattung nur mit Gebäuden in urbanen oder religiösen Zentren der mediterranen Welt vergleichbar ist. Ein bereits existierendes Heiligtum unter freiem Himmel wurde architektonisch mit einem Tempel nach griechischem Vorbild ausgestaltet. Ferner gelangten bereits seit dem frühen 6. Jh. v. Chr. griechische Keramiken auf den Berg und dienten zur sozialen Distinktion unter seinen Bewohner_innen. Infolge solcher Aneignungsprozesse in einer Zeit sozialen Wandels kam es jedoch auch zu gegenläufigen Reaktionen und zur bewussten Abgrenzung von dieser neuen kosmopolitischen Welt.

Identität – Lokalität – Tradition

Besonders deutlich konnten solche Gegenreaktionen anhand einiger Befunde beobachtet werden, die durch das Fehlen von Keramiken im griechischen Stil auffällig sind, obwohl sie in die Zeitspanne zwischen dem Ende des 6. Jh. v. Chr. und Anfang des 5. Jh. v. Chr. datieren, in der die Aneignung und Adaption kultureller Errungenschaften der Griechen auf dem Monte Iato – zumindest auf dem sozialen Level der lokalen Elite – bereits alltäglich war. In diesen Befunden fanden sich zahlreiche Keramikfragmente im indigenen Stil, die zwischen dem 7. und der Mitte des 6. Jh. v. Chr. datieren und daher als Überreste von Gefäßen der „Ahnen und Vorfahren“ anzusprechen sind.

Zur Analyse wurden unterschiedliche sozialwissenschaftliche Konzepte, insbesondere jene der Identität, der Produktion von Lokalität und der Erfindung von Traditionen inhaltlich miteinander verknüpft. Als eine der unausweichlichen Reaktionen auf verstärkte Einflüsse von „Außen“ ist ein ebenso verstärkter Fokus auf die Produktion von Lokalität, also auf das „Innen“ der eigenen Gruppe, zu erwarten. Hierzu werden alte Traditionen, aber auch Produktionsweisen fortgeführt und wiederbelebt oder gar „Traditionen“ neu erfunden. Mittels traditioneller Riten als soziale Praktiken wird das Bewusstsein einer lokalen Identität gestärkt. Zentral bei solchen Riten sind symbolträchtige Identitätsmarker, beispielsweise Trachtgegenstände. wodurch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und daher auch zu einer bestimmten Identität („Opting-In“) gezeigt werden kann. Durch das bewusste Vermeiden bestimmter Marker wird hingegen eine Abgrenzung zu einer fremden Gruppe („Opting-Out“) vollzogen, wodurch zugleich die eigene, lokale Identität gestärkt wird.

Keramik als Marker situativ repräsentierter Identitäten

Unter der Voraussetzung, dass Keramiken als Identitätsmarker heranzuziehen sind, können sich die Befunde auf dem Monte Iato stimmiger in ihren soziokulturellen Sinnzusammenhängen erklären lassen. Zur Visualisierung dieser materiellen Sozial- und Kulturanalyse mittels quantitativer, computergestützter Verfahren hat sich die Darstellung in einem ternären Dreiecksdiagramm als hilfreich erwiesen. Es werden sämtliche diagnostischen Keramikfragmente eines Befundes einer von drei Gruppen (tradtioneller Stil, globaler Stil und keine bewusste Repräsentation von Identität) zugewiesen. Anhand der Verhältnisse dieser drei Werte kann jeder Befund durch einen Punkt im Diagramm dargestellt und einer Repräsentationszone zugewiesen werden (Abb. 1).

Die Clusterbildung (Abb.2) zeigt, dass globale Identität primär durch die Aneignung von Gegenständen im globalen Stil und damit durch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer sozialen Gruppe repräsentiert wird, die zwecks Elitebildung gegenüber transmediterranen Einflüssen offen war. Im Gegensatz dazu charakterisiert sich traditionelle Identität vor allem durch die Abgrenzung zur globalen Identität als lokalem Elitemacher, also durch das Fehlen von Keramik im globalen Stil. Diese Abgrenzung wurde durch die Produktion von Indigenität mittels traditional(istisch)er Riten und dem damit einhergehenden Einsatz altertümlicher indigener Keramik verstärkt. Zu diesem Zweck sind im Repertoire der indigenen Keramik vor allem einhenklige Trink- und Schöpftassen, deren Vorläufer über anthropomorph gestaltete Henkel verfügten, hervorzuheben. In zahlreichen der untersuchten Befunde konnte die Nutzung solcher Stücke im Rahmen von Auflassungsriten nachgewiesen werden. Allerdings konnte für die Auflassung des Bankett- und Wohnhauses um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. eine weitere Art der Fortsetzung dieser Tradition beobachtet werden. Mit der Nutzung eines rotfigürlichen Kopfkantharos wurde die Praxis der Verwendung anthropomorpher Schöpf- und Trinkgefäße in einem traditionellen, identitätsstiftenden Auflassungsritus beibehalten. Zugleich offenbart die Möglichkeit der Einpassung eines griechischen Imports in einem solchen Ritus, dass Keramik im globalen Stil nicht mehr gänzlich als fremd wahrgenommen wurde. Offensichtlich wurde die Repräsentation einer lokalindigenen Identität nun nicht mehr durch „Opting-Out“, sondern nur noch durch „Opting-In“, durch bewusste Anwendung traditioneller Riten, hervorgerufen.

Ein Wechsel in den Nutzungsgewohnheiten

Mit dieser zunehmenden Akzeptanz fremder Einflüsse geht schließlich auch eine Transformation der Nutzungsgewohnheiten weiterer Keramikgattungen einher. Gegen Ende des 6. Jh. v. Chr. wurde ritz- und stempelverzierte Keramik, die zu diesem Zeitpunkt seit mehr als zwei Generationen im Alltagsleben außer Gebrauch gekommen war, nur noch zur Repräsentation einer indigenen Identität im Rahmen traditioneller Riten verwendet. Dagegen dominierte im alltäglichen Gebrauch mattbemalte Keramik. Ein halbes Jahrhundert später wurde diese jedoch ebenfalls verstärkt im Rahmen von traditionellen Auflassungsriten verwendet, während hingegen ritz- und stempelverzierte Gefäße nur noch in einzelnen Ausnahmefällen zur Anwendung kamen.

Ausgehend von diesen Beobachtungen konnte ein theoretisches Modell (Abb. 3) entwickelt werden, das eine Veränderung der Nutzung von Keramiken im Laufe der Zeit anzeigt. So werden globale und daher zunächst fremdartige Keramiken nach einiger Zeit in den Alltag eingebunden, alltägliche Keramiken werden zu Anzeigern traditionellen Brauchtums. Das Hinzutreten von neuen fremdartigen Elementen bringt die Möglichkeit, erneut eine globale Identität zu repräsentieren oder sich bewusst von dieser abzugrenzen.

Bei diesen Repräsentationen von Identitäten ist das Situative ihrer Anwendung besonders hervorzuheben. Dank der sozioarchäologischen Analyse von Keramik wurde sichtbar, dass sowohl traditionelle als auch globale Identitäten zeitgleich im Rahmen kultischer Opferfeste als soziale Groß-Events repräsentiert wurden, häufig in Kontexten, die räumlich nur geringfügig voneinander entfernt lagen. Es ist davon auszugehen, dass sich für die Entstehung dieser divergierenden kulturellen und sozialräumlichen Landschaften lokaler Identitäts- und Gruppenbildung zumindest teilweise dieselben Akteure auf ihrem Weg zu lokalen Machtpositionen verantwortlich zeichneten. Je nach Situation und Notwendigkeit wurde ein unterschiedliches Zielpublikum angesprochen und die scheinbar nicht miteinander zu vereinbarenden globalen und traditionellen Identitäten wechselhaft repräsentiert.

(Thomas Dauth) 


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Thomas Dauth studiert an der Universität Innsbruck Archäologien mit Schwerpunkten in den Fachbereichen Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte. Mit Ende des Wintersemesters 21/22 schließt er sein Studium mit der Dissertation zu dem Thema „Die Verwendung ritz- und stempelverzierter Keramik als Mittel zur Repräsentation indigener Identität im eisenzeitlichen Sizilien“ ab. Seit 2012 nimmt er an den Ausgrabungen auf dem Monte Iato auf Sizilien teil und ist seit 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des Monte Iato Projektes (https://www.uibk.ac.at/projects/monte-iato/index.html.de) an der Universität Innsbruck beschäftigt.

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