Habilitationsprojekt Eleonore De Felip, Projektbeschreibung
 

„Lyrische Intensität. Theorie einer literarischen Denkfigur.

Zu Gedichten von Hölderlin, Trakl, Celan und Mayröcker“

(Arbeitstitel)

 

Das Projekt entwickelt eine Theorie der lyrischen Intensität als literarischer Denkfigur und als Kategorie wissenschaftlicher Textbeschreibung. Vor dem Hintergrund ihrer Genese aus den Naturwissenschaften sowie verschiedener Erklärungsmodelle (aus Literatur, Philosophie und Neuropsychologie) wird ein interdisziplinärer Katalog an Kriterien erstellt, anhand derer das Phänomen „Intensität“ an lyrischen Texten erfasst und analysiert werden kann. Um möglichst differenzierte Kriterien zu formulieren, wurde der ursprünglich anvisierte Rahmen des Projekts dahingehend erweitert, dass nicht mehr nur Gedichte von Friederike Mayröcker als Basis der Analyse herangezogen werden, sondern auch Gedichte von Hölderlin, Trakl und Celan. Allen Texten ist eine gewisse Dunkelheit eigen, d.h. eine lyrische Sprache, die sich einem raschen Verständnis entzieht.

Entstanden im 18. Jahrhundert als physikalischer Begriff, entwickelte sich „Intensität“ rasch zum Beschreibungsmodell für gleitend sich verändernde Phänomene (Kleinschmidt 2004[i]). Die ‚Entdeckung‘ der Intensität verdankt sich dem kritischen Geist der Aufklärung, der die Notwendigkeit erkannte, eine Beschreibungsgröße jenseits der Kategorien von Entweder-Oder zu finden.
Im Besonderen sind es Emotionen und seelische Zustände, die sich in einem steten Prozess der Wandlung befinden.

Für Gilles Deleuze etwa impliziert Intensität ein unerschöpfliches virtuelles Potential, das vielfältige Transformationen ermöglicht. Gemeinsam mit Félix Guattari entwickelte er aus der Analyse von Kafkas Sprache das Konzept des ‚Intensiv-Werdens der Sprache‘. In ihrer gemeinsamen Schrift Kafka. Für eine kleine Literatur (1975) fragen sich Deleuze und Guattari, wie reine sprachliche Intensität (noch vor ihrer Entfaltung in der Extension) erfahrbar wird. Ihre Antwort darauf lautet: Indem sich die Sprache ‚deterritorialisiere‘, könne sie Fluchtlinien aufzeigen, die aus der Repräsentation, den fixierten Bedeutungen und den vorgefertigten Meinungen hinausführen. Ein deterritorialisierender Gebrauch von Sprache bricht deren signifikante und metaphorische Schichten auf und legt die darunterliegende reine Intensität frei, nämlich unerwartete Möglichkeiten von Sinn-Anschlüssen.

Aktuelle neuropsychologische Forschungen zur ‚Hochsensibilität‘ bzw. ‚Wahrnehmungssensibilität‘ (Sensory Processing Sensitivity), wie sie von Elaine N. Aron und Arthur Aron initiiert wurden (Aron und Aron 1997), zeigen, dass eine allgemeine existenzielle Intensität an eine hohe Wahrnehmungssensibilität gekoppelt ist. Erkenntnisse aus der Neuropsychologie bieten sich an, um die Intensität und Ambivalenz ‚dunkler‘ Sprachbilder aus einer neuen Perspektive zu lesen. Das von Carl Gustav Jung erstmals beschriebene und von Elaine und Arthur Aron neu erforschte Phänomen der angeborenen hohen Empfindsamkeit bezeichnet eine vermutlich genetisch bedingte, neurophysiologische Veranlagung, der zufolge sog. ‚hochsensible‘ Menschen Reize intensiver und nachhaltiger aufnehmen und verarbeiten als ‚normal sensible‘. Neuropsychologische Studien an ‚hochsensiblen Personen‘ (HSP) zeigen deren erhöhte Hirnaktivität in jenen Bereichen, die die Aufmerksamkeit und Handlungsplanung steuern, sprich im anterioren cingulären Kortex und in der prämotorischen Rinde. Auch bestehe ein Zusammenhang zwischen einer hohen Wahrnehmungssensibilität und einer deutlich erhöhten Hirntätigkeit in jenen Hirnbereichen, die bei einer ‘höherwertigen’ Verarbeitung visueller und akustischer Inputs beteiligt sind, sprich im rechten Claustrum, im linken Okzipitotemporalbereich, im medialen und posterioren Parietallappen sowie im rechten Kleinhirn, wenn geringe Veränderungen der Inputs wahrgenommen werden. Intensive Sprachbilder bündeln wie Sammellinsen Inputs verschiedenster Provenienz: subtile äußere optische und akustische Reize ebenso wie Reflexe einer komplexen inneren Realität. Sie spiegeln die hohe Wahrnehmungsbegabung der lyrischen Sprecherinstanz wider, welche nicht nur die physische Präsenz der Dinge sieht, sondern auch deren ‘unsichtbare’ Dimensionen. Das lyrische Subjekt nimmt an den Dingen deren ‘Gestimmtheit’ wahr, gewissermaßen ihre ‘Aura’, ihre ‘transzendentale Farbe’, und erkennt sie als deren wesentliches Merkmal.

Hölderlins modulierendes Sprechen entspricht seinem intensitätsbasierten, integrierenden Denken. Die poetische Vollendung besteht für Hölderlin einerseits in der konstanten Modulation synchroner ‚Töne‘ (Grundhaltungen), andererseits in deren Engführung zu einem neuen, ‚höheren‘ Ganzen. Hölderlin verband das genieästhetische Programm der gesteigerten Empfindungen mit der von ihm bereitwillig aufgegriffenen Denkfigur der Intensität. Während ‚Innigkeit‘ die Tiefe der Empfindungen meint (s. Grimm: Innigkeit) und damit eine seelische Bewegung, die grundsätzlich in eine einzige Richtung geht, nämlich ins Innerste des Herzens, bezeichnet ‚Intensität‘ die grundsätzliche Variabilität der seelischen Phänomene. Im Sinne des intensitätsbasierten Denkens können Empfindungen zwar nahezu unendlich gesteigert werden, doch ist die Steigerung nicht geradlinig, sondern graduell auf- und absteigend. In seinem um 1800 entstandenen Theorieprogramm „Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes“ macht Hölderlin die Denkfigur der Intensität für seine ‚Poetik des Wechsels der Töne‘ fruchtbar (GSA, Bd. 4,1, 241–265). Sehr vereinfacht gesagt, kreist seine Poetik um Trennung und Vereinigung und um den graduellen Aufbau von Spannungen zwischen Gegensätzen. Durch den Fokus auf Gegensätzlichem entsteht eine Bewegung der unendlichen Annäherung an eine Mitte, die semantisch unbesetzt und damit weit offenbleibt. Aus der Spannung zwischen metonymischem Sprechen und unbesetzter, weil mit Sprache nicht zu fassender Mitte erwächst poetische Intensität.
Seine poetische Verfahrensweise besteht denn auch darin, dass kein Gedanke – einmal formuliert – später ausgelöscht oder getilgt wird, sondern dass lediglich der Fokus der Aufmerksamkeit verschoben wird. Was bei Hölderlin einmal in die poetische Existenz getreten ist, bleibt in der Welt seines Textes immer bestehen. So wie der Text fortschreitet, tritt es lediglich in den Hintergrund, während andere Gedanken und Bilder in den Vordergrund rücken. Durch das Auftauchen und scheinbare Versinken poetischer Bilder entsteht eine Bewegung im Text, die ihrerseits Spannung erzeugt.

Im Lichte neuropsychologischer Erkenntnisse zum Phänomen der Wahrnehmungsbegabung bzw. Wahrnehmungssensibilität werden Gedichte von Georg Trakl als Ausdruck der multiplen (sensorischen, imaginativen, intellektuellen und emotionellen) Hochbegabung des Autors verständlicher. Die Texte spiegeln die aufs äußerste gesteigerte Wahrnehmungsintensität des Dichters wider, welche ihm (mehr als anderen) die Schönheit der Welt, aber auch das omnipräsente Grauen vor Augen führte. In einer Art poetischem Multiplexverfahren werden hochdifferenzierte, scheinbar widersprüchliche äußere und innere Wahrnehmungen zusammengeführt.

In seinem Textkonvolut Von der Dunkelheit des Dichterischen (entstanden 1959) baut Paul Celan auf über 50 Seiten die Dunkelheits-Thematik kontinuierlich aus, indem er sie wiederholend variiert. Der wohl zentrale Gedanken besagt, dass es im Gedicht „eine kongenitale, konstitutive Dunkelheit“ (H-K A, Bd. 16, S. 40) gebe. Zentrale poetologische Begriffe aus dieser Schrift und Celans Gedichte werden mit Konzepten bei Deleuze enggeführt. Ausgegangen wird hierbei von einem zeitdurchgreifenden, gemeinsamen „Neigungswinkel“ (Celan). Celanʾsche Konzepte wie „Dunkelheit“, „Mehrwertigkeit“, „etwas ereignet sich“ oder „radikale Individuation“ werden in Dialog gesetzt zu zentralen Deleuzeʾschen Konzepten wie „Werden“, „Intensität“, „Heterogenität“, „Ereignis“ und „Virtualität“.  Für Celan entsteht das Gedicht als „ein Sichrealisieren der Sprache durch radikale Individuation, d.h. einmaliges, unwiederholbares Sprechen eines Einzelnen.“ Das Gedicht sei nicht aktuell, sondern aktualisierbar. Das Gedicht sei als Figur der Sprache eingeschrieben, aber die Sprache bleibe unsichtbar. Das sich Aktualisierende ‒ die Sprache ‒ trete, kaum ist das geschehen, in den Bereich des Möglichen zurück. Hier berühren sich Celan und Deleuze/Guattari: Wo die Wörter aufgebrochen werden und damit asignifikant (dunkel) und intensiv werden, kommt es zu einmaligen poetischen Werdensprozessen. Die Sprache dient dann nicht der Identifikation (von Ausdruck und Inhalt), sondern wird zum Medium größtmöglicher Intensitätsdifferenzen.

Celans Konzept der kongenitalen Dunkelheit wird bei Mayröcker zu einem ‚kongenitalen Außer-Sich-Sein‘. Deleuze’ Gedanken zur Kunst wiederum lesen sich streckenweise wie exakte Beschreibungen der lyrischen Phänomene bei Mayröcker. Besonders erhellend sind drei philosophische Konzepte, die Deleuze teils alleine, teils gemeinsam mit seinem Freund, dem Psychoanalytiker und Psychiater Félix Guattari, entwickelt hat: zum einen das Konzept der Intensität und damit verbunden des Intensiv-Werdens, zum anderen das des Verborgenen oder Nicht-Wahrnehmbaren und damit verbunden des Nicht-Wahrnehmbar-Werdens und schließlich das Konzept des Ritornells. Als Folien genommen, vor denen Mayröckers Gedichte gelesen werden können, machen diese drei Konzepte die Tiefendimensionen der Texte auf besondere Weise sichtbar. Die vielen Aussparungen, die Mayröckers Sprache kennzeichnen, all das Nicht-Gesagte, das Zerklüftete, die offenen Konturen sowie auch die verborgene Logik der variierenden Wiederholungen werden, vor dem Hintergrund von Deleuze’ Philosophie gelesen, wahrnehmbar in ihrer für Mayröckers Poetik zentralen Bedeutung; sie werden sichtbar und durchsichtig zugleich. D.h.: Mit Deleuze ist es möglich, das Verborgene bei Mayröcker spürbar und verständlich zu machen, ohne ihm fixe Bedeutungen zuzuschreiben. Die Neigung ihrer poetischen Sprache, nicht-wahrnehmbar und intensiv zu werden, entspricht, im Lichte seiner Philosophie gesehen, der graduellen Vereinigung mit den molekularen Erscheinungen des Lebens. Mayröckers Schreiben erfindet sich in ‚Zwischenzonen‘, wo ‚Moleküle‘ aus ihrer und anderen Welten (wie jener von Derrida) zu etwas Neuem verschmelzen, welches ‚unpersönlich‘ (d.h. nicht-ident) und singulär zugleich ist. In diesem Lichte gesehen, ergibt sich die besondere intensive ‚Diesheit‘ (Einmaligkeit) der Mayröcker’schen Sprachwelt aus der kontinuierlichen Bewegung ihrer inneren (divergierenden) Elemente sowie aus ihrem Vermögen, von anderen Welten bewegt zu werden und selbst zu bewegen. Die reelle Welt der Autorin, ihre Schreibhöhle, das Fenster, die Schwalben, der Himmel, die Erinnerungen und Emotionen, werden in der poetischen Transformation ‚durchscheinend‘, unscheinbar, unwahrnehmbar, sodass sie ununterscheidbar werden mit der imaginären Welt. Mayröckers ‚Dinge‘ verändern sich fließend, sie nehmen graduell zu und ab und haben eine Tendenz zum Verschwinden. Die für Mayröckers Poetik typischen Gedankenfragmente, ihre rational nicht aufzulösenden Assoziationsketten werden als zeitgenössische Varianten eines ‚dunklen‘ Sprechens gelesen. Celans Konzept der „kongenitalen Dunkelheit“ des Gedichts wird bei Mayröcker zu einem ‚kongenitalen Außer-Sich-Sein‘ des lyrischen Ich.

Aus der Analyse der heterogenen Gedichte kristallisieren sich u.a. folgende Aspekte zu Kriterien für die Beschreibung lyrischer Identität: besonders kühne Sprachbilder und –bewegungen, die Spannung aufbauen; Differenz erzeugende Modulationen; der ‚deterritorialisierte‘ Gebrauch von Sprache; Dunkelheit des Ausdrucks aufgrund der Gleichzeitigkeit disparater Wahrnehmungen; Aspekte des Werdens (Deleuze) wie Intensiv-Werden, Tier-Werden, Ding-Werden, Unpersönlich- und Unwahrnehmbar-Werdens; die Kategorie des Dazwischen (Metaxy), d.h. ‚Nachbarschaftszonen‘ zwischen Sprechen und Schweigen, Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Ich und dem Anderen, zwischen Leben und Tod, Tag und Nacht, zwischen Nüchternheit und Ekstase. 


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[i] Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2004.

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