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"Der Geist weht, wo er will"
(Zur spannungsreichen Beziehung zwischen Kirche(n) und TZI)

Autor:Scharer Matthias
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Die "ruach Gottes", in der christlichen Theologie "Heiliger Geist" genannt, bringt Menschen in eine lebendige und lebensfördernde, aber auch durchaus spannungsreiche Bewegung. Eine solche Bewegung ging von Ruth C. Cohns "Themenzentrierter Interaktion" aus und ist in den christlichen Kirchen bzw. in der Theologie kreativ aufgenommen worden. Gerade angesichts kreativer und neuer Bewegungen in Theologie und Kirche ergeben sich immer wieder kritische Fragen: Geht es beim Verhältnis von TZI und Kirchen um eine Art "fremde Prophetie", die das eigene System und die Menschen darin in Bewegung bringt? Ist eine "Unterscheidung der Geister" angebracht, und wo? Was sind die entscheidenden Perspektiven, unter denen TZI in den Kirchen rezipiert wird? In welche Richtung kann sich die spannungsreiche Beziehung weiter entwickeln? Wo entwickeln sich Grenzen? Kann Begegnung an diesen Grenzen geschehen?
Publiziert in:Themenzentrierte Interaktion (TZI)/Theme-centered Interaction (TCI)16 (2002), H. 1, 70 - 80
Datum:2003-09-09

Inhalt

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Jede Beziehung hat einen Anfang und jedem Anfang wohnt bekanntlich ein Zauber inne. Als Angehöriger der ‚dritten' TZI-Generation steht mir das Leuchten auf den Gesichtern der noch lebenden TZIlerInnen aus der ‚ersten' Generation vor Augen, wenn sie von den frühen Begegnungen mit ‚Ruth' und ihren ersten Erfahrungen mit TZI in den Kirchen erzählen. Waren die Begegnungen kirchlich engagierter Menschen mit Ruth C. Cohn reiner Zufall oder aus der geschichtlichen Situation heraus plausibel? Hat ein gewisser kirchlicher und gesellschaftlicher ‚Zeitgeist' den Boden für jenen ‚kairos', jenen ‚günstigen Augenblick', der Begegnung von TZI und Kirchen bereitet? Zwar kann ich es weder durch empirische Daten belegen noch mich dabei auf historisch-kritische Analysen der gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse stützen; dennoch behaupte ich - aufgrund meiner eigenen Erlebnisse und Erfahrungen dieser Zeit -, dass der gesellschaftliche und kirchliche ‚Zeitgeist' nicht ganz unbedeutend für die frühe Begegnung zwischen ‚Kirchenmenschen', Ruth Cohn und TZI war.

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Vom Zeitgeist des Anfangs

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Ruth Cohns Rückkehr nach Europa und das Bekanntwerden von TZI trafen kirchlicherseits mit den Versuchen zusammen, sich von der erstarrten neuscholastischen Theologie des Katechismuswissens und der einlinigen Evangelischen Unterweisung (2) zu lösen. In der gesellschaftlichen Öffentlichkeit war inzwischen die einstmals akademisch und politisch geführte Religionskritik, dass Religion Opium des Volkes und für das Volk (Marx/Lenin) und nichts als eine große Illusion des Menschen (Freud) sei, in volkstümlicher Form in jede Küche und an jeden Biertisch gelangt. Die Frage, wie man sich von ‚der Religion' und in besonderer Weise von den Kirchen emanzipiert, um mündig und autonom leben zu können, verankerte sich fest im ‚Volksbewusstsein'.

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Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum die sich zu etablieren beginnende therapeutische, gruppendynamische und gruppenpädagogische Szene weit gehend von den Leitbegriffen antiautoritärer und emanzipatorischer Pädagogik bzw. vom politischen Pathos der Frankfurter Schule mit deren Mythos von der Herstellbarkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaft geprägt war. Die neuen ‚Befreiungsbewegungen' faszinierten auch manche TheologInnen, SeelsorgerInnen und aufgeschlossene kirchliche MitarbeiterInnen (insbesondere in den Jugendverbänden). Vielleicht lag das Vorantreibende dieser Bewegungen darin, dem Gedanken der Freiheit der Kinder Gottes, der in den Kirchen allzu oft untergraben wurde, zum Durchbruch zu verhelfen. Nicht wenige kirchliche MitarbeiterInnen engagierten sich in den frühen Gruppenbewegungen und bildeten sich darin aus. Manche - bis heute anerkannte - Gruppentrainer waren evangelische Pastoren oder katholische Priester.

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Der gesellschaftliche Aufbruch ging auch an den Kirchen nicht spurlos vorbei. Am deutlichsten wird das in einigen (durchaus nicht allen) Texten des Zweiten Vatikanums (1962-1965). Das Echo auf die freiheitsversprechende Moderne fiel innerhalb der Kirchen zwiespältig aus: Auf der einen Seite konnte man Tendenzen der vorsichtigen Öffnung beobachten, auf der anderen Seite zeigten sich aber große Unsicherheiten darüber, wie die neue Offenheit in den Kirchen lebbar werden könnte.

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In dieser Situation war R.C. Cohn mit ihrem werteorientierten, themenzentriert-interaktionellen Ansatz für Menschen in den Kirchen dialogfähig. Sie kehrte nach ersten Kontakten ab 1968 - also drei Jahre nach Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils - 1974 dann endgültig nach Europa zurück. In diesen Jahren befanden sich die Kirchen, insbesondere ihre Verbände und Jugendbewegungen, in einer großen Aufbruchsstimmung. R. Cohns humanistische Theorie und Praxis sowie ihre jüdische Herkunft gaben suchenden ‚Kirchenmenschen' zunächst mehr Sicherheit, als sie die offenen Gruppenszenen (z.B. das Sensitivity Training) geben konnten.

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TZI anwenden

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„Ent-täuscht bin ich bis heute von der TZI in der Annahme, dass Religionsunterricht dadurch um vieles leichter ginge. Der Einsatz für eine ausgewogene Balance von Ich, Wir und Thema im Kontext der Schule und des gesellschaftlichen Globes kostete mich viel Schweiß, Angst und Energie; er hat mich aber in meinem Umgang mit Gruppen, mit einzelnen Menschen und mit der Theologie Wesentliches gelehrt". Das schreibt ein Religionslehrer eines Gymnasiums in seiner Selbsteinschätzung auf dem Weg zum TZI-Diplom.

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Die ersten Erwartungen an TZI waren und sind auch heute noch auf die Anwendung von TZI als Methode der inhaltlichen Glaubensvermittlung gerichtet. M. Kroeger schreibt im Vorwort zur „Themenzentrierten Seelsorge": „Ihr Angebot besteht in der methodischen Hilfe zum Umgang mit Themen und Stoffen in Arbeits-, Interaktions- und Lerngruppen" (3). TZI wird als ein Werkzeug gesehen, das lebendiges Glaubenlernen und existenzielle theologische Bildung in Schule, Gemeinde und Gesellschaft ermöglicht. H. Raguse rät TZI-LeiterInnen, „ihr Konzept als relativ neutrales Medium zu handhaben" (4), um es gerade dadurch für die Pluralität der Theologien offen zu halten.

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Vom Vermittler zum Lernenden

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Was sich oberflächlich als Methode, Werkzeug oder Medium der Glaubensvermittlung in Gruppen präsentiert, hat im System Kirche eine weitaus größere Sprengkraft, als das für vergleichbare Ansätze der Glaubensdidaktik zutrifft. Das zeigt auch die vom zitierten Religionslehrer angesprochene ‚erste' Enttäuschung auf seinem TZI-Weg und sein eigentlicher Lerngewinn. Die Enttäuschung mag zunächst darin liegen, dass trotz des Ernstnehmens der SchülerInnen und der Lerngruppe die ‚Sache' des Glaubens (ES) in der Gestalt theologischer Sätze und Begriffe im Globe von Schule und Kirche auch mit Hilfe von TZI nicht leicht ‚rüberzubringen' ist. Die Stärke von TZI liegt nicht in der effektiven Vermittlung des Glaubens, sondern in einem kontinuierlichen persönlichen Veränderungsprozess, in den sich die „VermittlerInnen" begeben. Über diesen Wachstumsprozess von Menschen verändert sich auch die Kommunikationsfähigkeit in kirchlichen Gruppen: Nicht die SchülerInnen, sondern der Religionslehrer selbst hat ‚Wesentliches' in seinem Umgang mit Gruppen, mit einzelnen Menschen und mit der Theologie gelernt. In der TZI-Sprache ausgedrückt, geht es um die Balance von Autonomie und Interdependenz und letztlich um die Frage, zur eigenen Chairperson in Schul- und Kirchensystemen zu finden.

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Wie autonom und interdependent sind Glaubende?

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Gemäß dem (Vor-) Urteil des Zeitgeistes haben gläubige und kirchenbezogene Menschen kaum eine Chance, zu ihrer Autonomie zu finden; zu sehr sind sie von den ‚repressiven' Kirchensystemen, ja letztlich von ihrer Gottesbeziehung vereinnahmt. Ein besonders kritischer Punkt, der Autonomie und Selbstleitung zu behindern scheint, hängt mit der Kernbotschaft des Christentums, mit der Liebe, zusammen. Es gab und gibt eine Neigung von kirchlich engagierten ChristInnen, nach dem vermeintlichen Vorbild Jesu das eigene Leben für andere ‚aufopfern' zu müssen. Als Gegenreaktion zu dieser Opferfalle besteht gerade unter - in TZI-Kursen häufiger anzutreffenden - ‚modernen' TheologInnen die Tendenz, jede Rede vom Opfer zu vermeiden, um ja nicht dem Kreislauf von Abhängigmachen und Abhängigwerden zu verfallen, und demgegenüber die Wichtigkeit von Autonomie und Selbstbestimmung zu betonen; dabei übersehen sie allerdings, dass auch die Moderne - trotz ihrer befreienden Wirkungsgeschichte - ihre eigenen Opfer (der Freiheit und Unabhängigkeit auf Kosten anderer) produziert hat und produziert. Aus der TZI-Perspektive könnte man die Opferbereiten für interdependenz-fixiert, die Opfervermeider für autonomie-fixiert halten.

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Gruppenprozesse in der Haltung und nach der Methode der TZI sind auf ein Menschenverständnis ausgerichtet, das die Autonomie nicht gegen die Interdependenz ausspielt und umgekehrt. Erst in der umfassenden Bezogenheit wird der Mensch, der, der er eigentlich ist. Mit diesem Menschenbild bleibt TZI kein theologisch neutrales Medium mehr. Wer TZI praktiziert, ergreift Partei für eine theologische Option, die das ‚Ping-Pong-Spiel' von Aufopfern und Opfer-verdrängen-Wollen durchbricht.

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Für glaubende Menschen erschließt die Hingabe Jesu an die Menschen ein ‚Für-Sein', das sich als konsequentes ‚Mit-Sein' zeigt. Jesus lebt keinen hohlen Aktivismus für die Anderen; er opfert sich nicht auf, um andere abhängig zu halten. Genau das Gegenteil ist der Fall: Jesus lebt aus seinem Verwurzeltsein im Vater eine tiefe Solidarität mit den Menschen, besonders mit denen, die am Rande gesellschaftlicher und religiöser Systeme stehen oder von diesen ausgegrenzt werden. Diese dichte Solidarität, so könnte man sagen, ist Ausdruck seiner beziehungsreichen ‚Selbstverwirklichung', seiner umfassenden Freiheit.

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Autonomie und Interdependenz sind bei Jesus in Balance. Das zeigt schon die Weisung der Bergpredigt von der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, welche die Verfasser der Evangelien als Herzensanliegen Jesu an die ChristInnen weitergeben. In der Verwirklichung dieses Herzensanliegens des Christentums geht es um eine in der Gottes- und Menschenliebe geradezu mystisch verwurzelte ‚dichte' Solidarität: Die anderen werden nicht nur als des Einsatzes Bedürftige, sondern als von Gott geschenkte ‚Andere' in ihrer Andersheit und bleibenden Fremdheit, in ihrer eigenen Freiheit und Verantwortlichkeit erkannt. Wem solches in themenzentriert-interaktionellen Prozessen aufleuchtet, der kann die Menschen in der Gemeinde, in der Schule oder an der Universität - trotz aller und mit allen ‚krummen' Zeilen - in einer inneren Freiheit loslassen, weil sie/er sie nicht einfach fallen lässt, sondern in einer universalen, von Gott geschenkten Verbundenheit der Menschen, vor allem der Armen und Ausgeschlossenen, aufgehoben weiß.

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Das ‚geschenkte' WIR

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Themenzentriert-interaktionelle Prozesse sind darauf ausgerichtet, ein kommunikations- und arbeitsfähiges WIR in einer interaktiven Gruppe zu ermöglichen. Wer TZI praktiziert, weiß, wie langwierig der Prozess sein kann, bis ‚die Gruppe laufen lernt' (5), und dass dies in der Regel nur durch Krisen hindurch erreichbar ist. Christliche Kirchen haben eine originäre Beziehung zum WIR. Diese beginnt bei der ‚idealen' Gruppe des Zwölferkreises um Jesus und setzt sich fort in den christlichen Gemeinden. Gruppen, deren Mitglieder nicht symbiotisch aufeinander fixiert bleiben, sondern - die Andersheit, ja Fremdheit der Anderen achtend - ihren Konflikt- und Beziehungsreichtum zur Entfaltung bringen, sind die Keimzellen christlicher Gemeinden; dies auch dann noch, wenn diese heute unüberschaubare Größen erreicht haben. Das Wissen um die Nähe zwischen der konflikt- und beziehungsfähigen Gruppe und der christlichen Gemeinde mag u.a. Bernhard Honsel dazu inspiriert haben, TZI in einer konkreten Gemeinde einzuführen (6).

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In den lateinamerikanischen ‚communidades', den sogenannten ‚Basisgemeinden', ist etwas vom WIR des Frühen Christentums in seiner Einheit von tiefer Solidarität (Diakonie), Zeugnis des Glaubens (Martyria) und Feier (Liturgie) in der Communio/Koinonia der Glaubenden spürbar. Von da her ist es verständlich, dass es TZIlerInnen wie Helga und Pietro Modesto u.a. immer wieder nach Lateinamerika zieht, um an und mit diesen Kirchenerfahrungen zu lernen. Die Einheit von Sehen, Urteilen, Handeln und Feiern, die man dort erleben kann, bricht eine ‚globevergessene', es sich in der ‚warmen' Gruppe einrichtende TZI-Arbeit auf. Gleichzeitig findet die ‚dichte Solidarität' nicht nur im Tun, sondern gerade im ‚geschenkten Wir' des Volkes Gottes, wie es in der Eucharistie gefeiert wird, ihren dichtesten Ausdruck. Von da her kann auch im Norden der Welt die dialektische Verschränkung von Autonomie und Interdependenz im Feiern des Glaubens, das manchmal den Höhepunkt einer TZI-Woche darstellt, eine Tiefe und gleichzeitig eine gesellschaftliche Sprengkraft erreichen, die den Schleier zu zerreißen vermag, den pseudoreligiöse Mächte über ihre Opfer legen: jene ökonomischen und medialen Mächte einer neoliberalen Kultur, die das Leben von (post-)modernen Menschen in einer Weise bestimmen und kontrollieren - und bis in den Intimbereich hinein beeinflussen -, wie es bisher kein religiöses System zustande gebracht hat.

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Gott-Rede aus menschlichem Anteilnehmen und Anteilgeben

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„Es geht ums Anteilnehmen..." betitelt R. Cohn ein Buch, in dem es ihr um „Perspektiven der Persönlichkeitsentfaltung in der Gesellschaft um die Jahrtausendwende" (7) geht. Die Frage nach anteilnehmenden und anteilgebenden Menschen wird in kirchlichen und theologischen Systemen dort besonders herausfordernd, wo es um (Kirchen-/Gemeinde-) Leitung und theologische ExpertInnenschaft geht. In den Kirchen werden im Moment Konzepte der Organisationsentwicklung und des Managements, wie sie auch in Non-profit-Organisationen praktiziert werden, auf ihre Tauglichkeit für die Seelsorge und Gemeindeleitung geprüft bzw. übernommen. So hilfreich es sein kann, das Kirchen- bzw. Gemeindesystem auch als Organisation zu begreifen, so problematisch kann das insbesondere im Hinblick auf das Leitungs-, Experten- und ‚Kunden'-Verständnis werden.

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Am deutlichsten wird das Problem dort, wo es um theologische ExpertInnenschaft und ihre Rolle in der Kirche und Gesellschaft geht: Es steht die ‚Macht des Wissens' - und das betrifft auch theologisches Wissen in einer Wissensgesellschaft - zur Debatte. Geht es beim theologischen Wissen um eine - mitunter auch strategisch eingesetzte - ‚Interpretationsmacht', die über alles Mögliche, vor allem über Sinn und Orientierung des Menschen von vornherein Bescheid weiß; oder geht es dabei um eine ‚kommunikative Macht', die sich anteilnehmend und partizipierend am Gruppen- und Gemeindegeschehen in die ‚Ohnmacht' der existenziellen Berührung und damit auch in die Verstörung, den Zweifel und das Nichtwissen wagt? Die wesentlichen Kennzeichen kommunikativer ‚Ohnmacht-Macht' sind Betroffenheit und Berührbarkeit, gepaart mit einer hohen Konfliktfähigkeit.

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Eine aus der Anteilnahme am Menschsein mit all seinen Facetten geborene Theologie ist in den Kirchen keineswegs selbstverständlich. Ihr steht eine von der anteilnehmend-partizipierenden Kommunikation mit den Menschen in Gemeinde, Schule und Bildungsarbeit abgekoppelte, am ‚grünen Tisch' deduzierte und von oben herab vermittelte Theologie gegenüber. Ihre Thesen und Themen können noch so richtig sein und didaktisch lebendig vermittelt werden, sie verändern die kirchliche und gesellschaftliche Praxis nicht. Nur anteilgebende und anteilnehmende, d. h. jede Über- und Unterordnung von ExpertInnen und PraktikerInnen ausschließende Kommunikationsvorgänge werden auf Dauer Praxis verändern. Es sind das Kommunikationsprozesse, in denen die Kompetenz aller gefragt ist, in die nicht lebensfremdes ExpertInnenwissen von außen eingespeist, sondern kooperativ um theologisch verantwortbare Praxis gerungen wird. Dass ein solcher Anspruch zur Herausforderung des theologischen Lehr- und Bildungsbetriebes wird, liegt auf der Hand.

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Für einen der glaubwürdigsten Zeugen eines anteilnehmend-partizipierenden Theologen halte ich den Begründer der Befreiungstheologie G. Gutierrez. Wie ich mich in einer communidad der Armen am Stadtrand von Chiclayo, tausend Kilometer nördlich von Lima, persönlich überzeugen konnte, kennt den weltberühmten Theologen beinahe jeder Jugendliche aus persönlicher Begegnung. Anlässlich eines großen Kongresses der internationalen Zeitschrift Communio, zu dem G. Gutierrez erwartet wurde, überraschte er mit der Nachricht, dass er wegen des Marsches der Frauen auf Lima, mit denen er sich infolge des Kerosinmangels solidarisieren wolle, nicht nach Europa kommen könne. Eine aus der Anteilnahme an Gruppen- und Gemeindeprozessen entwickelte Theologie ist ohne Optionen nicht möglich. Sie findet sich innerhalb und außerhalb der kirchlichen Arbeit mit TZI und speziell in der Befreiungstheologie, welche im Hinblick auf das Anteilnehmen und die partizipierende Leitung modellhaft ist.

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Ein besonders wichtiges Vermächtnis

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Auf dem Hintergrund dieser wechselseitigen Herausforderung von Kirchen, TZI und Theologie erscheint R. Cohns ‚besonders wichtiges Vermächtnis' in einem speziellen Licht:

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Ich habe versucht, die jüdisch-christliche Botschaft von Versöhnung und Liebe als humanistische Wertvorstellung in meiner Weise für unser Jahrhundert auszudrücken, und wünsche mir, dass TZI und anderes, was weiterführt, sie ins 21. Jahrhundert hineintragen wird. (8)

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Nicht zuletzt das Bewusstsein von einer inneren Verbindung zwischen TZI und der jüdisch-christlichen Botschaft mag verständlich machen, warum für R. Cohn die untrennbare „Zusammengehörigkeit von humaner und geistiger Wertbezogenheit und ihrem spezifischen methodischen Ansatz" so entscheidend ist; darin wird deutlich, warum sie jedem Versuch entgegen tritt, TZI auf eine Technologie zur Leitung von Gruppenprozessen zu reduzieren. Die TZI-Axiome als „unableitbare Voraussetzungen" des TZI-Ansatzes stellen für R. Cohn so etwas wie „Glaubenselemente"(9) dar.

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Unterscheidung der Geister: Wertesinn und/oder christliches Gewissen?

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Gerade weil für R. Cohn die axiomatischen Grundlagen von TZI so bedeutsam sind, bedarf es - neben der Suche nach Kongruenzen - auch einer ‚Unterscheidung der Geister': Vertragen sich R. Cohns Axiome mit einem christlichen Gottes- und Menschenbild auf allen Ebenen? Das ist für die kirchliche Arbeit mit TZI keine theoretische Randfrage; an ihr entscheidet sich, ob die TZI-Haltung mit einem Leben aus dem Evangelium gleichgesetzt werden kann (wozu manche neigen), oder ob auch die Differenz thematisiert werden muss. Zu dieser Frage ist noch theologische Forschungsarbeit zu leisten. Ich kann im Rahmen dieses Beitrages nur ein Beispiel behandeln, an dem man Übereinstimmungen und Unterschiede von TZI und Christentum gut zeigen kann. Es betrifft R. Cohns These von einem ‚organismischen Wertesinn' einerseits und die Auffassung vom christlichen Gewissen (10) andererseits.

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Zur Erinnerung: Im so genannten „ethischen" Axiom trifft R. Cohn eine Entscheidung für den Sinn und Wert menschlichen Lebens und Handelns. Sie formuliert:

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Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidung. Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertbedrohend. (11)

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Das Humane kann man am liebenden, erkennenden und danach handelnden Verhalten, das Inhumane am absondernd ‚Sündigen' und Achtlosen erkennen. Es erhebt sich die Frage, woher für R. Cohn die Unterscheidung vom ‚Sündigen' und vom ‚Guten' kommt. Sie schreibt:

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Ich glaube nicht, dass Auserwählten ein absolutes Gut und Böse offenbart wird. Doch ich glaube, dass uns ein „unabdingbares" Gut und Böse führt, dessen Richtung nicht statisch und unbeweglich gebunden, sondern inneren und äußeren Gegebenheiten zugeordnet ist. Tat und Täter können nur in ihren Gesamtzusammenhängen ethisch verstanden werden. Ethische Werte sind unabdingbar, und sie sind prozessabhängig. Wer sich als perspektivisch, also begrenzt erkenntnisfähigen Menschen ansieht, weiß, dass Gut und Böse von verschiedenen Perspektiven her verschieden aussehen. Ich kann nur meine Wahrheit sagen und nicht deine. Doch ich glaube, dass es gar keine verschiedenen Aspekte des Ethos geben könnte, wenn sie sich nicht auf die Realität eines unabdingbaren Zentrums beziehen würden. … Ich glaube, dass alle Interpretationen von Gut und Böse sich auf ein interpretiertes, unabdingbares Zentrum beziehen; obwohl die Interpretationen selbst irreführend sein können. (12)

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Worin besteht das ‚unabdingbare Zentrum', auf das sich alle Menschen beziehen? R. Cohn vertritt die Hypothese von einem „angeborenen", „organismischen Wertesinn", den zu entfalten eine Überlebensfrage der Menschheit sei und der dem Menschen als autonom-interdependentem Wesen entspreche. Nur wenn der angeborene Wertesinn gerettet, ausgebaut und zur Entfaltung gebracht wird, kann die zunehmende Rationalisierung und Zerstückelung der Welt aufgehalten und die atomare Zerstörung abgewendet werden.

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Ich halte es für möglich, dass eine Werte-Sinn-Entwicklung nicht nur mit evolutionärer Langsamkeit, sondern mit einem transformativen Quantensprung geschehen kann. Wenn die jüdisch-christliche und die humanistische Ethik Werte der Güte und Menschlichkeit lehren und dennoch durch Jahrtausende lächelnde Pessimisten bedauern, die menschliche Natur, die das Recht des Stärkeren vertritt, lasse sich nicht ändern, dann möchte ich dagegenstellen: Die Tatsache, dass etwas bis heute so gewesen ist, bedeutet nicht, dass es immer so bleiben muss. … Tiere mögen Ahnen unserer ethischen Potenz sein; sie mögen Ethik „ahnen". … Doch zwischen ihnen und uns besteht ein qualitativer Unterschied, der uns Freiheit und Verantwortung, Musik und Ethos anbietet und uns der Aufgabe überlässt, Gemeinschaft zu bilden oder uns zu zerstören.(13)

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Die Frage nach dem Wertesinn verbinden ChristInnen mit ihrer Anschauung vom Gewissen:

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Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat(14).

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Zwischen R. Cohns „organismischen" Werte-Sinn-Verständnis und der christlichen Auffassung vom Gewissen gibt es Übereinstimmungen und Unterschiede. Der gravierendste Unterschied scheint mir in der ausdrücklichen Gottbezogenheit der christlichen Gewissensauffassung zu liegen. Im Gewissen als der verborgensten Mitte und dem Heiligtum des Menschen ‚spricht' Gott zu jedem Menschen, ob dieser sich dessen bewusst ist oder nicht. Von den alttestamentlichen Berufungserzählungen bis zur Umkehraufforderung Jesu angesichts des anbrechenden Gottesreiches (vgl. Mk 1, 15) zieht sich eine eindrucksvolle Gewissenstradition, welche die Konflikthaftigkeit, in die das Leben von Menschen angesichts der ‚Anrede' durch Gott kommen kann, eindrucksvoll zum Ausdruck bringen.

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Gleichzeitig verbindet die „Treue zum Gewissen" die ChristInnen mit den übrigen Menschen „im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen" (15). Die in der Theologie des Zweiten Vatikanums eröffnete Verbindung zwischen allen Menschen durch die Autorität des Gewissens schafft eine Kongruenz zu R. Cohns Anschauung vom Wertesinn. Für ChristInnen bleibt es herausfordernd, mit welcher Redlichkeit so genannte „HumanistInnen" ethisch handeln. Nicht zuletzt R. Cohn persönlich kann als Leitbild für eine lebenslange, authentische Suche nach den wahren Werten des Menschseins und einem damit verbundenen tiefen Engagement für den Menschen und die Welt gelten.

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Themenzentriert-interaktionelle Prozesse als Theologie

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Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt: Die Arbeit mit TZI in den Kirchen schwankt zwischen einer Anwendung als Glaubensdidaktik und einer tieferen theologischen Durchdringung des TZI-Ansatzes. Eine Anwendung von TZI als Didaktik zur lebendigen Erschließung theologischer Inhalte greift deshalb zu kurz, weil die wesentlichen Perspektiven der Theologie nicht nur das „ES" betreffen, sondern das ganze themenzentriert-interaktionelle System, einschließlich der zu Grunde liegenden Haltungen und Werte. In der ‚Kommunikativen Theologie', wie ich sie mit anderen entwickle, wird in Theorie und Praxis eine ‚ungetrennt-unvermischte' Verbindung von Theologie und TZI praktiziert und reflektiert. Eine entscheidende Perspektive ist das theologische Verständnis des gesamten TZI-Prozesses, also des Zusammenspiels von ICH, WIR, ES und GLOBE in der kirchlichen Arbeit und darüber hinaus. Ich habe darüber in einem Beitrag im Heft 1/2001 (16) ausführlich berichtet. Das folgende Schema fasst die Eckdaten dieses theologischen TZI Verständnisses zusammen.

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Power-Point Schema hier einfügen.

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Anmerkungen:  

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 1. Erst in diesem Jahr wurde die Fachgruppe TZI und Theologie innerhalb von WILL endgültig aus der Taufe gehoben. Dieses Ereignis kann als äußerer Indikator einer jahrzehntelangen Geschichte zwischen TZI und Theologie bzw. zwischen TZI und den christlichen Kirchen angesehen werden. Die Fachgruppe TZI und Theologie ist ökumenisch ausgerichtet. Seit vielen Jahren besteht im evangelischen Raum eine Arbeitsgruppe zu TZI und Kirche.

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2. Ich bin mir bewusst, dass ich aus der Perspektive eines katholischen Theologen schreibe und im Hinblick auf die reformatorische Position leider sehr unpräzise bleibe.

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3. Kroeger, Matthias, Themenzentrierte Seelsorge. Über die Kombination Klientenzentrierter und Themenzentrierter Arbeit nach Carl R. Rogers und Ruth C. Cohn in Theologie und schulischer Gruppenarbeit, Stuttgart 41989, 7. Entgegen der Schreibweise in den Originaltexten wird auch in den Zitaten die neue Rechtschreibung verwendet.

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4. Raguse, Hartmut, Theologische Implikationen der TZI, in: Ludwig, Karl Josef (Hrsg.), Im Ursprung ist Beziehung. Theologisches Lernen als themenzentrierte Interaktion, Mainz 1997, 29-53, hier: 30.

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5. Vgl. Langmaack, Barbara / Braune-Kickau, Michael, Wie die Gruppe laufen lernt, München 31989.

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6. Honsel, Bernhard, Der rote Punkt. Eine Gemeinde unterwegs, Düsseldorf 1983.

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7. Cohn, Ruth C., Es geht ums Anteilnehmen. Perspektiven der Persönlichkeitsentfaltung in der Gesellschaft der Jahrtausendwende, Freiburg i. Br. 21993.

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8. Hermann, Helga, Ruth C. Cohn – Ein Porträt, in: Löhmer, Cornelia / Standhart, Rüdiger (Hrsg.), TZI. Pädagogisch-therapeutische Gruppenarbeit nach Ruth C. Cohn, Stuttgart 21993, 19-36, hier: 33.

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9. Cohn, Ruth C., Zur Grundlage des themenzentrierten interaktionellen Systems: Axiome, Postulate, Hilfsregeln, in: Gruppendynamik 3 (1974) 150-159, hier: 150.

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10. Ausführlicher in: Scharer, Matthias / Bernd Jochen Hilberath, Kommunikative Theologie. Eine Grundlegung, Mainz 2002.

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11. Cohn, Ruth C. / Farau, Alfred, Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven, Stuttgart 1984, 3. Aufl. in der Reihe „Konzepte der Humanwissenschaften", Stuttgart 2001, 357.

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12. Cohn / Farau, Gelebte Geschichte, 467.

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13. Cohn / Farau, Gelebte Geschichte, 469f.

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14. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes" (GS), 16.

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15. GS 16.

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16. Scharer, Matthias, Die Rolle der TZI in einer „Kommunikativen Theologie". Konzept und Modell, in: Themenzentrierte Interaktion 15 (2001), 33 – 41.

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