Kapitel 18 | |
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A.
Recht und Gerechtigkeit |
C.
Weltbild, Menschenbild und Menschenwürde – Zur
Rolle der Medizin in modernen Gesellschaften |
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B.
Rechtswissenschaft
als Sozialwissenschaft? |
Der folgende Einführungstext (Pkt B. I.)
wurde vor 30 Jahren geschrieben. Anlass war damals die Vorlage eines Entwurfs
für ein neues juristisches Studiengesetz. Meine Hoffnung bestand
damals darin, dass es gelingen könnte, das disziplinäre Verhältnis
der Rechtswissenschaft (ReWi) zu den Sozialwissenschaften
(SoWi) zu verbessern. Heute sehen wir sehr deutlich, dass sich diese
Hoffnung nicht erfüllt hat. Daher besitzt dieser Text weiterhin
seine Berechtigung. Die Innsbrucker Studentenzeitung „Neue Freie
UNIPress” lud damals zu einer Stellungnahme ein und sicherte deren
Veröffentlichung zu. – Der hier abgedruckte Artikel erschien in
der Nr. 2, Nov./Dez. 1973. – Hinzugefügt wurden nur wenige Bemerkungen. | |
I. Selbstzufriedene
Rechtswissenschaft? | |
Die traditionell eher satte disziplinäre
Selbstzufriedenheit der Rechtswissenschaft (ReWi) erreicht hinsichtlich
ihres Verhältnisses zu den Nachbarwissenschaften – vornehmlich den
Sozialwissenschaften (SoWi) – immer noch ein beachtliches Ausmaß,
scheint aber allmählich einer gewissen Unsicherheit über den tatsächlichen
Stellenwert des „eigenen Fachs” zu weichen. Dieser – für Österreich
eher schmeichelhafte – Befund spiegelt vor allem die Situation in
der BRD wieder und wird ua durch ein rapides Ansteigen kritischer
Publikationen indiziert. Österreich wird (vielleicht) mit einem
gewissen time-lag folgen. Noch aber lebt ein beachtlicher Teil von
Österreichs Juristen im Land der Phäaken. Dabei hätte man sich spätestens
im Rahmen der Begutachtung des Entwurfs eines Bundesgesetzes über
das Studium der Rechtswissenschaft mit derart grundlegenden Fragen eingehend
beschäftigen müssen, geht es doch um Weichenstellungen für Jahrzehnte! | ReWi und
Nachbardisziplinen |
1. Worin liegt
das Problem? | |
Vielleicht
helfen uns schon einige Titel unlängst erschienener Publikationen
weiter: „Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz” (Lautmann, 1971),
„Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft” (Rottleuthner, 1973),
„Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik” (Rottleuthner, 1973),
„Rechtssoziologie und Rechtspraxis” (Nauke/Trappe, 1970), „Theorie
der Interdependenz. Ein Beitrag zur Reform der Theorie der Rechtsgewinnung
durch Öffnung der Rechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften”
(Wittkämper), „Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften” (Grimm,
Hg, 1973), „Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften”
(Naucke, 1972). | Wegweisende Publikationen |
Es
geht also um das Verhältnis der ReWi zu ihren Nachbarwissenschaften,
pauschal den SoWi, das sich künftig ändern muss. Darüber hinaus
geht es um die Gewinnung eines neuen, realistischen Selbst(wert)verständnisses
der ReWi. Getragen wird diese Entwicklung von der Erkenntnis, dass die
ReWi die ihr aufgegebenen gesellschaftlichen Probleme allein nicht
(mehr) zu bewältigen vermag. – Um dies zu verschleiern wurde in
der Jurisprudenz bereits viel Scharfsinn aufgewandt. – Aus der Distanz
von drei Jahrzehnten betrachtet, zeigt sich, dass dieser Entwicklungsschritt
versäumt wurde, ja dass die ReWi drauf und dran ist, sich vollständig
der Wirtschaft und ihren Zielsetzungen zu unterwerfen, was einer
Selbstaufgabe gleichkommt. – Die disziplinäre Autonomie der ReWi
ist schwer gefährdet! | Neues Selbstverständnis der ReWi? |
Die ReWi verhielt sich in
der Vergangenheit den SoWi gegenüber – ohne erkennbaren
Grund – immer wieder hochmütig. Transferiert man
das gegebene Verhältnis von ReWi und SoWi metaphorisch auf eine
familiäre Ebene, könnte man sagen: Die ReWi versuchte, den in ihrem
Randgebiet angesiedelten sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine
autoritäre Vaterfigur – freilich ohne echte Autorität – vorzuspielen.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten der SoWi – was aber vornehmlich
sachlich, also gegenstandsmäßig bedingt war (vgl G.C. Homans, Was
ist Sozialwissenschaft?, 19722; vgl
auch: P. Lazarsfeld, Am Puls der Gesellschaft. Zur Methodik der
empirischen Soziologie [1968] und derselbe, Soziologie. Hauptströmungen
der sozialwissenschaftlichen Forschung [1970]; N. Luhmann, Legitimation
durch Verfahren [1969]) – haben sich die „Kinder” emanzipiert und
versuchen nun einerseits ihre wissenschaftliche Ebenbürtigkeit und
Brauchbarkeit zu dokumentieren; andererseits sind sie bestrebt,
die für sie lange Zeit traumatische”Vaterfigur ReWi”
mit den ihnen eigenen, im Hinblick auf wissenschaftliche Exaktheit
überlegenen Instrumentarien auf Schwachstellen hin abzuklopfen.
Die Hohltöne sind dabei nicht zu überhören, was wiederum viele Juristen
nicht wahrnehmen wollen oder zumindest schmerzlich berührt. – Wissenschaftliche
Freude an disziplinärer Selbsterkenntnis war ja nie der Juristen
starke Seite. | Traumatische
„Vaterfigur ReWi”? |
Vgl dagegen: Th. W. Adorno / H. Albert /
R. Dahrendorf / J. Habermas / H. Pilot / K. R. Popper, Der Positivismusstreit
in der deutschen Soziologie (1969). | |
Ich will versuchen, das bisher Gesagte
anhand eines weiteren Beispiels zu verdeutlichen: Noch vor nicht
allzu langer Zeit zweifelten nur wenige daran, dass der Richter
das Recht wirklich objektiv, ohne Vorverständnis”findet”,
eine wertfreie Entscheidung fällt. Es ist unbestreitbar das Verdienst der
Verfahrens- und Richtersoziologie, dass heute nur mehr wenige daran
glauben; vgl R. Wassermann, Der politische Richter (1972) sowie
Th. Rasehorn, Recht und Klassen (1974). Nicht zuletzt deswegen kam
es auch im Bereich juristischer Dogmatik zu einer Reflexion
über Wert und Unwert traditioneller juristischer Methodologie.
Als Beispiel hierfür ist J. Essers Buch „Vorverständnis und Methodenwahl
in der Rechtsfindung” (1970; 19722)
zu nennen. | „Vorverständnis
und Methodenwahl” |
Vorangegangen waren diesem Buch andere bedeutende
Publikationen J. Essers: – Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen
(1940); – Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des
Privatrechts (1956, 19904); – Wertung,
Konstruktion und Argument im Zivilurteil (1965) uam. | |
Auslösendes Moment dafür, dass derartige Bücher überhaupt
geschrieben werden konnten, war der – das juristische Selbstverständnis
immer mehr unterminierende – zunehmende wissenschaftliche Druck
seitens sozialwissenschaftlicher und philosophischer Disziplinen,
vornehmlich aber der Soziologie, auf die Vertreter der ReWi. | |
Vgl etwa: J. Habermas, Theorie und Praxis
(1971); derselbe, Zur Logik der Sozialwissenschaften (1967); derselbe, Erkenntnis
und Interesse (1971). – Etwas später erschien P. Feyerabend, Wider
den Methodenzwang (1976). – Vgl idF auch: J. Habermas, Faktizität
und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats
(1992) und derselbe, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem
Weg zu einer liberalen Eugenik? (2001). | |
 | Abbildung .1: Bedeutung der RTF und
RS für die ReWi (1) + (2) |
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Das gegenwärtige Neben- und meist Gegeneinander
von ReWi und SoWi ist wissenschaftlich unerfreulich. Was
es zunächst herzustellen gilt, ist echte Diskussionsbereitschaft.
Das bedeutet keineswegs eine Pflicht zu unkritischer und unreflektierter
Rezeption. Man sollte aber nicht – wie etwa Naucke (ein Jurist)
es tut – den SoWi vorwerfen, sie hätten der ReWi noch viel zu wenige konkrete
und konstruktive Lösungen zu bieten. Ich verweise hier nur auf die
seit Jahrzehnten vorliegenden Ergebnisse der Rechtstatsachenforschung
(RTF), deren Begründer, Eugen Ehrlich, ein Österreicher war. Er
gilt übrigens – gemeinsam mit Max Weber – auch als Begründer der
modernen Rechtssoziologie (RS). – Vgl dazu →
Rechtstatsachenforschung
| Gegeneinander von
ReWi und SoWi? |
Aus heutiger Sicht muss ich feststellen:
Obwohl Österreich mit Eugen Ehrlich den Begründer der modernen RS
und RTF hervorgebracht hat, ist es auch in den vergangenen 30 Jahren
nicht gelungen, das wissenschaftsdisziplinäre Verhältnis von ReWi
und SoWi zu verbessern. Wir haben bislang nicht einmal das Niveau
erreicht, das für Aristoteles und Theophrast (als Begründern dieser
Disziplinen und vor allem auch der europäischen ReWi in der Antike) selbstverständlich
war. – Wer an Zufälle glaubt, ist selber schuld. | |
Mancher
Vorwurf ist nämlich einerseits nur bedingt richtig und wohl zudem
– ja vornehmlich – auf die bisher mangelnde juristische Kooperationsbereitschaft zurückzuführen.
Der aufgeschlossene Jurist weiß aber mitunter doch besser, wo der
Schuh drückt, weshalb ein Zusammenwirken unverzichtbar ist. | Mangelnde juristische Kooperationsbereitschaft |
Ich habe das Problem für mich so gelöst,
dass ich bspw in meiner Habilitationsschrift: Kausalität
im Sozialrecht (Berlin, 1983 – 2 Bde) auch die SoWi eingehend
berücksichtigt und dafür eine Lehrbefugnis/Venia für „Bürgerliches Recht
samt dessen Bezügen zum Sozialrecht sowie Rechtstatsachenforschung”
erworben habe. – Ich vergebe seither Diplomarbeiten und Dissertationen
aus dem Bereich RTF. Die Habilitationsschrift selbst arbeitete ua
zahlreiche höchstrichterliche Entscheidungen auf und untersuchte
diese auch inhaltsanalytisch; vgl J. Ritsert, Inhaltsanalyse und
Ideologiekritik. Ein Versuch über kritische Sozialforschung (1972). | |
2. Wünschenswerte
Konvergenz | |
Eines ist jedoch gewiss: Die notwendige und wünschenswerte Konvergenz
von ReWi und SoWi wird durch eine, dieses Ziel nicht gebührend berücksichtigende
Studienreform vereitelt, zumindest aber in unverantwortlicher Weise
verzögert. Der vorliegende Entwurf (1973!) scheint diesen Weg zu
gehen. Studierende werden wie bisher am Beginn des Studiums ihren
Blick vornehmlich in die Vergangenheit richten müssen und auch später
keinen nennenswerten Kontakt mehr mit sowi-Disziplinen bekommen.
Man fragt die Studierenden freilich nicht, ob sie das auch so wollen,
was zumindest zweifelhaft erscheint. | |
Ich halte aber die
Rechtsgeschichte für
ein wichtiges, lehrreiches und interessantes Fach, meine jedoch,
dass sie in der juristischen Ausbildung meist nicht so eingesetzt
wird, wie sie eingesetzt werden sollte. – Persönlich habe ich immer
wieder auch rechtswissenschaftliche Arbeiten mit dem Ziel verfasst,
vertiefte Einsichten durch rechtshistorische Bezüge zu erlangen:
Vgl etwa: – Barta / Palme / Ingenhaeff (Hg),
Naturrecht und Privatrechtskodifikation (1999); – Zur Geschichte
und Entwicklung des Wohnungseigentums in Österreich, in: Havel/ Fink/ Barta, Wohnungseigentum
– Anspruch und Wirklichkeit 183 ff (1999) oder demnächst: – „Graeca
non leguntur”? – Zum Ursprung des europäischen Rechtsdenkens im
antiken Griechenland (in Vorbereitung: 2005). | |
Dem
Entwurf (des Jahres 1973) – gleiches gilt etwa für den neuen Studienplan
2001 der Innsbrucker Rechtswissenschaftlichen Fakultät – ist es
jedenfalls nicht gelungen eine sinnvolle Integration von
ReWi und SoWi – wenn man diesen Gegensatz noch beibehalten
will – vorzunehmen. Dass der Entwurf dem leider noch immer weit
verbreiteten juristischen Segregationsdenken (
legal isolationism)
entgegenkommt, zeigt ua die freundliche Aufnahme, die er in juristischen
Professorenkreisen gefunden hat. So nimmt es denn auch nicht Wunder,
dass juristische Fakultäten im Begutachtungsverfahren zu den hier
angeschnittenen Problemen wenig bis nichts zu sagen haben. | Sinnvolle Integration von ReWi und SoWi |
Das gilt grundsätzlich auch für einen anderen
wichtigen fachlichen Bezug des Rechtsdenkens: Den zur Philosophie, der
in seiner Synthese zur Rechtsphilosophie führt,
die heute wie vor 30 Jahren eine wichtige Ergänzung der ReWi darstellt.
Auch sie ist bis heute ein Stiefkind rechtswissenschaftlichen
Denkens geblieben. Vgl aber das zum Nachdenken anregende
Bändchen „Rechtsphilosophie” (2001) von Theo Mayer-Maly, der an
unserer Universität lehrt. | |
Diese Haltung des Rechtsdenkens gegenüber bestimmten sowi-Fächern
(insbesondere RS und Politikwissenschaft) hat sich im Wesentlichen
bis heute nicht geändert. Die Situation hat sich
aber insofern sogar noch verschlechtert, als mittlerweile
auch Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie neben der Rechtssoziologie
immer weiter zurückgedrängt werden und zu befürchten ist, dass diese Fächer
in absehbarer Zeit ganz verschwinden werden. – Zum Wohle der Wirtschaft,
die als sowi-Disziplin kaum Verständnis für ihre Schwesterdisziplinen
aufbringt. Das Unverständnis in juristischen Professoren- und Assistentenkreisen
ist bedauerlich gross. | |
Man hat nicht
den Eindruck, als hätten sich die „Väter” des Entwurfs auch nur
marginal an der in der BRD sehr regen Curriculum-Diskussion beteiligt;
vgl neben Grauhahn/Narr (Leviathan 1973, 90 ff) auch R. Wiethölter,
Rechtswissenschaft (1968). Die Erstellung neuer Studiengänge scheint in
der Tat – um eine Formulierung von Grauhahn/Narr zu gebrauchen –
„zur Zeit der verbliebene Rest einer universitären Reformdiskussion
zu sein, die im Hinblick auf fast alle strukturellen Probleme gestrandet
ist”. | Curriculum-Diskussion |
Es dürfte schwer
von der Hand zu weisen sein, dass die ReWi durch den offenbar immer
noch schneller werdenden sozialen Wandel verstärkt auf die Hilfe
anderer Disziplinen angewiesen ist. Aber „die” ReWi will das nicht
wahrhaben. | Sozialer Wandel |
Der andere Weg, den die ReWi seit alters
her (= römisches Recht + Rechtspositivismus) gegangen ist, ist jener
des legal isolationism, also der Abspaltung des Rechtsdenkens von
der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Er ist längst (und war von
Anfang an) überholt, was aber von der ReWi kaum bemerkt wird! So
ist der Rechtspositivismus bei uns in Österreich (auch bei vermeintlich
fortschrittlich Denkenden) immer noch (zu) hoch im Kurs. – Einen
anderen Fluchtweg bietet die „reine” Theorie, die sich die Hände
nicht durch empirische Recherche oder auch nur ein Nachdenken darüber
schmutzig oder auch nur staubig machen will. | |
Dieser
Tatsache sollte auch in der Ausbildung Rechnung getragen werden.
– Das darf aber nicht damit verwechselt werden, die ReWi
an andere Disziplinen auszuliefern. Gerade das fördert
aber nunmehr – das ist ein Schwenk in die Gegenwart – der neue Innsbrucker-Studienplan
2003 für ein eigenes „Wirtschaftsrechtsstudium”
als Diplomstudium. Dieser Studienplan zollt zwar dem gegenwärtig
in Österreich so fühlbaren konservativen Zeitgeist Tribut, zählt
aber weder die Rechtsphilosophie, noch die Rechtsgeschichte oder
die Rechtstatsachenforschung oder gar die Rechtssoziologie zu seinen
Fächern. | ReWi nicht an andere Disziplinen ausliefern |
Dem Problem ist
nicht nur durch ein verstärktes Heranziehen von Sachverständigen
beizukommen. Der Jurist / die Juristin selbst
müsste über grundlegende sozialwissenschaftliche Kenntnisse verfügen
und diese bei seiner / ihrer Arbeit einsetzen. Der Einwand, die Verwertbarkeit
sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse sei noch zu gering,
um ihr echte juristische Relevanz verschaffen zu können, verkennt
ua den künftigen möglichen Stellenwert der SoWi in der ReWi, zumal
sich der Ertrag der SoWi (im Gegensatz zu dem der ReWi?) noch gar
nicht absehen lässt. – Ein verstärkter Einsatz der SoWi im Gesetzgebungsverfahren,
überhaupt dem gesamten Bereich der Rechtspolitik, dem Strafrecht
oder der öffentlichen Verwaltung, im Handels-, Arbeits- und Sozialrecht
– um nur einige Beispiele zu nennen, wäre heute notwendiger denn
je. Das Zivilrecht könnte dadurch bspw zu einem vertieften Problem-
und exakteren Methoden- und Relevanzbewusstsein erwachen, das die
SoWi – trotz mancher Spreu – auszeichnet. Und auf dem Boden der Tatsachen
zu stehen, ist doch etwas Erstrebenswertes! | Verwertbarkeit
sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse |
Während
es im dtBMdJ seit Jahrzehnten eine Abteilung
für RTF gibt, fehlt eine solche Einrichtung in Österreich.
Die Konsequenz: Statistiken und Daten zum österreichischen Rechtswesen werden
immer spärlicher und schlechter. Es fehlt an jeder ernsthaften Aufbereitung.
Die Schwarz-Blaue-Regierung hat es geschafft, die freilich schon
bisher dürftige – „
Statistik
der Rechtspflege” aufzulassen. Die sog Privatisierung zerstörte
selbst diesen schwächlichen Ansatz einer österreichischen
Justizstatistik.
Betroffen davon ist in besonderer Weise das Zivilrecht. Wir haben
nun endgültig den Stand einer rechtstatsächlichen Bananenrepublik
erreicht. – Auch das ist kein Zufall. | Abteilung für RTF im dtBMdJ |
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Das dtBMdJ gibt
auch seit Jahrzehnten eine
Buchreihe „Rechtstatsachenforschung”
heraus in der viele interessante Publikationen erschienen sind,
etwa (Auswahl): | Buchreihe „Rechtstatsachenforschung” |
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Man darf auf der anderen Seite
aber nicht verschweigen, dass die juristische Arbeit durch
den Einsatz sozialwissenschaftlicher Methoden nicht immer
bequemer würde. Gefällte Entscheidungen und dogmatische
Konzepte würden uU leichter oder überhaupt erst nachprüfbar, die Relevanz
des Lehrstoffs verifizierbar. – Das mag mit ein Grund sein, sich
gegen eine sozialwissenschaftliche „Infiltration” zu sträuben. Es
hat überhaupt den Anschein, als müsste – immer noch – das Image
mancher sowi Disziplin von beträchtlichen emotionalen und ideologischen
Vorurteilen seitens der Juristen und der Politik gereinigt werden. | Bequeme und
willfährige Juristen? |
Man mag sich auch immer noch darüber uneins sein, ob die ReWi (auch) eine
SoWi Disziplin ist oder nicht. Bei aller Bedeutung, die
terminologischen Fragen auch in diesem Zusammenhang zukommen mag,
dürfte es letztlich auf eine gegenseitige fachliche Öffnung (und
damit eine mögliche Bereicherung) ankommen, wobei die Jurisprudenz
eher der nehmende, als der gebende Teil sein wird. Die Lektüre des
immer noch beachtlichen und interessanten Werks von Eugen Ehrlich legt
dies nahe; vgl die folgenden Literaturangaben und die Ausführungen
in → Gerechtigkeit
und Gesellschaft – Die ‚Idee’ der Gerechtigkeit als ‚Rechtsidee’
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Ich halte auch
den möglichen Einwand gegen eine solche Annahme für nicht stichhaltig,
wonach ein Verständnis der ReWi als SoWi gegen das
Wertfreiheitsgebot von
Max Weber verstößt. Auch die SoWi kommen nämlich nicht ohne Wertungen
aus. Schon für die SoWi bedarf es demnach einer Korrektur dieser
Weberschen Forderung. – Für die ReWi kann das nur bedeuten, dass
der Rechtsanwender iwS nicht subjektive Werte in die vorgegebenen
normativen Wertungen einbringen darf; damit verbleibt und eröffnet
sich aber immer noch, durchaus unter Beachtung der Normtreue, ein flexibler,
dem sozialen Wandel Rechnung tragender, Interpretationsspielraum,
der keinen Verstoß gegen ein Wertfreiheitspostulat bedeutet. – Webers
Wertfreiheitspostulat kann heute nur als Aufforderung zu einem wissenschaftlich
bewusst offenen und realistischen Umgang mit Wert(urteil)en verstanden
werden! Andernfalls droht Wertfreiheit zur Weltfremdheit zu werden. | Wertfreiheitsgebot |
Schließlich sei noch kurz auf einen
Einwand eingegangen, der häufig von juristischer Seite (!) erhoben
wird. Man plädiert dafür keine Erörterungen mehr ernst zu nehmen,
die sich mit so allgemeinen Begriffen wie „die“ SoWi, „die“ Jurisprudenz,
„die“ Juristen, „das“ Recht, „die“ Dogmatik etcbegnügt
(Naucke, Struck). Ich glaube, dass dies letztlich nur als Vorwand
dient, um die beginnende Annäherung der beiden Disziplinen zu verhindern.
Mag es auch pauschalierend sein, von SoWi, der ReWi, der Dogmatik
etc schlechthin zu sprechen; die Verwendung dieser allgemeinen Begriffe
erfolgt aber gewiss nicht deshalb, weil man nicht wüsste, was damit
gemeint ist oder wo im juristischen Bereich sozialwissenschaftliche
Erkenntnisse gezielt eingesetzt werden könnten. Der Grund ist vielmehr
der, dass es zunächst – jedenfalls in Österreich – grundsätzlich
darum geht, den tiefen wissenschaftlichen Graben zwischen ReWi und
SoWi einzuebnen. Es gilt überkommene Vorurteile und generelle methodisch-disziplinäre
Barrieren abzubauen. Zudem, und auch das sei erwähnt, weiß man sehr
wohl, welche sozialwissenschaftlichen Disziplinen für eine mögliche Zusammenarbeit
mit der ReWi in Frage kämen. | Juristische
„Abwehrmechanismen” |
Vgl etwa die noch von F. Gschnitzer betreute
Diss. Von Jurij Fedynskyj, Rechtstatsachen auf dem Gebiet des Erbrechts
im Gerichtsbezirk Innsbruck 1937-1941 (1968). | |
Die Frage ist freilich nach wie vor die, ob die ReWi eine
solche Zusammenarbeit will. | |
: M. WeberEin Zitat
Max Webers mag abschließend
umreissen , was die ReWi von den SoWi zu erwarten hätte: | Zum Abschluss |
„Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden
zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen
– was er will.” – Aus: Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher
Erkenntnis (1904), abgedruckt in: M. Weber, Soziologie, Weltgeschichtliche
Analysen, Politik 186 ff/190 (1986). | |
Aber wäre es nicht schon sehr viel, wenn die ReWi wüsste,
was sie tut, kann und was sie will? | |
 | Abbildung .2: Große RS und RT-Forscher
(1) bis (5) |
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Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch unser neuer Innsbrucker-(Diplom)Studienplan
2001 die Chance einer angemessenen Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher
Fächer nicht genützt hat. (Nur mit Glück konnten 2 Stunden Rechtsphilosophie
gerettet werden, zumal immer mehr Kollegen diese für überflüssig
halten. Angeblich entspricht das dem Zeitgeist. – Allein, der Weg
in Richtung „Fachhochschule” erscheint vorprogrammiert. Das gilt
allerdings nicht nur für Innsbruck.) Weder die RS, noch die RTF,
noch anderes (zB Rechtspolitik, Legistik, Kautelarjurisprudenz)
wurden gebührend berücksichtigt. | |
II.
Rechtstatsachenforschung | |
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Der (Alt)Österreicher Eugen Ehrlich (1862-1922)
– er stammte aus Czernowitz/Bukowina und war dort Professor für
römisches Recht und blieb hier bis zu seinem Tod – gilt neben Max Weber (1864-1920) als Begründer
der modernen Rechtssoziologie/RS und der Rechtstatsachenforschung/RTF;
mag auch der Terminus Rechtstatsachenforschung nicht von ihm, sondern
von Arthur Nussbaum
(1877-1964) stammen, der jedoch nur als Epigone angesehen werden
kann. Ehrlich sprach vor allem vom „lebenden Recht” und stellte
dieses dem (oft toten oder doch viel weniger bedeutsamen) Gesetzesrecht
gegenüber. Er sprach aber – interessant für die künftige Bezeichnung der
Disziplin – bereits von „juristischen Tatsachen” („Über Lücken im
Recht”). Inhaltlich hatte Ehrlich die neue Disziplin bereits vollständig
aufbereitet, ehe andere ihm folgten. – Für Ehrlich war die RTF die
praktisch-empirische Seite der RS. | Eugen Ehrlich |
Überzeugend
die verschiedenen Publikationen von M.
Rehbinder und Th.
Raiser,
Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland 94 ff (19994).
– In der Literatur kam es dagegen zu Ausgrenzungen Ehrlichs und
wissenschaftsgeschichtlichen Verzeichnugen zugunsten Nussbaums;
vgl etwa Büllesbach, in: Kaufmann/Hassemer (Hg), Einführung in die
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart 453 ff (19946)
und insbesondere in: Chiotellis/Fikentscher (Hg), Rechtstatsachenforschung
1 und 78 ff (1985). | Wissenschaftshistorische Verzeichnungen |
Ehrlich gründete
bereits 1910 ein Seminar für „Lebendes Recht”,
das jedoch mit keinerlei finanziellen Mitteln ausgestattet wurde.
– Seine Arbeitsschwerpunkte waren neben der Rechtsgeschichte,
das geltende Privatrecht und die Grundlagen und -fragen des Rechtsdenkens
und der Rechtswissenschaft. Früh warb er in noch
heute interessanten Publikationen für seine Ideen;
vgl „Soziologie und Jurisprudenz” (1906), „Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts”
(1906), „Die Erforschung des lebenden Rechts” (1911), „Ein Institut
für lebendes Recht” (1911), „Das lebende Recht der Völker der Bukowina”
(1912) und vor allem in seiner umfassenden, 1913 erschienenen, „Grundlegung
der Soziologie des Rechts”. | Lebendes Recht |
 | Abbildung .3: Eugen Ehrlich: Porträt
(1) bis (9) |
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1. RTF – Empirischer
Teil Rechtssoziologie | |
Während die RS sich zum
Ziel setzt, die Zusammenhänge von Recht und Gesellschaft im Großen wie
im Kleinen aufzuhellen, geht es der RTF darum, einerseits aufzuzeigen
wie das geltende Recht samt seinen Methoden „lebt” – also bspw aufzuklären,
ob und wie bestimmte Normen angewandt werden oder nicht, ob sie
angenommen werden oder nicht – und andrerseits, darauf aufbauend,
die gewonnenen faktisch-normativen Einsichten für die Kautelarjurisprudenz,
die Legistik, Dogmatik und insbesondere auch die Rechtspolitik zu
verwenden. Beide Disziplinen dienen somit einem besseren Verständnis
des Rechts und seiner Wirkung indem das Recht und seine Erscheinungsformen als
Teile von Kultur und Gesellschaft verstanden werden. Dies ist keineswegs
so selbstverständlich wie es vielleicht erscheinen mag, haben doch
bspw – wenn auch in unterschiedlicher Weise – sowohl das römische
Recht, als auch der Rechtspositivismus versucht, das Recht von seinen
gesellschaflich-kulturellen Wurzeln zu trennen und es als autonome
Disziplin in splendid isolation zu etablieren; legal isolationism.
Ein solches Verständnis wird aber dem Recht und seinen vielfältigen gesellschaftlichen
Aufgaben nicht gerecht. | RS und RTF |
Ehrlich ging
es bei der Erforschung des lebenden Rechts um eine empirische
Ergänzung der RS. Wie M. Rehbinder betont, sollten die
RTF und die soziologische Jurisprudenz Ehrlichs RS vervollständigen: | RTF: Ergänzung der RS |
„Ohne sie wäre die Rechtssoziologie zu einem
Elfenbeinturm-Dasein verurteilt.” | |
Wie nach der späteren, bildhaften Unterscheidung
von Roscoe Pound, ging
es schon Ehrlich darum, nicht nur das „law in the books”,
sondern das „law
in action” zu untersuchen und zu erforschen. Ehrlich schrieb in
dem 1911 in den JBl veröffentlichten Aufsatz „Ein Institut für lebendes Recht”: | law in the books und
law in action |
„Ein Blick in das Rechtsleben zeigt, dass
es ganz überwiegend nicht vom Gesetz, sondern von der Urkunde beherrscht
wird. Das ganze nachgiebige Recht wird vom Urkundeninhalt verdrängt.
In den Ehepakten, Kauf-, Pacht, Baukredit-, Hypothekardarlehensverträgen,
in den Testamenten, Erbverträgen, Satzungen der Vereine und Handelsgesellschaften, nicht
in den Paragraphen der Gesetzbücher muß das lebende Recht gesucht
werden.” (Hervorhebung von mir) | |
Ehrlichs Konzept des „lebenden Rechts”,
das stark vom Rechtsleben der Bukowina beeinflusst ist, fand große
internationale Beachtung. Am wenigsten konnte sich jedoch der deutschsprachige Rechtsraum
mit Ehrlichs Denken anfreunden. Zu stark waren hier reine Dogmatik,
Theorielastigkeit und rechtspositivistisches Gedankengut verbreitet. | Konzept des
„lebenden Rechts” |
 | |
Die RTF fragt auch
danach: Was sind die Tatsachen auf denen das Recht aufbaut? Wie
wird Recht eingesetzt, angewandt, verstanden? Aber auch: Welche
gesellschaftlichen Fakten „setzt” das Recht? – Die Antwort ist gerade
für einen aufgeklärten juristischen Standpunkt schwieriger, als
es erscheinen mag, wie einige Stichworte und Gegensatzpaare veranschaulichen
mögen: | Fragen der RTF |
Naturrecht versus Rechtspositivismus, Sein
und Sollen sowie die daraus abgeleitete Einteilung in Seins- und Sollenswissenschaften,
das Verhältnis von Recht und Gesellschaft, legal isolationism uam.
– Schon Platon erwähnt in seinen „Nomoi”/Die Gesetze, dass ein Gesetzgeber,
der seine Sache ernst nimmt, auch gewisse natürliche Gegebenheiten
und Fakten berücksichtigen müsse: Land und Klima, Binnen- oder Seelage
eines Landes, Wind, Wetter, Geographie, aber auch die Charaktereigenschaften
der Menschen, das Verhältnis der Geschlechter, die politischen und
historischen Rahmenbedingungen (Ausformungen) von Freiheit und Gleichheit,
menschliche Altersgruppen und Zustände (Alte, Schwache, Kinder,
Jugendliche) etc. Heute kennen wir verschiedenste Schutznormen/-einrichtungen:
etwa das Arbeitsrecht, die Adoptionsregeln, KSchG und MRG, PHG oder
Sachwalterschaft, Patientenvertretung und UbG. | |
Vorgegebene Rechts-Tatsachen finden sich demnach in jeder
Rechts-Ordnung und die bunte Vielfalt darauf aufbauender rechtlicher
Lösungen ist auch auf die unterschiedlichen Tatsachen-Voraussetzungen
von Rechtsregeln zurückzuführen. Freilich auch auf die
aus historischen und anderen Gründen unterschiedlich gewachsenen
Rechtskulturen,
denen Ehrlich ebenfalls sein Augenmerk schenkte. | |
Es kann demnach kein Zweifel bestehen, dass Fakten existieren
von denen das Recht auszugehen, die es angemessen zu berücksichtigen
hat, will es seiner Aufgabe gerecht werden. – Neben den unmittelbar
auf der „menschlichen Natur” beruhenden Tatsachen existieren jene
anderen, die durch den Umgang der Menschen miteinander und mit dem
Recht entstehen: Die RTF interessiert sich auch dafür – übrigens
seit der griechischen Antike (Aristoteles, Theophrast), welche Verträge geschlossen
werden, was ihr Inhalt ist, wie die Verfassungen verschiedener Staaten
beschaffen sind, wie und welche Urteile und Bescheide gefällt, wie
Verkehrssitten, Gewohnheitsrecht, rechtlich relevante Sitten beschaffen
sind und festgestellt werden können uvam. Dazu kommt schon bei den
Griechen, die immer wieder diskutierte Frage, ob die Regeln von
Gesellschaften (Recht) sich an der Natur und ihren Gesetzen zu orientieren
haben; sog Nomos-Physis-Problem. – Es wurde daher immer wieder auch
in der Neuzeit danach gefragt, „ob das Recht nach Naturgesetzen
lebt”; vgl F. Gschnitzer, in: FGL 419 ff (1945/1993). | |
 | Abbildung .4: Zum Begriff „Rechtskultur”
(1)-(3) |
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Die
Lebensferne des Rechtsdenkens stellt/e immer wieder ein Problem
dar. – Die RTF lehrt uns daher auch, dass die Bereiche von Sein
und Sollen keinesfalls, wie das der „Reinen Rechtslehre” vorschwebte,
völlig getrennt und nicht aufeinander bezogen verstanden werden
dürfen. Das zeigt schon die einfache Beobachtung, dass rechtliches
Beurteilen zwischen der Seins- und Sollensebene hin- und herpendelt,
bspw von einer der Seinsebene angehörenden (Rechts)Verletzung ausgeht, diese
rechtlich bewertet und die darauf folgende sanktionierende Sollensanordnung
idR das Ziel verfolgt, erneut eine Änderung des Seinszustands herbeizuführen.
– (Rechts)Empirie fördert zudem das Relevanzempfinden und die Erkenntnisqualität
obendrein. Das wussten schon die Schöpfer der europäischen Rechtswissenschaft:
Platon, Aristoteles und Theophrast. | Lebensferne des Rechtsdenkens |
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Die wichtige empirische
Orientierung der RTF dient durch Daten-
und Faktenaufbereitung etwa der Bundes- und Landesgesetzgebung,
aber auch der Politik, Interessenvertretungen und natürlich
auch der Wissenschaft etc. Allgemein können besonders
Rechtspolitik und
Legistik erwähnt
werden. – Der beklagenswerte Zustand des österreichischen Justizstatistikwesens
zeigt uns, wie notwendig eine solide RTF wäre; vgl schon Pkt I.
Der RTF bedürfen aber auch das Rechtsberatungswesen, viele Interessenverbände
sowie Forschung und Wissenschaft, letztere um ihrer kritischen Rolle
gerecht werden zu können. Fehlt die Faktenbasis, die Zahlen, lassen
sich Relevanzaussagen kaum oder überhaupt nicht treffen. Argument
steht dann oft gegen Argument und auch das bessere gewinnt nicht
jene Kraft, die es faktengestützt erlangen könnte. – Der bislang geübte
weitgehende Verzicht von Rechtsdogmatik und (Rechts)Politik auf RTF ist
leider kein zufälliger. RTF vermag Praxis zu erkennen, und zwar
in positiver wie in negativer Hinsicht; wodurch Fehlentwicklungen
rechtzeitig erkannt und beseitigt werden könn(t)en. – RTF ist demnach
auch ein Mittel um Theorie und Praxis einander anzunähern. | Verzicht auf RTF? |
Eugen Ehrlich war sich seiner Pionierstellung
bewusst. In seinem Aufsatz „Soziologie des Rechts” (1913/14) führt
er aus: | Pionierstellung
Eugen Ehrlichs |
„Ich arbeite fast überall auf jungfräulichem
Boden, musste mir oft genug selbst mit der Axt den Weg durch die Dickichte
bahnen; es fehlte an Material, an Vorarbeiten, an Literaturnachweisen;
um nur eine Übersicht über den Stoff zu gewinnen, musste ich fast
alle europäischen Sprachen erlernen und weite Reisen unternehmen.
Aber der Grund dürfte gelegt sein, und wenn darauf zum Teile nur
ein Notbau ausgeführt werden konnte, es werden sich wohl recht bald
andere finden, die den Ausbau im einzelnen übernehmen werden.” | |
Wichtig war Ehrlich
auch die Rolle von RTF und RS für den
Rechtsunterricht.
So wie es Ziel seiner wissenschaftlichen Arbeit war, die Rechtswissenschaft und
die
Rechtspraxis zu
verbessern, hoffte er auch den Lehrbetrieb anregen
und interessanter, lebens- und praxisnäher gestalten zu können.
– Dazu findet sich ein schöner Beleg in seinem Aufsatz „Die Erforschung
des lebenden Rechts” aus dem Jahre 1911: | Rechtsunterricht |
„Es ist bekannt, dass an einigen großen
Universitäten Deutschlands und Österreichs die Hörsäle der juristischen, oder
wie sie in Österreich heißt, der rechts- und staatswissenschaftlichen
Fakultät die eingeschriebenen Hörer gar nicht zu fassen vermöchten.
Trotzdem hat man sie gewiss nur sehr selten überfüllt gesehen. Dem
angehenden Juristen hat eben eine gütige Fee die Fähigkeit in die
Wiege gelegt, die Vorlesungen in seiner Abwesenheit zu hören. Es
gibt kaum ein Gebiet des höheren Unterrichts, wo sich eine solche
Erscheinung annähernd in demselben Masse wiederholte. Im allgemeinen
geizt der Mediziner, der Techniker, der Philosoph nach jedem kostbaren
Tropfen des Wissens, das er sich an der Lehranstalt zu beschaffen
vermag: an der juristischen Fakultät hat der akademische Lehrer
nicht selten das Gefühl, dass ihm seine Hörer einen Gefallen zu
erweisen glauben, wenn sie in seine Vorlesung kommen. Dass der Unterricht
unter solchen Umständen, wenn man von einer kleinen auserlesenen
Schar absieht, keinen glänzenden Erfolg zeitigen kann, ist freilich
zweifellos: ohne werktätige Teilnahme des Schülers kann bekanntlich
der beste Lehrer nicht viel leisten.” – Usw. | |
3. Gesetzliches
und gesellschaftliches Recht | |
Ehrlichs
Forschungen gingen von der Einsicht aus, dass gesetzliches und gesellschaftliches
Recht nicht (immer) übereinstimmen. Das Recht nach dem die Menschen
leben ist oft ein anderes, als das des Gesetzgebers. – Das hat viele
Gründe. Unter anderem den, dass die Gesetze die gesellschaftliche
Wirklichkeit nur unvollkommen und lückenhaft erfassen, was RTF zu
bessern vermag. Dazu treten – für das Rechtsleben und seine Qualität
iSv Lebensverbundenheit – wichtige Verweisungen des Gesetzes auf
ausserrechtliche Normen; vgl § 879 ABGB oder § 242 dtBGB oder §
346 HGB uam. Aber auch klare Gesetzesbefehle bleiben mitunter totes
Recht. Man denke an die Nichtanwendung der §§ 16 ff ABGB bis etwa
1970 für den Bereich des Persönlichkeitsschutzes. Und noch heute
gibt es Juristen, die das nur zögerlich zur Kenntnis nehmen. Wie
zu Zeiten Savignys und Ungers. | |
Man denke auch an das Verständnis der §§
308, 339 oder 364a ABGB oder die Annahme eines dritten Falles der Übergabe
durch Erklärung in § 428 ABGB, der eigentlich aus dem preußischen
ALR stammt. Auch das für Laien kaum zugängliche Verständnis des
§ 429 ABGB (Versendungskauf) gehört hierher, das den Gesetzestext
ins Gegenteil verkehrt. Vgl auch die restriktive Auslegung des §
879 Abs 1 ABGB, das Verständnis der §§ 871, 872 ABGB, die Rspr-Änderung
des § 956 ABGB (Schenkung auf den Todesfall), die aus § 1319 ABGB
gewonnene Analogie auf „Gewachsenes” oder das allzu einengende Verständnis
des wechselbezüglichen Testaments durch die Judikatur. Ganz zu schweigen
davon, dass ganze Rechtsinstitute außergesetzlich entwickelt wurden
und Tag für Tag angewendet, aber vergeblich im Gesetzbuch gesucht
werden. Das gilt für den Eigentumsvorbehalt, die cic, den Wegfall/die
Störung der Geschaftgrundlage uam. | Das Gesetz enthält
nicht alles |
Für Ehrlich war daher die RS die wahre
Rechtswissenschaft. Er übte Kritik an der positivistischen Jurisprudenz
und monierte, wie erwähnt, dass diese das Wesen und die Wirklichkeit
des Rechts nicht wirklich erfasse. Daher ist die herkömmliche ReWi
für ihn eigentlich keine Wissenschaft, sondern blosse Technik und
handwerkliche Kunstlehre für Juristen. – Die RS dagegen erforsche das
Recht als gesellschaftliche Erscheinung, seinen Entstehungs- und
Entwicklungs- sowie seinen Anwendungsprozess. – Daher ist die Jurisprudenz
für ihn auch eine Gesellschafts- oder Sozialwissenschaft; Grundlegung
der Soziologie des Rechts (1913). | RS – wahre
Rechtswissenschaft |
Zur Feststellung des „lebenden Rechts”
dienen
induktive
Methoden der empirischen Sozialforschung: Fragebogen, verschiedene
Arten des Interviews, die Sammlung und Auswertung von Urkunden,
Vertragsformularen, Entscheidungen/Urteilen etc und deren Inhaltsanalyse, aber
auch historisches und zu vergleichendes Material. | Anwendung
induktiver Methoden |
Das
Fruchtbarmachen induktiver Methoden für die Wissenschaft verdanken
wir
Aristoteles,
der aber alles andere als ein Fliegenbeizähler war. Ziel induktiver
wissenschaftlicher Methoden war schon für ihn das Erkennen des Allgemeinen
(im Besonderen) und das wissenschaftliche Aufbereiten von Erfahrungswerten.
– Aristoteles und
Theophrast unternahmen
nicht nur im Bereich der Naturwissenschaften, sondern auch in der
eben erst (durch diese Untersuchungen) geschaffenen griechischen
Rechtswissenschaft umfangreiche empirische Untersuchungen, die von (rechts)geschichtlichen
und (rechts)vergleichenden Betrachtungen begleitet wurden. So untersuchte
Aristoteles bspw 158 griechische Polisverfassungen mit dem Ziel,
die „beste” Verfassung aufzeigen zu können. (Es darf daran erinnert
werden, dass noch heute das Ziel der Rechtsvergleichung in der Suche
nach der „besten” oder doch „besseren” Lösung/en liegt.) Theophrast
erforschte in einer Parallelstudie den Kaufvertrag und die verwendeten Sicherungsmittel
in den griechischen Poleis; insbesondere auch den Kreditkauf. Leider
ist diese wertvolle Studie Theophrasts, mit der die griechische
Privatrechtswissenschaft beginnt, fast vollständig verloren gegangen. | Aristoteles: Schöpfer der wissenschaftlichen Induktion |
Weil
der übliche Rechtsbegriff, der sich idR nur auf
das Gesetzesrecht bezieht, nicht ausreicht, unterscheidet Ehrlich
drei Arten von Recht: |
Ehrlichs Rechtsbegriff umfasst 3 Arten von Recht |
• (1) Gesellschaftliches
Recht, als die Organisationsregeln der menschlichen Verbände
und deren innere Ordnung; hierher gehören Familie, Vereins- und
Gesellschaftsrecht, RAO, NotO etc. | |
• (2)
Juristenrecht: Das sind die Entscheidungsnormen/Rechtssätze
und das Verfahrensrecht nach denen die Gerichte Streitigkeiten schlichten
und Anwälte und Notare etc ihre Tätigkeit orientieren. | |
• (3) Staatliches Recht: Das
sind die Rechtsvorschriften für Polizei, Militär, die Steuergesetze sowie
die Mittel sozialer Gestaltung. | |
Ehrlich schätzt insgesamt die Macht des Staates, sein gesatztes
Recht durchzusetzen, realistisch, gering ein. | |
Den Juristen schreibt
Ehrlich eine bedeutende gesellschaftliche Funktion zu; und zwar
den Richtern, den Vertretern der Rechtswissenschaft, den Anwälten,
den Kautelarjuristen (zB Notaren, Beratungswesen von Kammern, Gewerkschaften,
Vereinen), also all jenen, die später mit dem Begriff des sog Rechtsstabes
bezeichnet wurden. – Den Juristen obliegt es nach Ehrlich auch zwischen
den drei Arten des Rechts zu vermitteln, ihre Regeln zu verflechten
und allenfalls umzuformen. – Gerechte Lösungen zu schaffen ist nach
Ehrlich eine hohe Kunst. Dazu folgender schöner Beleg aus Ehrlichs
Feder: | Bedeutende gesellschaftliche Funktion der Juristen |
„Denn die Gerechtigkeit beruht
zwar auf gesellschaftlichen Strömungen, aber sie bedarf, um wirksam
zu werden, der persönlichen Tat eines Einzelnen. Sie ist darin am
ehesten der Kunst vergleichbar. Auch der Künstler schöpft sein
Kunstwerk, wie wir heute wissen, nicht aus seinem Innern, er vermag
nur das zu formen, was ihm von der Gesellschaft geboten wird; aber
ebenso wie das Kunstwerk, obwohl ein Ergebnis gesellschaftlicher
Kräfte, doch erst vom Künstler mit einem Körper bekleidet werden
muss, so braucht auch die Gerechtigkeit eines Propheten, der sie verkündet;
und wieder gleich dem Kunstwerk, das, aus gesellschaftlichem Stoffe
geformt, vom Künstler den Stempel seiner ganzen Persönlichkeit erhält,
verdankt die Gerechtigkeit der Gesellschaft nur ihren rohen Inhalt,
ihre individuelle Gestalt dagegen dem Gerechtigkeitskünstler, der
sie gebildet hat. Wir besitzen weder eine einzige Gerechtigkeit
noch eine einzige Schönheit, aber in jedem Gerechtigkeitswerk ist
die Gerechtigkeit, ebenso wie aus jedem wirklichen Kunstwerk die
Schönheit zur Menschheit spricht. Die Gerechtigkeit, so wie sie
in Gesetzen, Richtersprüchen, literarischen Werken individuell gestaltet
wird, ist in ihren höchsten Äußerungen das Ergebnis genialer
Synthese der Gegensätze, wie alles Großartige, das je geschaffen
worden ist.” (Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913: Hervorhebungen
von mir) – Damit gibt sich Ehrlich als Vertreter der griechischen
Mesoteslehre (Solon, Platon, Aristoteles), also der Lehre von der
„Mitte” zu erkennen. | |
4. Ehrlichs
Methodenkritik | |
Sein
Wissenschaftsverständnis ließ Ehrlich auch die herrschenden Rechtsanwendungsmethoden seiner
Zeit und insbesondere den Rechtspositivismus kritisieren. Seine
Verwurzelung in der österreichischen (Privat)Rechtsordnung war dabei
prägend. Bedauerlicher Weise ist sein fertiggestelltes (Grundlagen)Werk
zu diesem Fragenkreis – es handelte sich um die überarbeitete und
beträchtlich erweiterte Fassung seiner Programmschrift: „Freie Rechtsfindung
und freie Rechtswissenschaft” von 1903 (dazu gleich mehr) – verloren
gegangen. Sie trug den Titel: „Theorie der richterlichen Rechtsfindung”,
was mE dem, was Ehrlich uns vermitteln wollte, gerechter wird als
der alte Titel, und enthielt auch Ausführungen über die Methoden
und Ergebnisse seiner empirischen Rechtsforschungen; vgl M. Rehbinder,
„Einleitung” zu „Recht und Leben” 7. Dieses Verständnis Ehrlichs wurde
später von R. Dworkin (übernommen? und) fortgeführt. Es wurzelt
signifikant in der österreichischen Rechtsordnung. | „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft” |
Ehrlich wurde mit
der eben erwähnten Programmschrift zum Begründer und einem der geistigen Galionsfiguren
der sog
Freirechtsschule,
der neben ihm insbesondere auch Hermann
Kantorowicz (1877-1940),
Ernst
Fuchs (1859-1929)
und Hermann
Isay (1873-1938)
angehörten. | Freirechtsschule |
Kritisiert
wurde von der Freirechtsbewegung vor allem das Dogma des Rechtspositivismus
von der
Lückenlosigkeit der Rechtsordnung und
der daraus abgeleiteten Behauptung, die Rechtsordnung halte für
jeden „Fall” bereits eine Lösung bereit, weshalb der Richter bloß
korrekt zu subsumieren brauche; Subsumtionsautomat. – Demgegenüber
betonte Ehrlich, dass der Richter nicht bloß „la bouche, que prononce
la parole de la loi” (Montesquieu) sei, sondern ein eigenverantwortliches Organ
der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung. | Kritik am Dogma der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung |
Diese Position Ehrlichs wurzelt im Verständnis
des § 7 ABGB, der von Karl Anton von Martini gegen beträchtliche Widerstände
in den Jahren 1792-1796 durchgesetzt worden war; vgl dazu ua meine
Ausführungen, in: Barta/Palme/Ingenhaeff (Hg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation
71 ff (1999). Ehrlichs Orientierung am ABGB wurde gerade von deutschen
Betrachtern übersehen. Falsche und unberechtigte Kritik an Ehrlich
und der Freirechtsschule war die Folge. Der Vorwurf, sie hätte eine
arbiträre Rspr ohne jede Bindung an das Gesetz gefordert, ist aber
falsch. Ehrlich forderte im Gegenteil vom Richter Gesetzestreue,
sofern sich ein Fall aus dem Gesetz entscheiden lasse und vertrat
– wie das ABGB – die Meinung, dass der Richter nur bei Vorliegen
einer Lücke ohne explizite gesetzliche Grundlage jedoch „im Geiste
des bestehenden Rechtes” entscheiden dürfe; vgl „Über Lücken im
Rechte”, in: „Recht und Leben” 80 ff. Auch hier nahm er also keine
normativ ungebundene richterliche Freiheit an, sondern eine iSd ABGB
mittelbar an den Regelungsgehalt des Gesetzes und der Rechtsordnung
(ABGB: „natürliche
Rechtsgrundsätze”) gebundene Entscheidungskompetenz des Richters.
Diejenigen, die Ehrlichs vielleicht nicht ganz glücklich bezeichnete
„freie“ Rechtsfindung und „freie“ Rechtswissenschaft kritisieren,
nehmen für sich oft viel größere Freiheiten in Anspruch, als dies
Ehrlich je in den Sinn gekommen wäre. | Falsche und unberechtigte Kritik
an der
Freirechtschule |
Ehrlich betonte, in der österreichisch-naturrechtlichen
Tradition K. A. v. Martinis stehend, die
schöpferische Richterpersönlichkeit.
Dies auch uH auf England, die USA und Rom. (Das historisch grundlegende
griechische Rechtsdenken bezog er als Römischrechtler nicht in seine
Forschungen ein.) Er schränkte aber zusätzlich ein, wenn er ausführt:
„Die freie Rechtsfindung ist konservativ wie jede Freiheit, denn
Freiheit bedeutet eigene Verantwortung, Gebundenheit wälzt die Verantwortung
auf andere ab.” – Fragen kann man vielleicht, ob eine solche Haltung
das epiteton ornans „konservativ” verdient. | |
Ehrlichs
fundierte und leidenschaftliche (Methoden)Kritik stieß auch auf
die Ablehnung manches Rechtsdogmatikers und der Schuljurisprudenz
sowie – vor allem – des Rechtspositivismus. Es kam ua zu einer eingehenden Kontroverse
mit dem Rechtspositivismus in der Person Hans Kelsens: Vgl
ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialpolitik) 1915, 839 (Kelsen);
ARSP 1916, 844 (Ehrlich); ARSP 1916, 850 (Kelsen-Replik); ARSP 1916/17,
609 (Ehrlich-Duplik) und ARSP 1916/17, 611 (Kelsen-Schlusswort). | Kontroverse mit Kelsen |
Inhaltlich richtete sich Ehrlichs
soziologische
Jurisprudenz samt Freirechtsbewegung aber nicht nur gegen
den Rechtspositivismus, sondern auch gegen die im 19. Jahrhundert
starke
Begriffsjurisprudenz,
der es – cum grano salis – um die Ableitung/Deduktion von Rechtssätzen
aus Begriffen (wie Rechtsgeschäft oder juristische Person) ging.
Aus der Existenz solch’ normativer Begriffe wurden weitere rechtlich
relevante Konsequenzen logisch abgeleitet. G. F.
Puchta (1798-1846),
der Nachfolger F. C. v.
Savignys (1779-1861) in der
Führung der Historischen Rechtsschule, B.
Windscheid (1817-1892)
und der jüngere R. v.
Ihering (1818-1892) waren ihre Hauptvertreter.
Begriffe wurden hierarchisch gegliedert, was Puchta „Genealogie
der Begriffe” nannte und Ihering meinte: „Die Begriffe sind produktiv,
sie paaren sich und zeugen neue.” (Geist des römischen Rechts, Bd
I und II, 1866²/1869²). Berühmt-berüchtigt ist Iherings starres
Festhalten an der Verschuldenshaftung noch zu einer Zeit, für welche
die gewerblich-industrielle Entwicklung längst eine effiziente Gefährdungshaftung
benötigte. (Der entscheidende Fortschritt kam daher nicht durch
die Rechtsdogmatik des gemeinsamen Zivilrechts, die in dieser sensiblen
gesellschaftlichen Phase – mangels adäquater Orientierung am gesellschaftlich
Erforderlichen – versagt hatte, sondern durch helle Köpfe der Bismarckadministration.)
Iherings pseudowissenschaftlich an die Naturwissenschaften angelehnte
Formulierung lautete: | Kritik an der
Begriffsjurisprudenz |
„Nicht der Schaden verpflichtet zum Ersatz,
sondern die Schuld – ein einfacher Satz, ebenso einfach wie der
des Chemikers, dass nicht das Licht brennt, sondern der Sauerstoff
der Luft.” | |
Dem fügte der damals methodisch noch verblendete Ihering,
die Quelle seiner Erkenntnis nennend hinzu: | |
„… das Römische Recht führte mich über sich
selbst hinaus, indem es mir Gedanken von allgemein gültiger Wahrheit
entgegenbrachte.” | |
 | |
Das Programm der Begriffsjurisprudenz war
aber insgesamt nicht so reaktionär wie das mitunter dargestellt
wird, aber ihre gesellschaftsfernen logisch-konstruktivistischen
Annahmen bedurften der Korrektur. Ihre Entstehung war wohl auch
eine Folge der in Deutschland fehlenden Kodifikation und der Weigerung
der politisch wie universitätsorganisatorisch starken Historischen Rechtsschule,
Konsequenzen aus der gesellschaftlichen Entwicklung für das Recht
zu ziehen. (Daraus ließe sich manches lernen!) | |
Ihering wandte
sich später von dieser Position ab und ironisierte sie sogar in
seinem Werk „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz” (1884); vgl auch
sein Werk „Der Kampf um’s Recht” (1872). Hauptwerk der späteren
Schaffensperiode Iherings ist „Der Zweck im Recht” (2 Bde: 1877/1883), womit
Ihering zum Ahnherrn der
Interessenjurisprudenz wird,
als deren Vertreter Philipp
Heck (1858-1943),
Heinrich
Stoll (1891-1937)
und Rudolf
Müller-Erzbach (1874-1959)
gelten. Diese neue methodisch-theoretische Orientierung bedeutet
auch eine Öffnung des Rechts- und Zivilrechtsdenkens in Richtung
Gesellschaft und der sie bestimmenden Kräfte, worin ein erster Ansatz in
Richtung soziologische Jurisprudenz liegt. | Interessenjurisprudenz |
 | Abbildung .5: Eugen Ehrlich: Freirechtsschule
(1) bis (3) |
|
5. Zur Bedeutung Eugen Ehrlichs | |
Die praktische Wirkung von Ehrlichs Kritik
an der Rechtswissenschaft seiner Zeit war beachtlich. Und sie war
– wie erwähnt – im nichtdeutschsprachigen Ausland noch viel größer
als in Deutschland und Österreich. In seiner – und damit der österreichischen
– Tradition stehen nicht nur die RS und die RTF,
sondern – zum Teil fast unbemerkt – auch die noch heute existente
und anerkannte Interessenjurisprudenz samt neueren
Methodenlehren (J. Esser, K. Larenz, W. Fikentscher; in
den USA weist das Denken R. Dworkins in Bezug auf dessen Verständnis
der Rechtsanwendung eine starke Affinität auf) und die moderne Rspr,
für die Lückenfüllung und moderate richterliche Rechtsfortbildung
selbstverständlich geworden sind. – Man sollte dabei nicht übersehen,
wie modern die Konzeption des ABGB in ihrer harmonischen Verschränkung
von Auslegung und Lückenfüllung von Anfang an gewesen ist und welch’
unfruchtbare Auseinandersetzungen Österreich dadurch erspart blieben.
„Bekämpft” werden musste in Österreich – neben dem Rechtspositivismus
– „nur” die Historische Rechtsschule, deren österreichischer Vertreter
J. Unger war; dazu → KAPITEL 4: Die
Persönlichkeitsrechte:
Persönlichkeitsrechte. | |
Dass es in
Österreich bislang weder ein (Universitäts)Institut, noch im BMfJ
eine Abteilung für RTF gibt, gereicht unserem Land nicht zur Ehre.
– Ein
Eugen-Ehrlich-Institut mit
einem adäquaten Aufgabenbereich ist überfällig. Die Politik ist
aufgerufen, dies so rasch wie möglich nachzuholen. Vgl auch das
unter Pkt I Gesagte. | Eugen-Ehrlich-Institut |
 | Abbildung .6: Max Weber: Porträt
(1) bis (6) |
|
 | Abbildung .7: Max Weber: Vertragsfreiheit (1) bis (10) |
|
 | Abbildung .8: Max Weber: Methode
(1) + (2) |
|
 | Abbildung .9: Max Weber: Konzept des „Idealtypus” (1) bis (4) |
|
 | Abbildung .10: Max Weber: Werturteilsfreiheit
(1) bis (5) |
|
 | Abbildung .11: Arthur Nussbaum: 1877-1964 (1) bis (3) |
|
 | Abbildung .12: Arthur Nussbaum: Pogramm
der RTF (1) bis (6) |
|
 | Abbildung .13: Was will die RTF? |
|
 | Abbildung .14: Wichtigste Anwendungsbereiche
der RTF (1) + (2) |
|
 | Abbildung .15: Aristoteles und Theophrast |
|
 | Abbildung .16: Methoden der RTF (1)
bis (10) |
|
 | Abbildung .17: ”Kausalität im Sozialrecht” (1) bis (5) |
|
 | Abbildung .18: Judikaturanalyse (1)
bis (6) |
|
 | Abbildung .19: RTF und Altenrecht – zusammengestellt von M. Ganner (1) bis
(23) |
|
 | Abbildung .20: J.
Fedynskyj, Rechtstatsachen auf dem Gebiete des Erbrechts im Gerichtsbezirk
Innsbruck 1937-1941 (1968) – zusammengestellt von F. J. Giesinger
(1) bis (13) |
|
 | Abbildung .21: Rechtstatsachen im
Organtransplantationswesen in Deutschland, Österreich und der Schweiz
– zusammengestellt von Elmar Sebastian Hohmann (1) bis (51) |
|
6.
Statistisch-rechtstatsächliche
Hilfsmittel | |
Hier sollen nur einige kurze weiterführende Hinweise gegeben
werden, was trotz der
Justiz-Daten-Misere in Österreich ”gefunden”
werden kann. Ich beschränke mich dabei auf eine Internetdarstellung,
weil das Angebot wahrlich keine Bäume ausreißt: | |
 | Abbildung .22: Statistische Hilfestellungen
in Österreich |
|
 | Abbildung 18.23: Statistik Austria: Rechtspflege |
|
 | Abbildung 18.24: Statistik im Internet |
|
|
A.
Recht und Gerechtigkeit |
C.
Weltbild, Menschenbild und Menschenwürde – Zur
Rolle der Medizin in modernen Gesellschaften |
|