| Kapitel 18 | | | Inhaltsverzeichnis | B.
Rechtswissenschaft
als Sozialwissenschaft? | |
A.
Recht und Gerechtigkeit |
 | |
Nachdenken
über Recht bedeutet, nachzudenken über den Menschen,
seine Ziele, Wünsche und Hoffnungen, aber insbesondere auch über
den Zusammenschluss der Menschen in Staat und Gesellschaft,
was heute wie früher nur möglich ist, wenn das Individuum Rechte
an diese übergeordnete Gemeinschaft abtritt und der Staat sich grundsätzlich
als Rechts-Staat ( → KAPITEL 1: Der Rechtsstaat)
versteht. Denn das Recht ordnet und vermittelt zwischen dem Ganzen
und seinen Teilen, den Einzelnen und der Gesellschaft. | Nachdenken über Recht |
Interesse am Recht verlangt daher nach
lebendiger Anteilnahme an Staat, Gesellschaft und Politik, was nicht
gleichbedeutend damit ist, selbst politisch tätig zu sein. Diejenigen
aber, die mit dem Staate und dem von und in ihm geschaffenen Rechte
(beruflich) zu tun haben, sollten sich auch dafür interessieren,
was das Recht (eigentlich) ist, wie es entsteht, sich wandelt, angewandt
wird und vergeht; kurz: welche Aufgaben es im Staate wahrzunehmen
hat und was es für die Einzelnen bedeutet. Mit diesem Hinterfragen
von Recht sind wir bei der
Rechtsphilosophie angelangt,
die über diesem Kapitel steht und die nicht zufällig aus zwei Wortteilen
zusammengefügt wurde: „ Recht” und „ Philosophie”.
Rechtsphilosophie ist nichts anderes, als Philosophie, die auf das Recht
angewandt wird; ist logisches, analytisches, aber auch (rechts)historisches,
(rechts)vergleichendes und – nicht zuletzt – rechtspolitisches (Nach)Denken
über das Recht. Es ist ein Rechtsdenken in philosophischer Tradition,
also einer Tradition von der die Rechtswissenschaft im antiken Griechenland
ihren Ausgang genommen hat. Philosophie, als Liebe zur Weisheit
und zur Erkenntnis von allem, was für den Menschen von Bedeutung
ist, meint, auf das Recht angewandt, dessen Regeln und Abläufe,
die „Gesellschaft” erst möglich machen, zu verstehen, zu hinterfragen und,
wenn nötig, zu kritisieren, um sie verbessern und umgestalten zu
können. Man könnte auch sagen: Rechtsphilosophie ist das
Gewissen, das sokratische Daimonion, des Rechts;
oder sollte es doch sein. Rechtsphilosophie hat sich nämlich immer
wieder Klarheit darüber zu verschaffen, ob das Recht einer Gemeinschaft
jene hohe Aufgabe erfüllt, auf die schon kurz hingewiesen wurde: Gesellschaft
möglich zu machen, was stets auch bedeutet, die Einzelnen zu fördern,
um ihre Menschwerdung, als Ziel unseres Menschseins, angemessen
zu unterstützen. Sie hat aber auch Anteil zu nehmen an der rechtlichen
Gestaltung der Gesellschaft und das wissenschaftliche Rechtsdenken
als Ganzes zu leiten, wie uns das die Griechen der Antike als Begründer
des europäischen Rechtsdenkens gelehrt haben. Rechtsphilosophie
sollte sich daher auch zu aktuellem Geschehen äußern. Und zwar grundsätzlich
zu allem, was in einer Gesellschaft geschieht, das von gewisser Bedeutung
ist. Vor allem aber zu rechtlichen und politischen Vorgängen in
einer Gemeinschaft. Zum Wohle des Ganzen und seiner Teile. Denn
nahezu alles, was in einer Gesellschaft geschieht, wirkt auf jene
Regeln ein, die eine Gesellschaft zusammenhalten, konstituieren,
eben das Recht. Jüngste Entwicklungen erzwingen dies beinahe; Stichworte
dazu müssen hier genügen: akzelerierter gesellschaftlicher Wandel
und eine zunehmende Bedrohung der Umwelt, der Arbeitswelt, neue
Möglichkeiten und Gefahren der Bio- und Informationstechnologie,
aber auch Gefährdungen von Demokratie und Rechtsstaat durch eine
rücksichtslose Machtpolitik auf nationaler wie auf internationaler
Ebene uvam. Denn wir alle wissen, dass Entwicklungen nicht immer
nur zum Guten führen (können), weil der Mensch nicht nur selbstlos
und gemeinschaftsförderlich denkt und handelt, sondern auch selbstsüchtig
persönliche oder Gruppenziele verfolgt. Macht, Einfluss, Geld, aber
auch das Recht und seine Möglichkeiten, stellen für ihn (und alles
was er geschaffen hat), immer wieder Verlockungen dar, die das Ganze,
wie seine Teile gefährden und manipulieren können. Aufgabe der Sozialnormen in einer Gesellschaft,
zu denen das Recht gehört ( → KAPITEL 1: Sitte
/ Brauch, Moral <-> Recht: Sozialnormen),
ist es, diese gesellschaftlichen Gefährdungen von Teil und Ganzem zu
erkennen und idF dagegen ankämpfen zu können. Vor einem solchen
Hintergrund nimmt es sich anders aus, wenn ein Finanzminister von
einer mächtigen und vermögenden Interessenvereinigung eine hohe
Summe erhält, um damit seine Homepage zu finanzieren, mag dafür
auch ein eigens gegründeter Verein zuständig sein. | Rechtsdenken
und Philosophie |
Was im alten Griechenland und
in Rom, die uns in vielem immer noch als Vor-, aber auch als Zerrbild
dienen können, noch selbstverständlich war – nämlich sich handelnd
für die Gemeinschaft einzusetzen, ist es heute längst nicht mehr,
weshalb es in Erinnerung gerufen werden soll. Denn von einem Rückzug
in den privaten Schmollwinkel profitieren gerade jene,
die meinen den Staat rücksichtslos für ihre Zwecke instrumentieren
und ausbeuten zu können. – Ratsam für den Kontakt mit der nicht
nur für Juristen/innen wichtigen Rechtsphilosophie erscheint auch
die Lektüre von Primärliteratur. Daher die Hinweise auf Platon,
Aristoteles, Kelsen und andere. | Sich für die
„Gemeinschaft“ einsetzen |
Wichtig
erscheint es aber auch, die Anliegen der Rechtsphilosophie
ins Privatrecht zu tragen und hier mehr als bisher über
grundlegende Fragen des Rechts nachzudenken. Zu fordern ist daher eine
„
Privatrechtsphilosophie“,
denn auch das Privatrecht sollte sich nicht mit blosser Rechtsdogmatik
und steriler Systematik zufrieden geben. Ein Schuss
Ideologiekritik kann
dabei ebensowenig schaden, wie – über die Philosophie hinaus, Rechtsgeschichte,
Rechtsvergleichung und eine sozialwissenschaftliche Betrachtung
privatrechtlicher Fragen. – Auch didaktisch wäre das von Vorteil,
zumal dadurch die Relativität rechtlicher Lösungen oder gar von
Theorie besser erkannt und dadurch Kritik und Diskussion gefördert
werden können. Diskursives Denken wird in der juristischen Ausbildung
ohnehin vernachlässigt. Nur auf die verba magistri zu
schwören ist langweilig. Nicht nur für Studierende. | Privatrechts-Philosophie |
I. Das Ziel des
Rechtsdenkens – Was will Rechtsphilosophie? | |
| |
Von Platon (Politeia 444c) stammt der schöne
Vergleich, dass die Gerechtigkeit für die Seele das sei, was die
Gesundheit für den Leib darstellt, und Ungerechtigkeit für die Seele
das bedeute, was Krankheit für den Leib. | |
Recht und Gerechtigkeit
haben aber auch zu tiefst mit den Grundwerten Freiheit, Gleichheit (vor dem Gesetz)
und dem Schutz
Schwacher zu tun. Erst ihr sinnvolles Verknüpfen weist den Weg zu einer
zeitgemäßen Annäherung an Gerechtigkeit. Anwendung und Verständnis
des Rechts leben zudem davon, dass eine korrekte Rechtsanwendung,
unabhängig von der Person und der Sache, um die es geht, gesichert
ist. Das meinte Karl Anton von Martini, wenn er
– was nicht als Härte oder Unmenschlichkeit missdeutet werden darf
– ausführte: | |
„Die Gesetze hingegen sind taub und unerbittlich;
bey ihnen gilt kein Ansehen der Person; sie schützen den Schwachen
gegen den Stärkern; von ihnen hat der Mächtigste keine Schonung
zu erwarten.” (Allgemeines Recht der Staaten. Zum Gebrauch der öffentlichen
Vorlesungen in den k. k. Staaten; Wien, 1799. Übersetzung der lateinischen Ausgabe
aus dem Jahr 1773.) | |
Schon für die sehr staatstragend denkenden alten Ägypter diente
der Staat vornehmlich dazu, um unter den Menschen Recht und Gerechtigkeit
zu verwirklichen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur
unsere Vergesslichkeit ist grösser geworden. | |
Dazu J. Assmann,
Der Tod als Thema der Kulturtheorie (es 2157, 2000). | |
Heute
wird in der juristischen Ausbildung zu wenig Wert auf diese grundlegenden
Zusammenhänge gelegt, weil man glaubt, mit ökonomischem Wissen und
Werten, die durchaus ihren Stellenwert in der Ausbildung haben sollen,
das Auslangen finden zu können. Aber eine nur ökonomische Ausrichtung
des juristischen Denkens verkennt die Aufgabe der Juris-Prudenz und verrät
die Rechtsidee. | Juristen/innen brauchen mehr als „Ökonomie“ |
| |
Das
Vorwort des anregenden Bändchens von Theo Mayer-Maly, „Rechtsphilosophie”
(2001), beginnt mit der Feststellung: | Rechtsdenken – eine unendliche „Geschichte“ |
„In der Rechtsphilosophie geht es um die
Frage, warum Recht gilt und weshalb ein
bestimmter Satz als Rechtssatz gelten soll. Sie ist Nachdenken
über Rechtliches. Ihr Argumentationshorizont wird nicht einem bestimmten
geltenden Recht, sondern der Vernunft und der Erfahrung entnommen.” | |
Das lässt erahnen, dass das Thema Rechtsphilosophie eine unendliche ”Geschichte”
ist. Was aber nicht entmutigen sollte, mag man sich dabei auch wie
in dem von Augustinus stammenden Vergleich als kleiner Junge fühlen,
der, am Meeresstrande sitzend, das Meer ausschöpfen will. – Das Kapitel
will Interesse für grundlegende Fragen des Rechts wecken,
nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nach Einsteins Zielsetzung
soll dabei alles so einfach wie möglich gesagt werden, aber eben
nicht einfacher. Rechtsphilosophie verlangt Hingabe an das
Rechtsdenken und als Teil der Philosophie, auch Liebe zu
deren Fragestellungen. Damit aber auch zur Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung,
Rechtstatsachenforschung und Rechtspolitik, also Disziplinen aus
denen die europäische Rechtswissenschaft im antiken Griechenland
entstanden ist. | |
II. Gerechtigkeit
und Gesellschaft – Die ‚Idee’ der Gerechtigkeit als ‚Rechtsidee’
| |
1. Zum Gerechtigkeitsverständnis | |
Gerechtigkeit spielt wenigstens dem
Namen nach in allen möglichen Bereichen moderner Gesellschaften
eine mehr oder minder wichtige Rolle: Die Ökonomie spricht – oder
sollte es tun – von
Verteilungsgerechtigkeit oder einem
gerechten Steuersystem; auch in der Gesundheitspolitik wäre
Gerechtigkeit gefordert; zB keine Zweiklassenmedizin, ein Recht
auf Gesundheit für alle, nicht nur für Zusatzversicherte und Reiche.
Und überhaupt wird, wenn auch immer seltener, gesellschaftspolitisch
soziale
Gerechtigkeit eingemahnt. Auf die Gerechtigkeit zurückgegriffen
wird mitunter auch in den Debatten um eine angemessene
Entwicklungshilfepolitik zwischen
dem reichen Norden und dem armen Süden, zwischen Jung und
Alt (sog Generationenvertrag, Renten- und Arbeitsmarktproblematik)
oder im Rahmen der Bemühungen um
Chancengleichheit
zwischen den Geschlechtern. | Erscheinungsformen
der Gerechtigkeit |
Gerechtigkeit ist
daher nicht nur eine „Frage” der Rechtswissenschaft,
sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, wenngleich viele
dieser Fragestellungen darauf hinauslaufen, die jeweils eingeforderte
Maßnahme mittels rechtlicher Programme umzusetzen. – Darin liegt
eine besondere wissenschaftliche Verantwortung der Rechtswissenschaft
als „Umsetzungsdisziplin“ für die Gesellschaft. | Auch andere Disziplinen interessieren sich für
die Gerechtigkeit |
 | |
2. „Rechtsidee” und „Rechtsbegriff” | |
Wenn
wir heute von der „Rechtsidee” sprechen und damit
die Orientierung des Rechts(denkens) am hohen Ziel der Gerechtigkeit
meinen, sollten wir uns des Umstandes bewusst sein, dass diesem Denken Platons Ideenlehre
zugrunde liegt, die in diesem Feld ihre Aktualität bewahren konnte.
Auf das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit passt in der Tat
Platons bildhafter Vergleich im 7. Buch seiner „Politeia” (Höhlengleichnis)
gut, wonach sich „Idee” und ihr „reales
Abbild” in der Wirklichkeit unterscheiden und das Abbild,
das Urbild nie zu erreichen vermag. – So verhält es sich auch mit
dem Recht und der Rechtsidee: Menschliches Recht vermag
bestenfalls gute Annäherungswerte an die Rechtsidee zu erreichen,
nicht aber diese selbst, denn das würde bedeuten, eine
absolute
Gerechtigkeit verwirklichen zu können. Das aber erscheint
– jedenfalls bis auf weiteres – unmöglich. Denn wie G. Radbruch
formulierte: | Rechtsidee und Rechtswirklichkeit |
„Recht ist Menschenwerk und kann wie jegliches Menschenwerk
nur aus seiner Idee begriffen werden”; Rechtsphilosophie 11. | |
Gustav Radbruch (1878-1949),
ein noch heute interessanter und bedeutender Rechtsdenker, schloss
daraus, dass „eine zweckblinde, d. h. wertblinde Betrachtung eines
Menschenwerks … unmöglich, und so auch eine wertblinde Betrachtung
des Rechts oder irgendeiner einzelnen Rechtserscheinung” ausscheide;
ebendort. – Radbruch geht auch auf den Rechtsbegriff ein,
der im Zusammenhang mit der Rechtsidee von Bedeutung ist und meint,
dass er „nicht anders bestimmt werden [könne] denn als die Gegebenheit,
die den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen. Recht kann ungerecht
sein (summum
ius – summa iniuria), aber es ist Recht nur, weil es den Sinn hat, gerecht
zu sein.” Die Rechtsidee selber sei das „konstitutive Prinzip” und
zugleich „der Wertmassstab für die Rechtswirklichkeit”; aaO 12.
Die Rechtsidee sei eine Schöpfung menschlich „bewertenden Verhaltens”.
– Damit wird die Rechtsidee geschickt von praepositiven-transzendentalen
Bezügen freigehalten, ohne sie deshalb einem positivistischen Verständnis
auszuliefern. | Rechtsidee
und
Rechtsbegriff |
Andere
verstehen unter Rechtsidee, die
Lehre
vom
„richtigen Recht”; vgl K. Engisch, Auf der Suche
nach der Gerechtigkeit (1971), der dabei auf älteres Denken zurückgreift.
Es geht dabei um die „Suche nach Maßstäben, anhand
derer wir beurteilen können, ob das positive Recht (das heutigentags
meist als Gesetzesrecht in Erscheinung tritt und in ‚Geltung’ steht)
gut oder schlecht, bewahrungs- oder verbesserungswürdig, überhaupt
‚wahres’ Recht und nicht vielmehr bitteres Unrecht, ja darum womöglich
null und nichtig ist”; Engisch, aaO 187. Aus einer negativen Beurteilung
wäre wenigstens – so Engisch – eine Reformforderung ableitbar, die
dann ebenfalls der Rechtsidee zugehörte: | Lehre vom „richtigen Recht” |
„Nur ein extremer ‚Positivismus’, wie er
heute kaum noch anzutreffen ist …, wird die Frage nach der Rechtsidee, …
als müßig, sinnlos, für den Juristen uninteressant und höchstens
den Politiker angehend betrachten.” | |
Engisch meint auch, dass die Geschichte des philosophischen
Nachdenkens über das richtige Recht mit der Geschichte der
Rechtsphilosophie identisch sei; aaO 189. Allein es geht
wohl heute zu weit, ein solches Denken nur der Rechtsphilosophie
zu überlassen und das einfache juristische Denken davon zu dispensieren. | |
Schon
Studierende der Rechtswissenschaften sollten daher diese beiden
– wertungs- und erwartungsmäßig stark aufgeladenen – Begriffe, die
nicht nur für die Rechtsphilosophie von Bedeutung sind, kennen,
um sie im Bedarfsfall argumentativ verwenden zu können. Das gilt
für die (Rechts)Politik ebenso, wie für das praktische Rechtsleben
als Verwaltungsbeamter, Anwalt, Notar oder Richter. Und selbstverständlich
ist auch die Rechtswissenschaft gefordert, immer wieder Überlegungen
zur Rechtsidee anzustellen. – Das lehrt uns, dass die Rechtsphilosophie
auch einen praktisch-argumentativen Anwendungsbereich besitzt. Auch
in der Politik und der Rechtspraxis vermag uns das Begriffspaar
„Rechtsidee” und „Rechtsbegriff” eine Orientierungshilfe zu sein. Beide
Begriffe helfen auch dabei, die Zielsetzungen und die funktionale
Umsetzung des Rechtsdenkens einer Epoche zu ergründen; etwa den
Rechtsbegriff und die Rechtsidee im antiken Griechenland oder in
Rom oder zur Zeit der großen Privatrechtskodifikationen in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts. | Praktisch-argumentativer Anwendungsbereich der Rechtsphilosophie |
Die
antike griechische Rechtsidee ist Teil eines bereits reifen Menschen-
und Weltbildes und im Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Gemeinschaft
angesiedelt. Sie kann weder als idealistisch überhöht, noch als
bloß positivistisch nüchtern angesehen werden. Vielmehr versteht
sie den Menschen als Teil der Gemeinschaft und ist bestrebt, diese
um des Menschen willen zu stärken. Gegründet wird die griechische
Rechtsidee seit Solon
auf der unverrückbaren
Freiheit aller (Polis)Bürger, zu der
sich früh – nämlich schon seit Solon – für den Bereich des Privatrechts
die bürgerliche Rechtsgleichheit (
Isonomia) gesellt; und in der
Folge die Weichen in Richtung politische Gleichheit und Teilhabe
am politischen (Staats)Geschehen stellt. Das Recht duldet seit dieser Zeit
weder Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit, noch der Ehre
(
Hybrisklage!),
zumal ein solches Verhalten nicht nur für den Einzelnen nachteilig,
sondern auch für die Gemeinschaft der Polis gefährlich und zerstörerisch
ist. Ein Aspekt der heute kaum mehr verstanden wird. Der Schutz
der
Menschenwürde ist
seit der Mitte des 5. Jahrhunderts v. C. (Perikles) weit entwickelt und
umfasst, anders als meist kolportiert, alles Menschliche (!): Freie
wie Sklaven, Frauen und Männer, Kinder und Alte, Griechen und Fremde
sowie Arm und Reich. Mögen vielleicht auch noch Anspruch und Wirklichkeit
noch nicht zur Deckung gelangt sein. Die junge athenische Demokratie benötigte
diesen egalitären Schutz, mag er auch schon nur wenige Jahrzehnte
später zunächst ins Wanken geraten und in der Folge vorübergehend
wieder fast ganz verloren gegangen sein. – Und die griechische Idee
vom Recht erfasst bspw nicht nur den Ehrenschutz lebender Personen,
sondern auch den Verstorbener; latinisiert:
De mortuis
nihil nisi bene. Das ist bereits solonisch. Schon die griechische
Rechtsidee sichert somit die fundamentalen Rechtswerte Freiheit
und Gleichheit, wozu früh die politische Teilhabe am Staatsgeschehen
kommt, die schließlich Demokratie
ermöglichte. – Bereits damals standen Weltbild, Menschenbild und
Menschenwürde in enger Beziehung zur Rechtsidee und diese Bereiche
beeinflussten sich gegenseitig. Auch heute sollten wir auf diese Zusammenhänge
achten. | Zur antiken griechischen Rechtsidee |
 | |
3. Gerechtigkeit
und Gesellschaft | |
Gerechtigkeit zielt letztlich darauf ab, Gesellschaft
– und zwar für alle (!) – möglich zu machen, was heißt: Wo nötig
auszugleichen und immer wieder nach Neuem und Besserem Ausschau
zu halten, weil gerade moderne Gesellschaften sich rasch wandeln
und ein solcher Wandel neue (System)Verlierer und Gewinner hervorbringt.
– Als Juristin oder Jurist kann man sich daher nicht auf vermeintlich
Endgültigem ausruhen. Die Jurisprudenz verlangt vielmehr nach ständiger Bewegung
und Achtsamkeit. Dabei erscheint es gerade im Bereich des Rechtsdenkens
und der Jurisprudenz mitunter sinnvoll, strukturkonservativ zu denken
und zu handeln; dies iS eines Bestehenlassens alter und vertrauter
Formen, ohne dabei den inneren Wandel zu vernachlässigen. | Gesellschaft durch Recht möglich
machen |
Der us-amerikanische
Philosoph
Richard
Rorty sprach anschaulich davon, dass die gesellschaftlichen
Werte Freiheit, [Gleichheit?], Gerechtigkeit und Demokratie für
uns zur
Zivilreligion werden
müssen, soll es gelingen unsere Gesellschaften zu stabilisieren.
ME könnte auch eine nur menschlich begründete Rechts-Ethik zu einem
wichtigen Bestandteil der Rechtsidee werden. – Daraus wird deutlich:
Gerechtigkeit ist nicht nur ein rechtlicher, sondern ein (gesamt)gesellschaftlicher
Wert. Aufgabe des Rechts ist es, zur Erreichung dieses wichtigen
gesellschaftlichen Ziels, Umsetzungs-Hilfe zu leisten. Das ist heute
nicht anders als zur Zeit der alten Griechen. Ein gesellschaftsfernes
Rechts- und Gerechtigkeitsdenken ist demnach ein Widerspruch in
sich. Mag es auch für alle rechtlich Tätigen wichtig sein, die innere
wie äußere Unabhängigkeit zu bewahren. Geld und Macht versuchen
nämlich immer wieder, Recht und Gerechtigkeit für ihre Zwecke zurechtzubiegen.
Und man muss zugestehen: Sie sind dabei zur Zeit „erfolgreich“. | Zivilreligion? |
4. Die Idee der
Gerechtigkeit | |
Juristen – freilich nicht nur sie
(vgl etwa auch N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft: 1993) – reagieren
eher befremdet, oft gelangweilt, wenn sie ein Buch über die Gerechtigkeit
in die Hand bekommen, was übrigens selten vorkommen dürfte. Und
seien es hochkarätige, wie die der Amerikaner John
Rawls, Michael
Walzer oder Ronald
Dworkin. Bei uns
existiert keine Literaturgattung dieser Art und das Studium stellt
dafür keine Weichen. Die Vorbehalte gehen häufig in die Richtung,
dass derlei Bücher letztlich nichts brächten, weil sie zu allgemein
gehalten seien und kaum jemand an derart abstrakten Themen interessiert
sei. – Stimmt das, oder handelt es sich hier um eine berufliche
Schutzbehauptung, die davor bewahren soll, eingefahrene Denkmuster
verlassen oder doch in Frage stellen zu müssen? | Eingefahrene
Denkmuster verlassen |
Andererseits wird immer wieder versucht,
die Idee der Gerechtigkeit als ewig und allgemeingültig hinzustellen,
was „so” unzutreffend ist, mag das auch für manche (Einzel)Fragen
(eher) zu bejahen sein; zB grundsätzliches Tötungsverbot, Schutz
Schwacher, faires Verfahren, Notwehrrecht, pacta sunt servanda.
– Aber warum wird immer wieder der transitorische Charakter von
Recht und Gerechtigkeit verkannt? Es lohnt, darüber nachzudenken. | Gerechtigkeit –
ein Ewigkeitswert? |
5. Michael Walzer
und John Rawls | |
Das Amerika der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts weist große Vertreter des Rechts- und Gerechtigkeitsdenkens
auf, von denen zwei hier kurz vorgestellt werden sollen, zumal sie
uns immer noch manches zu sagen haben. – Dass die USA die Heimat
dieser Denker ist, hat vielleicht auch damit zu tun, dass dieses
große und mächtige Land noch weiter als wir in Europa von der Idee der
Gerechtigkeit entfernt ist, was uns nicht dazu verleiten sollte,
uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Zudem ist nicht zu übersehen,
dass derzeit bei uns in Österreich wie in anderen Ländern Europas
die Regierungen drauf und dran sind, vieles – und zwar ohne Verständnis
für Erreichtes – zu zerstören. Aber auch politische Lausbubenstücke
und Dummheiten wie wir sie derzeit in Österreich erleben, sind schwer
auszubügeln. – Zusammen mit R. Dworkin (* 1931)
haben die Amerikaner J. Rawls und M. Walzer den Rechtspositivismus intellektuell gehörig
in die „Mangel” genommen – was freilich von seinen österreichischen
Vertretern kaum zur Kenntnis genommen wurde – und dadurch der „Rechtsidee”
erneut einen breiteren Entwicklungsraum eingeräumt. | Rechtspositivismus
als Allheilmittel? |
Es
sei wenigstens darauf hingewiesen, dass diese wichtigen Kontroversen
zwischen Vertretern naturrechtlicher und rechtspositivistischer
Positionen in Österreich teilweise bereits vor etwa 200 Jahren in
der Auseinandersetzung zwischen K.A.v. Martini und F.v. Zeiller einen
Vorläufer hatten, was bis heute nicht anständig (privat)rechtsphilosophisch
aufgearbeitet wurde. Vgl dazu wenigstens kurz: Barta,
in: Barta/ Palme/ Ingenhaeff (Hg),
Naturrecht und Privatrechtskodifikation 54 ff (1999). – Zeillers
Überschätzung ist ebenso weit verbreitet wie das Nichterkennen des historischen
Umstands, dass er einer der Wegbereiter des Positivismus in Österreich
war. Martinis rechtsphilosophisch wesentlich fundierterer Position
entspricht weithin die der ebenso griechisch inspirierten Amerikaner,
insbesondere der R. Dworkins, der übrigens auch starke (bisher offenbar
unbemerkte) Parallelen zu Eugen Ehrlich aufweist. | Zeiller versus Martini |
Der
Amerikaner M. Walzer holt die „Idee” der Gerechtigkeit
in griechischer Manier aus dem sehr oft zu abstrakten kontinentaleuropäischen
Ideen-Himmel herunter auf die Erde und macht dadurch ihren zeit-
und situationsgebundenen, aber dennoch hohen praktischen Wert bewusst.
Das Rezept ist einfach: Es werden verschiedene Facetten der Gesellschaft
– zB Einwanderung, Einkommen/Verdienst, Ansehen, öffentlicher Dienst,
Schule, medizinische Versorgung, Soziales uam – behandelt und idF
diskutiert, wie diese Felder der Gerechtigkeit gesellschaftlich
sinnvoll organisiert und gelebt werden können. Und das Ergebnis
dieser Diskussionen, gleichsam das überschießende Ganze, ergibt
mehr als seine Teile, nämlich die Idee der jeweiligen – gegenwärtig
gelebten, lebbaren und konkreten – gesellschaftlichen Gerechtigkeit,
die es also für sich alleine genommen, als Abstraktion, gar nicht
gibt und die ständig in Bewegung ist. – Wir können daraus lernen: Gerechtigkeit
muss immer wieder konkret werden. Sterilität des Rechtsdenkens
und auch der Rechtsphilosophie ist die Folge, wenn diese Maxime
nicht beachtet wird. | Gerechtigkeit muss „konkret“ werden |
Walzer
wird auch in der Theorie immer wieder konkret, denkt transitorisch,
während wir Europäer gerne abstrakt und damit unverbindlich bleiben,
Ewigkeit anstreben und dadurch den Bezug zu den drängenden Lebensproblemen
leicht verfehlen. Auch Interesse und Verständnis lassen sich europäisch-ewig-abstrakt
nur schwer vermitteln. Ganz anders der konkret, bildhaft-ruhige
und beispielreiche Zugang Walzers. Walzer ist Sozialwissenschaftler,
sein US-Herausforderer in Sachen Gerechtigkeit, John Rawls, Philosoph.
– Wo bleiben, so lässt sich fragen, die Juristen? Glauben die nicht
an die Gerechtigkeit oder zweifeln sie bloß an der Sinnhaftigkeit
sich mit ihr auseinandersetzen zu können? Oder verhindert das Aufgehen
im juristischen Alltag die Hinwendung zu den höchsten Fragen des
eigenen Fachs? Walzer macht erneut deutlich – was schon die alten
Griechen vorgelebt haben, dass das eigentliche Fragen nach den Grundlagen
der Gerechtigkeit nicht nur eines der Juristen ist, als vielmehr
auch der Philosophen, Ökonomen, Soziologen und anderer. | Europäer denken gerne „abstrakt“ |
J. Habermas übernimmt in seinem Buch „Geltung und Faktizität”
(1992) diesen Gedanken aus der anglo-amerikanischen Diskussion.
Als – rechtlich – gerecht angesehen werden kann daher nur etwas,
was zuvor von diesen vorgelagerten Sphären als gerecht und das heißt
auch gemeinschaftskonstituierend aufbereitet und erkannt wurde.
Offensichtlich kommt heute dem Rechtsdenken auch in dieser zentralen
– und nur scheinbar ureigensten juristischen – Frage bloß noch eine
vermittelnde „Umsetzungsfunktion” zu. Aber das müsste nicht so sein. | |
 | |
Läßt sich mit Gerechtigkeit experimentieren? – Zu John
Rawls und seinem berühmten rechtsphilosophischen Werk soll
hier nur so viel angemerkt werden: Versuchen Sie einmal das gedankliche Gerechtigkeitsexperiment nachzuvollziehen,
das dieser amerikanische Rechts- und Gesellschaftsphilosoph in seinem
berühmten Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit” (1971, 20012)
angestellt hat. | |
Aber
zuvor sei noch eine konkrete Rawlssche Frage vorausgeschickt: Ist
es als gerecht anzusehen, wenn Kozernchefs 4 Mio ı jährlich und
– wie die Tiroler Tageszeitung schon vor mehreren Jahren berichtete
– manche Medizinprofessoren in Innsbruck (neben ihrem Professorengehalt,
ihren Einnahmen aus betriebener Privatpraxis und zum Teil aus namhaften
zusätzlichen Einkommen aus der Betreuung von Patienten/innen aus
Südtirol etc) etwa 2 Mio ı (~25 Mio S) verdien(t)en, während die
Gehälter von Jungmedizinern/innen (ähnliches gilt für Juristen/innen)
bei 1000 ı und oft noch darunter liegen? Sind Manager wirklich so
gut und andere gesellschaftlich so uninteressant? – Wir können daraus
entnehmen, dass Fragen der Gerechtigkeit nicht nur weltferne und
abgehobene Fragen sind, sondern Fragen, die in unseren Gesellschaften
immer wieder zu beantworten und zu stellen sind. Und es muss auch
erwähnt werden, dass die Antwort auf diese Fragen schwieriger ist, als
es scheinen mag. | Lebensnahe Fragen zur Gerechtigkeit |
Doch nun zu Rawls’
Gerechtigkeitsexperiment,
das von Th. Assheuer in der deutschen Wochenzeitung
„Die Zeit” vorbildlich knapp und verständlich zusammengefasst wurde: | Rawls’
Gerechtigkeitsexperiment |
„Angenommen, eine Gruppe von Menschen könne
noch einmal ganz von vorn anfangen und sich gemeinsam die Prinzipien
einer gerechten Gesellschaft ausdenken – also ohne zu wissen, ob
der Einzelne später als Konzernchef oder Tellerwäscher, Glücksritter
oder Pechvogel seinen Platz in der Gesellschaft finden wird. Auf
welche idealen Gerechtigkeitsgrundsätze könnte sich die Gruppe im
‚Urzustand’ wohl verständigen?” – Kurz: „Rawls war überzeugt, hinter
dem ‚Schleier des Nichtswissens’ würden sich alle Beteiligten auf
eine Gesellschaft einigen, in der jeder, ob reich oder arm, eine
faire Chance besitzt, seine Begabung und seine Interessen zu verwirklichen.
Diese wohl geordnete Gesellschaft wird die Grundgüter – berufliche
Stellung und Vorrechte, Einkommen und Besitz – gerecht verteilen
und Ungleichverteilung nur dann als legitim erachten, wenn der Schlechtestgestellte
daraus einen Vorteil bezieht. Der Einkommensunterschied zwischen
einem Pförtner und einem Manager wäre also nur dann gerecht, wenn
die ungleiche Entlohnung den Pförtner besser stellt. Die bessere
Bezahlung ist für den Manager ein Anreiz, und so haben am Ende alle
mehr Geld zur Verfügung, als es der Fall wäre, wenn alle gleich
entlohnt würden.” | |
 | |
6. Gerechtigkeit
(und Rechtsphilosophie) als ‚Prozess’ | |
um GerechtigkeitNur ein Verständnis der Gerechtigkeit
als kontinuierlicher sozialer und vernunftorientierter ‚Prozess’–
zu dem iSv Hans Kelsen auch gesellschaftliche
Toleranz gehört –
wird ihrer Aufgabe, als Grundlage von Gemeinwesen zu dienen, gerecht.
Jede Zeit muss erneut darum ringen. Hier berühren sich modernes
Rechtsdenken und das vernunftrechtliche Denken des aufklärerischen Naturrechts
sowie der philosophische Aufbruch der Griechen im 5. und 4. Jahrhundert
v. C. Naturrecht sollte nämlich heute weder ontologisch (dh: im
Sein begründet, zB der Natur des Menschen), noch eschatologisch
(insbesondere religiös, von Gott ausgehend) begründet werden, sondern
nur voraussetzungslos vernunftrechtlich iS eines (weithin, wenngleich
nicht ausschließlich) relativen Naturrechts. – Gerechtigkeit ist
demnach nicht ein für allemal vorgegeben, sondern wandelbar in Raum
und Zeit und ein Produkt echten gesellschaftlichen Bemühens. | Ständiges
Bemühen |
In
der griechischen Mythologie sind Dike
(Recht / Gerechtigkeit), Eunomia
(die gute gesellschaftliche Ordnung oder Gerechtigkeit) und Eirene (Frieden) Schwestern.
Als Töchter des Zeus und
der Themis (Göttin von
Sitte und Ordnung) sind sie die drei Horen. | Themis, Dike etc |
Die historische Dimension rechtsphilosophischen
Denkens ist deshalb so wichtig, weil das Entstehen von Ideen, Konzepten
und Grundhaltungen sonst nicht richtig verstanden werden kann. –
Vor allem das griechische Rechtsdenken ist unverzichtbar, zumal
es bis heute nachwirkende Grundlagen gelegt hat. So entsteht mit
Solon das
Rechtssubjekt als
autonomer Träger subjektiver Rechte, einer normativen
„Beziehung”, die bis heute nichts an Bedeutung verloren hat. Mit
Solon beginnt der Schutz der Menschenwürde, beruhend auf der von
ihm geschaffenen unverbrüchlichen Freiheit der Bürger und
(!) der von ihm bereits weithin, wenn auch politisch noch nicht vollständig
geschaffenen politischen Gleichheit/Isonomia. Dieser Rechtsschutz seit
Solon ist bereits ein institutioneller und eine Einschränkung der
genannten Grundrechte Freiheit und Gleichheit zu der noch die privatrechtliche Vertragsfreiheit
und Privatautonomie trat, ist nur noch durch die konkurrierenden
Rechte anderer Bürger möglich. Das lehrt uns, das das von Kelsen
zu Unrecht so bekämpfte Konzept der subjektiven Rechte aus dem öffentlichrechtlichen
Bereich stammt und erst in der Folge auf das Privatrecht übertragen
wurde. | |
Das moderne Gewaltverbot,
die Ablöse der Blutrache
und Selbsthilfe,
die noch Gewalt mit Gegengewalt, Mord und Tötung vergelten, war
gesellschaftlich und rechtlich ein enormer Fortschritt; vgl damit
noch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der griechischen Tragödie,
etwa der „Elektra” des
Sophokles,
wo Agamemnons Kinder – Elektra und Orestes, den von der Mutter (Klytaimnestra)
ermordeten Vater durch die Tötung der Mutter und ihres Liebhabers
Aigisthos sühnen.
Aischylos merkt
dazu in seiner Orestie aber schon fragend an: | Modernes Gewaltverbot |
„Wo hört es wohl auf, wo endet der Lauf,
besänftigt, das Wüten des Unheils?” | |
| |
Das lehrt uns, dass es rechtlich darum „geht”, dem durch
eigenes erlittenes Unrecht entstandenen Bedürfnis nach Rache durch
die Idee der Gerechtigkeit Grenzen zu setzten und nicht erneut Unrecht
durch weiteres – selbst begangenes – Unrecht zu vergelten. Hier
steht uns die sokratisch-platonische Formel zur
Verfügung nach der es besser ist, Unrecht zu erleiden, als (selber)
Unrecht zu tun. | |
III.
Arten der Gerechtigkeit | |
Epikur, der das Glück
des Einzelnen ins Zentrum seines Denkens rückte und auch nicht mehr
an die alten Götter glaubte, dachte auch realistisch über Recht
und Gerechtigkeit, wenn er – gegen Platons Ideenlehre gerichtet
– meinte: | |
„Gerechtigkeit an sich hat es nie gegeben.
Alles Recht beruhte vielmehr stets nur auf einer Übereinkunft zwischen Menschen,
die sich in jeweils verschieden großen Räumen zusammenschlossen
und sich dahin einigten, dass keiner dem anderen Schaden zufügen
oder von ihm erleiden soll.” | |
Heute unterscheiden wir, um die Schattierungen des Gedankens
der Gerechtigkeit zu veranschaulichen, zwischen verschiedenen Arten
der Gerechtigkeit, die idF angesprochen werden sollen. | |
1.
Absolute
und relative Gerechtigkeit | |
Recht und Gerechtigkeit
sind demnach nicht identisch. Das macht auch Hans Kelsens vorangestelltes
Motto deutlich. Anzustreben gilt es aber immer wieder Annäherungswerte
an die Gerechtigkeit. Das ist jeder Epoche zur Aufgabe gestellt.
Gustav Radbruch
etwa meinte: | |
„Die Idee des Rechts kann nun keine andere
sein als die Gerechtigkeit.” | |
| Was ist Gerechtigkeit? |
Verschiedene
Vertreter des Naturrechts, etwa G. W. Leibnitz oder Christian Wolff ( → KAPITEL 1: Zur Entstehung des
ABGB),
vertraten noch die Ansicht eines absoluten Naturrechts,
das göttlichen Ursprungs sein sollte. Diese Meinung, die schon griechische
Vorläufer hat, wurde zu Recht aufgegeben, zumal die Abhängigkeit
des Rechtsdenkens von Zeit und Raum immer mehr erkannt wurde. Schon
im Altertum. – Auf der anderen Seite müssen wir konzedieren, dass
gewisse Rechts- und damit auch Gerechtigkeitspositionen zumindestens
in die Nähe einer absoluten Geltung zu rücken sind: zB das
Tötungsverbot,
heute wohl auch die
Menschenrechte mit der Menschenwürde
in ihren Zentrum, aber auch das
Notwehrrecht und vielleicht
auch noch andere Rechts-Werte. |
Absolutes Naturrecht? |
Die seit dem Altertum anhaltenden Debatten
um die Richtigkeit von Naturrechts- und rechtspositivistischen Positionen lehren
uns vielleicht eines, mag das auch als persönliche Formel zu verstehen
sein: Die Frage nach einem „Entweder-Oder” dieser beiden rechtsphilosophischen
Positionen erscheint falsch gestellt. Müssen wir uns nicht eingestehen,
dass wir heute selbstverständlich zu 90-95 Prozent Positivisten
sein müssen, dass aber auf der anderen Seite der verbleibende Teil eines
naturrechtlichen Korrektivs, das dem Positivismus inhaltlich-materiale
Grenzen setzt, ebenso selbstverständlich sein sollte? | Naturrecht oder
Rechtspositivismus? |
Hier,
im Bereich der relativen Gerechtigkeit, schließt sich auch der Kreis
zur Anthropologie, Sozialpsychologie und Psychoanalyse: | Interdisziplinäre Einsichten |
„Freud hat darauf hingewiesen, dass ...
Triebregungen – die Triebregungen des Menschen wie natürlich auch
diejenigen jedes anderen Lebewesens – an sich weder gut noch böse
sind, sondern dass sie als gut oder böse nur erlebt werden können
im Kontext eines Kulturverhaltens. Es ist also in verschiedenen
Kulturen das, was als gut und was als böse angesehen wird, etwas
sehr Verschiedenes. Es gibt kein Absolutum in dieser Hinsicht.”
– A. Mitscherlich, Massenpsychologie
(1972) | |
2.
Materielle
und formelle Gerechtigkeit | |
Dazu kommt, und deshalb
finden sich diese Ausführungen im folgenden Kapitel 19 (Rechtsdurchsetzung),
dass „Recht haben” (nach dem materiellen Recht)
und „Recht bekommen /erlangen” (im Prozess und
überhaupt in rechtlichen Verfahren) zweierlei sind. – Kann ich nämlich
mein Recht nicht beweisen, erhalte ich es auch nicht zugesprochen,
mag sich auch alles tatsächlich so zugetragen haben, wie von mir
behauptet. Das verletzt zwar die materielle Gerechtigkeit,
nicht aber notwendigerweise die formelle oder Verfahrensgerechtigkeit.
Denn auch Rechtsanwender sind keine Hellseher und können nur zusprechen,
was beweisbar ist. Viele Rechtsakte werden daher nur durch ein korrektes
Verfahren legitimiert; N. Luhmann, Legitimation
durch Verfahren (1969). Das bedeutet zwar eine Einbusse in Bezug
auf die materielle Gerechtigkeit, muss aber als Folge der menschlichen
Unzulänglichkeit hingenommen werden. | „Recht
haben” und „Recht bekommen” |
Recht, Moral und Sitte ( → KAPITEL 1: Normen
als ¿Wegweiser¿ ¿ Recht, Sitte, Moral)
bestimmen für jede Gesellschaft, was in ihr „gut und gerecht” (=
erlaubt), und was „schlecht” (= unerlaubt) ist. Dabei lassen sich
von Land zu Land Übereinstimmungen wie Differenzen feststellen.
Das ist die Erklärung für Michel de
Montaignes (1533-1592) berühmten
Satz: „Was ist das für eine Wahrheit [Gerechtigkeit], die bei diesem Bergzug
endet und für die Welt dahinter Lüge [also Unrecht] ist”, der Blaise
Pascal (1623-1662) zu
seinem Ausspruch animierte: | Sozialnormen
als Kulturnormen |
„Verité en decà des Pyrénées, erreur au
delà.” | |
Dennoch existieren wichtige und weitläufige rechtliche Gemeinsamkeiten:
Für das Privatrecht bspw die Persönlichkeitsrechte,
aber auch zugefügten Schaden ersetzen und Verträge zuhalten zu müssen;
für das öffentliche Recht etwa die Grund- und Menschenrechte;
für das Verfahrensrecht die Ausrichtung an einem
fairen Verfahren, wie es in Art 6 EMRK gefordert wird oder das schon Aischyleische
Prinzip des audiatur
et altera pars; und für das Strafrecht die ebenfalls
auf griechische Wurzeln zurückgehende Regel des in dubio pro reo. | |
3.
Austeilende
und ausgleichende Gerechtigkeit | |
 | |
Die Rechtsphilosophie
unterscheidet seit Aristoteles (5. Buch der Nikomachischen Ethik)
zwei Arten der Gerechtigkeit: | Zwei Arten der
Gerechtigkeit |
•
die austeilende
Gerechtigkeit (iustitia distributiva), gewährt jedem, was ihm
zusteht; | | •
die ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa)
versucht, das Gleichgewicht rechtlich wieder herzustellen, wenn
es gestört wird. Sie verfolgt damit ein Ziel, das für jede Gesellschaft von
Bedeutung ist: Recht soll Gesellschaft möglich machen. – Wer andere
schädigt, muss dies wieder gutmachen; dh Schadenersatz leisten oder
Strafe hinnehmen. Wer sich ungerechtfertigt bereichert, hat das
dabei Erlangte herauszugeben. | |
Die ausgleichende
Gerechtigkeit – deren Göttin in der griechischen Mythologie
Nemesis, die Rache, war – wird im Strafrecht durch die Strafe charakterisiert,
im bürgerlichen Recht etwa durch das Schadenersatzrecht; die austeilende
Gerechtigkeit durch die berühmte Ulpian-Formel des „Suum cuique”. – Es stellt
einen unüberbietbaren Zynismus dar, dass die Nationalsozialisten
die Gerechtigkeitsformel Ulpians – „Jedem das Seine” – als Aufschrift über dem Eingang
des KZ-Buchenwald anbrachten. | Beispiele |
Kant (Rechtslehre, Methaphysik
der Sitten) ordnet die austeilende Gerechtigkeit dem öffentlichen Recht,
die wechselseitige / erwerbende oder ausgleichende dem Privatrecht
zu und zählt zu letzterer auch die beschützende Gerechtigkeit (iustitia tutatrix);
dies iSv Schutzgesetzen: vgl heute MRG, KSchG, WEG, Arbeitsrecht,
BTVG etc. – Dieser Ansatz erscheint aus heutiger Sicht nicht unwichtig. | iustitia
tutatrix |
IV.
Gerechtigkeit
als Tugend | |
| |
Die Gerechtigkeit (iustitia) bildet mit der Klugheit (prudentia), der Selbstbeherrschung / Mäßigkeit (temperantia) und der Tapferkeit/Seelengröße (fortitudo) die vier Kardinaltugenden, die
es für jedes Individuum – und wie Platon (von dem diese Überlegungen
stammen) in seiner „Politeia” klarstellt – aber auch für den Staat
zu erstreben gilt. (Die lateinischen Begriffe sollten nicht darüber
hinwegtäuschen, dass diese Lehre griechischen Ursprungs ist.) –
Gerechtigkeit ist danach das Ergebnis des Gelingens und Erreichens
der anderen, vorgelagerten Tugenden, was später immer wieder verzeichnet
wurde. | |
Die platonische Lehre von den Kardinaltugenden
wurde im Rahmen der griechischen Philosophieentwicklung vor allem
von der
Stoa aufgegriffen
und modifiziert. Eine Schrift des
Panaitios von Rhodos (~180-100 v. C.),
er bildet mit seinem berühmten Schüler Poseidonios die
mittlere Stoa (~150-0), diente
Cicero als Vorlage für dessen Schrift „De
officiis”/„Über die Pflichten”. Die politische Propaganda der Augustuszeit
übernimmt die Lehre der Kardinaltugenden ebenso wie später das Christentum
(Ambrosius, Augustinus, Thomas von Aquin). | |
Gerechtigkeit
ist also nach der ursprünglichen Lehre nicht nur ein individuell-persönlicher,
sondern auch ein kollektiv-staatlicher, also ein Gemeinschaftswert,
ohne den kein Gemeinwesen auf Dauer bestehen kann. Gerechtigkeit
ist zudem kein statischer Zustand, sondern kontinuierlich in Entwicklung
begriffen, kurz: dynamisch angelegt. – Das Recht ist dabei jenes
Mittel, das – einem Transmissionsriemen vergleichbar – die Strebungen
von kollektiven und individuellen Gerechtigkeitsbemühungen verbindet
und so – vor allen andern Mitteln – den Bestand des Staates und
das Wohl und Glück der Einzelnen (Eudaimonia) sichert. | Gerechtigkeit gilt für Staat und Individuum |
2. Gerechtigkeit
– keine Domäne des Rechtsdenkens | |
Dieser – hohe wie tiefe – Stellenwert der Gerechtigkeit
und damit des Rechts erklärt auch, warum sich nicht nur die Rechtswissenschaft
mit der Frage der Gerechtigkeit befasst, sondern auch zahlreiche
andere Disziplinen, allen voran die Philosophie. Das beginnt bei
Platon und seinen Schülern, insbesondere Aristoteles, und reicht
bis Rawls, Habermas, Walzer uam; vgl schon oben → Gerechtigkeit
und Gesellschaft – Die ‚Idee’ der Gerechtigkeit als ‚Rechtsidee’
– | |
Ein solches Verständnis der Gerechtigkeit macht
zudem klar, wie wichtig in einem Staate ein breiter politischer
und wissenschaftlicher Diskurs ist.
Persönlicher Ehrgeiz und politisch-ideologisches Machtstreben haben
aber noch nie ausgereicht, um einen Staat politisch glücklich zu führen.
Dabei wissen wir seit den alten Griechen wie wichtig es für politische
Fragen ist, sie „nach beiden Seiten zu diskutieren” (Cicero), um
dann sicher(er) entscheiden zu können. Noch viel wichtiger ist ein
solcher Diskurs aber dafür, dass er den Menschen eines Staates zeigt,
dass die handelnden Politiker bestrebt sind, das Beste für alle
– nicht nur für sich selbst (!), ihre Klientel und ihr politisches
Überleben – zu tun. Das setzt allerdings die Reife einer Regierung
und auch der Opposition voraus, zu zeigen, dass es ihnen nicht nur
darum geht, Recht zu behalten. Erst daraus vermag sich verbindende
Gemeinsamkeit und Wohlfahrt
zu entfalten. – Wie aber soll ein Staat seine Bürger und Bürgerinnen
dazu anhalten nach gesellschaftlicher Vollkommenheit zu streben und
sittliche Persönlichkeiten zu werden, wenn seine Repräsentanten
die dafür nötigen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften kaum vom
Hörensagen kennen? Ehrgeiz und Geltungssucht lassen aber auch Wissenschaftler
immer wieder vergessen, dass es nicht ihre Aufgabe sein kann, mit solcher
Politik zu kooperieren. Allein: Der Opportunismus ist meist stärker,
mag auch längst an die Stelle des Willens zu gesellschaftlicher
Reform, der zu narzistischer Zerstörung getreten sein. | Gerechtigkeit braucht politischen und wissenschaftlichen
Diskurs |
| Inhaltsverzeichnis | B.
Rechtswissenschaft
als Sozialwissenschaft? | |
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