Kapitel 16 | |
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A. Familienrecht |
C. Fortpflanzungsmedizin |
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I. Zur
Entwicklung der Familie | |
1. Familie – Grundlage
des Staates | |
Für den Staat und damit für
den Gesetzgeber war die Familie als Keimzelle der Gesellschaft stets von
Bedeutung und unmittelbarem Interesse. Verhaltensvorschriften über
Ehe und Familie sind älter als der Staat selbst. | |
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Die
mit dem Schlagwort des akzelerierten sozialen Wandels beschriebene
Entwicklung hat seit langem auch die Institution Familie erfasst.
Wie kaum in einem andern Bereich der Rechtsordnung wird hier die
Berücksichtigung von Erkenntnissen der Sozialwissenschaften durch
den Gesetzgeber erforderlich. Die Familiensoziologie vermag
dabei wichtige Hilfe zu leisten. | |
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3. Entwicklung
der Familie | |
Die Geburtsstunde der Familiensoziologie
fällt ins vorige Jahrhundert, dessen historische Entwicklung die
wissenschaftliche Untersuchung gesellschaftlicher Zusammenhänge
geradezu herausgefordert hat. Die einschneidenden wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Veränderungen beim Einsetzen der Industrialisierungswelle
(sog Industrielle Revolution) hatten die bisher funktionierende
Struktur der Familie in Frage gestellt. Die vorindustrielle Familie
im städtischen oder ländlichen Handwerks- und Gewerbebetrieb oder
auf dem Bauernhof war statisch orientiert. Ihre Stabilität und Unentbehrlichkeit
beruhte vornehmlich auf der ökonomischen Notwendigkeit der Zusammenarbeit
und der gegenseitigen Fürsorge und allseitigen Abhängigkeit der
Mitglieder des Familienverbandes. – Der Staat, in seiner damaligen
Form als „Nachtwächterstaat”, beschränkte sich im wesentlichen auf
die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung; staatliche sozialpolitische Aktivitäten
gab es kaum. | Von
der vor- zur
postindustriellen Familie |
Infolge von Industrialisierung und Frühkapitalismus kommt
es zur Auflösung der kleinbetrieblichen Arbeitsweise. Die Fabriken
in den Städten werden zur Arbeitsstätte. Die Trennung von Privatsphäre
und Berufswelt erfolgt zuerst in den Städten. Die Trennung von Wohnstätte
und Arbeitsplatz setzt ein, die Familie verliert ihre Stellung als
Produktions- und Versorgungseinheit und entwickelt sich zur Kleinfamilie,
die frühere Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. Katastrophale Folge
war die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten; Entstehung des
Proletariats. Erst dadurch wurde die Notwendigkeit staatlichen Eingreifens
in Form der beginnenden Sozialgesetzgebung erkannt. – Mit der zahlenmäßigen
Verringerung und materiellen Schwächung des Familienverbandes ging
auch ein Substanz-Funktionsverlust der Familie im
Bereich von Erziehung und Berufsausbildung vor sich. Dem (modernen)
Staat fielen deshalb immer weitere Aufgabenbereiche zu; Kindergarten,
Schule, Universität, Berufsausbildung, soziale Sicherheit: Kranken-, Unfall-,
Altersversicherung, Arbeitslosigkeit und jüngst das Pflegegeld etc.
– Heute ginge es darum, die Arbeitswelt nicht gegen die Interessen
der Familie (in einem modernen Verständnis) zu organisieren. | Was
lässt sich aus der Geschichte lernen? |
4. Familienbindung
und Familienzyklus | |
Auch die Intensität der Familienbindung,
also Art und Dauer der Eingliederung in die Familienorganisation
und der Einfluss der Familie auf die jüngere Generation zeigen eine
rückläufige Tendenz. Das Absenken der Altersgrenze der Großjährigkeit
– 25 Jahre: römisches Recht, 24: ABGB von 1811, 21 (1919) dann 19
(1973), heute 18 Jahre – entspricht diesem Vorgang, der auch im
sinkenden Alter bei Eheschließungen sichtbar wurde, wobei sich hier
heute wieder eine steigende Tendenz zeigt. Der eigentliche Familienzyklus dauert
heute durchschnittlich 20 Jahre; Tendenz steigend. | Absenken
der
Großjährigkeitsgrenze |
Parallel
mit dieser Entwicklung verläuft eine Veränderung der Verwandtschaftsbeziehungen,
die mit dem Abbau ihrer ökonomischen Bedeutung auch ihre tragende
Rolle in der Gesellschaft verlieren. | Veränderung der Verwandtschaftsbeziehungen |
Trotz dieses qualitativen und quantitativen Substanzverlustes
hat die Familie ihre zentrale gesellschaftliche Stellung behauptet,
ja die aufgabenmäßige Beschränkung auf rein interne Funktionen hat
zu einer Intensivierung des Familienlebens geführt. | |
Da in Österreich entsprechende Untersuchungen
fehlen, soll diese Tendenz an Hand einer älteren schwedischen Untersuchung
belegt werden: Eine Kommission zur Erstellung des Entwurfs zur Änderung
des Ehe- und Scheidungsrechts kam schon 1972 in ihrem Gutachten
zur Feststellung, „dass die Bedeutung der Familie als feste ökonomische
Einheit und Schutz für den einzelnen zurückgeht, während ihre Aufgabe,
dem einzelnen eine gefühlsmäßige Gemeinschaft zu bieten, angestiegen
ist. – Die Folge davon ist, dass ein Fehlen der Gefühlsbindungen
heute leichter zur Scheidung führt, während man sich früher oft
den ökonomischen Notwendigkeiten unterordnete.” | |
5. Familie und
Persönlichkeitsbildung | |
Diese
Verinnerlichung der Familie ist insofern von größter Bedeutung,
als sich in der Familie der Aufbau der sozial-kulturellen Persönlichkeit
vollzieht. In dieser Hinsicht sind auch Rollenverteilung und Autoritätsgestaltung
in der Familie zweifellos mehr als bloße Randprobleme. Eine weitere
Konsequenz sollte dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass nämlich
das „familiäre Ergebnis der Persönlichkeitsbildung” auch das spätere
politische Verhalten beeinflusst. Die Frage, die Max Horkheimer in
seinem Buch „Autorität und Familie „ (1936) gestellt
hat, inwiefern eine autoritäre Familienstruktur eine autoritäre
Staats- und Gesellschaftsstruktur bedinge, erscheint nicht nur für
die damalige Zeit treffend gestellt. – Soziale Anpassungsdefekte
führen demnach leicht auch zu politischen Fehlentwicklungen – politischem
und religiösem Extremismus, Kriminalität in allen Formen etc – und
müssen von Gesellschaften beachtet werden. Dem Recht kommt dabei
eine wichtige Aufgabe zu. | Familie,
Persönlichkeitsstruktur, politische Orientierung |
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Neueste anthropologische Forschungen zeigen,
dass Kinder, deren Wünsche / Grundbedürfnisse (nach Nahrung, Geborgenheit,
Liebe etc) möglichst umfassend erfüllt werden, „nicht etwa zu quengeligen,
verwöhnten Tyrannen, sondern zu früh autonomen, hilfsbereiten Kindern
[werden], die auch physisch beeindruckend gesund sind”: Die Zeit,
Nr 40, 25.9.1992, S. 39: D. K. Zimmer, Gute Bindungen machen selbständig. | |
Die Auseinandersetzung zwischen Erneuerern und Bewahrern
der Familienkonzeption erfolgt immer auch im Zuge einer Auseinandersetzung
mit der Gleichstellung von Mann und Frau. – Weiters ist zu beachten,
dass heute unter Familie nicht nur verheiratete Eltern mit ihrem/n
Kind/ern verstanden werden. | |
II. Die Familie
im Wandel des Lebenszyklus | |
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„Ein
weiteres wichtiges Thema in der Geschichte der Familie ist
der Wandel des Lebenszyklus. | Familie und Lebenszyklus |
Der Vergleich zwischen dem Lebenszyklus, der heute als ‚normal’
betrachtet wird, und dem des 19. Jahrhunderts ist geeignet, einen
weiteren Mythos zu revidieren, nämlich den Mythos, daß die Familie
heute zerbrechlicher ist als in der Vergangenheit. | |
In Wirklichkeit war es eine der großen Errungenschaften
des 20. Jahrhunderts, daß die Chancen, einen größeren Zeitraum
in einem stabilen Familienrahmen zu verbringen, beträchtlich gestiegen
sind. Die Möglichkeit für Großeltern und zum Teil sogar Urgroßeltern,
eine längere Zeitspanne gemeinsam mit ihren Enkelkindern zu leben, ist
eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. | |
Erst der Rückgang der Sterblichkeit seit
dem Beginn unseres Jahrhunderts hat fast allen Menschen im Westen
die Chancen gegeben, das Erwachsenenalter zu erreichen und den gesamten
Familienzyklus zu erleben. Es ist sehr unwahrscheinlich geworden,
daß Kinder ihre Geschwister oder ihre Eltern schon in der Kindheit
verlieren. Das heißt, daß Kinder gemeinsam mit ihren Geschwistern
aufwachsen, daß ihre Eltern am Leben sind und daß sie sogar als
Erwachsene noch Großeltern oder sogar Urgroßeltern haben. | |
Was in unserem Jahrhundert als ’normaler’
Lebenszyklus einer Frau erwartet wurde, daß heißt zu heiraten,
mit einem Ehemann zusammen Kinder zu erziehen und mit ihm gemeinsam
zu erleben, daß die Kinder den Haushalt verließen, haben im 19.
Jahrhundert nur 40 Prozent der amerikanischen Frauen erlebt. Von
den anderen 60 Prozent hat ein Teil das übliche Heiratsalter gar
nicht erreicht, ein Teil ist zeitlebens ledig geblieben und ein
Teil der Verheirateten hat den Ehegatten verloren oder ist selbst
gestorben, während die Kinder noch klein waren. | |
Erstmals hat die große Mehrheit
der Bevölkerung die Chance, den gesamten Familienzyklus zu durchlaufen. Trotzdem
wird diese Chance aber nicht von allen genützt. Der Familienzyklus
wird zunehmend durch Scheidung unterbrochen. Zum Beispiel wurde
in den letzten 20 Jahren in den Vereinigten Staaten ein ebenso hoher
Anteil von Familien durch Scheidung getrennt wie im 17. Jahrhundert
durch den Tod. [ ...] | |
Die Geburtenkontrolle hat
die Zahl der Geschwister und den Altersabstand zwischen den Geschwistern
drastisch reduziert. Die Möglichkeit, von älteren Geschwistern zu
lernen, ist dadurch stark begrenzt. In der Vergangenheit haben ältere
Geschwister oft die Rolle von Ersatzeltern gespielt. Kinder konnten
verschiedene Familienrollen von den Geschwistern
lernen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das nicht mehr möglich. | Geburtenkontrolle, Geschwisterbeziehungen etc |
Eine weitere Veränderung, die von großer
Bedeutung für die Beziehung zwischen den Generationen ist, ist das sogenannte ’leere
Nest’, also die Lebensphase, die ein Ehepaar nach dem Ausscheiden
seiner Kinder verbringt. Vor dem 20. Jahrhundert war diese Lebensphase
nahezu unbekannt. Die Menschen haben spät geheiratet und ihre ersten Kinder
bekommen, sie hatten mehrere Kinder, und sie sind auch früher gestorben.
Sogar wenn das jüngste Kind alt genug war, um das Elternhaus zu
verlassen, ist es häufig geblieben, um die Eltern zu versorgen.
Im Gegensatz dazu ist im Laufe unseres Jahrhunderts das Heiratsalter
und damit das Alter bei der Geburt des ersten Kindes gesunken, die
Zahl der Kinder ist stark zurückgegangen, und das letzte Kind verlässt
das Elternhaus schon in der mittleren Lebensphase der Eltern. Das
hat zur Konsequenz, daß ein durchschnittliches Ehepaar das letzte
Drittel seines Lebens im ‚leeren Nest’ verbringt. | |
In
den achtziger Jahren hat sich in den Vereinigten Staaten diese Entwicklung
aber zum Teil wieder umgekehrt. Viele junge Erwachsene bleiben
länger im Elternhaus oder kehren in dieses wieder zurück,
weil ihnen der Arbeitsmarkt oder Wohnungsmarkt geringere Chancen
zur Selbständigkeit bietet. Wie im 19. Jahrhundert leben nun Kinder
wieder länger mit ihren Eltern zusammen, aber aus völlig entgegengesetzten
Motiven: Im 19. Jahrhundert taten sie es, um ihre Eltern zu unterstützen,
heute tun sie es, um selbst Hilfe zu erhalten. | Trendumkehr |
Dieses
letzte Phänomen reicht aber nicht aus, um eine weitere Konsequenz
des Wandels des Familienzyklus zu verhindern, nämlich die Isolation
der alten Menschen. Dies ist eines der Hauptprobleme unserer
Zeit, das große Aufmerksamkeit von uns verlangt und das sich in
der Zukunft weiter verschärfen wird. Die Isolierung der älteren Menschen
ist das Resultat der gestiegenen Lebenserwartung, der geographischen
Mobilität, der abnehmenden Zahl von Verwandten und der Zunahme des
Individualismus. | Problem Alter |
Wie
wir aus der historischen Forschung wissen, hat es in der Vergangenheit
nie ein ‚Goldenes Zeitalter’ der Generationenbeziehungen gegeben.
Auch wenn, wie ich vorhin erwähnt habe, ein Kind häufig bei den
Eltern geblieben ist, so lebten doch Eltern idR nicht mit ihren
verheirateten Kindern im selben Haushalt. Im Ausgedinge, das
unter österreichischen Bauern stark verbreitet war, wurde der Austausch
des Erbes gegen die Altersversorgung in einem Kontrakt zwischen
den Generationen strikt geregelt. Diese Regelungen waren auch in
anderen Ländern verbreitet: Sie beweisen, daß man sich nicht auf
Liebe allein verlassen wollte. In den Städten war es den meisten alten
Menschen möglich, ihren selbständigen Haushalt weiterzuführen, indem
sie Kost- und Schlafgänger aufnahmen, oder auch mit Hilfe der Unterstützung
von Kindern und anderen Verwandten, die in der Nähe lebten. | Generationenbeziehungen |
Auch
heute leben in den Vereinigten Staaten und Westeuropa die meisten
älteren Menschen getrennt von ihren Kindern. Zugleich leben sie
aber doch so nahe von ihnen, daß man – wie dies Professor Leopold
Rosenmayr ausgedrückt hat – von „Intimität auf Abstand“ sprechen
kann. Auch in den großen japanischen Städten hat sich in der letzten
Zeit das getrennte Wohnen von Eltern und verheirateten Kindern entwickelt.
Aber „Intimität auf Abstand” wird in Japan so definiert, daß Kinder
nahe genug bei den Eltern wohnen, um ihnen eine Schüssel Suppe bringen
zu können, ohne daß diese auskühlt. | Familie auf Abstand |
Auch kleine Distanzen werden allerdings
problematisch, wenn eine ältere Person chronisch krank oder geistig verwirrt
wird. Unter diesen Bedingungen ist es in den Vereinigten Staaten
bis heut üblich geblieben, daß ein erwachsenes Kind, gewöhnlich
die Tochter, Vater oder Mutter in ihren Haushalt aufnimmt. Sogar
heute findet man nur vier Prozent der alten Menschen in Alten- und
Pflegeheimen. [ ...] | |
Die gegenwärtigen Probleme der
Familie beruhen auf den Spannungen zwischen alten Idealen
und neuen sozialen Anforderungen. Die Familie war immer
eine veränderliche und flexible Institution. Schon allein die Definition
dessen, was eine Familie ist, unterscheidet sich in verschiedenen
Gesellschaften. Eine der wichtigen positiven Änderungen in den letzten
Jahren war die zunehmende Akzeptanz einer Pluralität von Familienformen
und Familienbeziehungen. Diese Akzeptanz muß weiter zunehmen. | Alte Ideale <-> neue
soziale Anforderungen |
Eine weitere Spannung besteht zwischen
den Institutionen der modernen Gesellschaft und der Familie. Die
Institutionen haben sich nicht schnell genug an den Wandel der Familienstrukturen
und des Lebenszyklus angepasst. | |
Zum Beispiel: Die Erwerbstätigkeit von
Müttern steigt ständig an, aber die Einrichtungen zur Betreuung
von Kindern bleiben hinter den steigenden Bedürfnissen zurück. Ähnliches
trifft auf die alten Menschen zu: Der Bedarf an Betreuungseinrichtungen
für sehr alte Menschen wächst rasch an, ohne daß er von öffentlichen
Institutionen ausreichend erfüllt würde. | |
Jetzt ist es an der Zeit, die Vielfalt
der gegenwärtigen Strukturen und Formen der Familie anzuerkennen.
Es ist ebenfalls an der Zeit, die gesellschaftlichen Leitbilder
und Institutionen den Realitäten der Familie und ihren Bedürfnissen
anzupassen.” – Hareven, Formen, Funktionen und Werte aaO 28 ff. | |
„Die
Ehe oder die eheähnliche Partnerschaft als ein Projekt auf Zeit
ist ein historisch völlig neues Phänomen. Bezeichnungen wie ’Lebensabschnittspartner’ signalisieren,
daß sich gesellschaftlich Neues bereits begrifflich verfestigt.
Beim Eingehen einer Ehe bzw Partnerschaft wird die Scheidung bzw
Trennung ganz anders einkalkuliert als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Das Auseinander-Gehen ist nicht die exzeptionelle Katastrophe –
eher ein Ereignis, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintritt
und auf das man sich für den Eventualfall von vornherein vorbereitet,
etwa im Ehevertrag oder durch abteilbare Wohnungen. Im Hinblick
auf die Entwicklung der Scheidungszahlen ist das eine durchaus realistische
Sicht. Lebenslängliche Partnerschaft ist heute um vieles weniger wahrscheinlich
als vor dreißig oder vierzig Jahren. Beschleunigung des gesellschaftlichen
Wandels ist sicher eine der Ursachen dafür. Akzelerierter gesellschaftlicher
Wandel macht ständige Weiterentwicklung möglich – wie im Arbeitsleben
so auch im persönlichen Bereich von Einstellungen, Werthaltungen
und Denkweisen. In einer Gesellschaft mit solchen Anforderungen
ist es für Partner nicht einfach, Entwicklungsprozesse synchron
zu gestalten. Ehepaare in historischen Gesellschaften mit geringerem
Tempo der Veränderung und einer relativ statischen Umwelt waren
solchen Herausforderungen viel weniger ausgesetzt. | Lebensabschnittspartner |
Mit
zunehmender Scheidungshäufigkeit nimmt auch die
Häufigkeit von Wiederverehelichungen bzw neuen Partnerschaften in
einem nie dagewesenen Ausmaß zu. Wiederverehelichung nach
Scheidung ist etwas ganz anderes als die in historischen Zeiten
so weit verbreitete Wiederverehelichung nach Verwitwung. Bei Zweitheiraten von
Witwen und Witwern ging es ja nicht um einen Neuanfang nach einer
gescheiterten Beziehung und der durch diesen Bruch bedingten Diskontinuitäten.
Auch aus der Perspektive der Kinder wird der Unterschied deutlich.
Das Problem, neben der Beziehung zu einem aus dem Haushalt ausgeschiedenen
Elternteil eine neue zu einem neueintretenden aufbauen zu müssen,
stellt sich bei Waisen durch Verwitwung nicht. Bei Wiederverehelichung
nach Scheidung lebt die in Konflikt auseinandergegangene Beziehung
vermittelt über die Kinder fort. Für Kinder bedeutet Scheidung vielfach,
daß ein von ihnen als Beziehung auf Dauer gewünschtes Verhältnis
zu einem Elternteil gegen ihren Willen zu einer Beziehung auf Zeit
wird. Insgesamt hat Scheidung auch für Angehörige eine zeitliche Begrenzung
von Familienbeziehungen zur Folge. Traditionell hatte durch Heirat
vermittelte Verwandtschaft im europäischen Verwandtschaftssystem
einen hohen Stellenwert und wurde – wie etwa die Verwandtschaftsterminologie
zeigt – der Blutsverwandtschaft gleichgestellt. Ehe bzw eheähnliche
Partnerschaft als Projekt auf Zeit relativiert damit weit über das
betroffene Paar hinaus soziale Beziehungen in Familie und Verwandtschaft.
Es ist abzusehen, daß sich dies auf die allgemeine Tendenz
des Bedeutungsverlusts von Verwandtschaft in neuerer Zeit verstärkend
auswirken wird. | Mehr Scheidungen und Wiederverehelichungen |
Durch
akzelerierten gesellschaftlichen Wandel ändern sich nicht nur Partner-,
sondern auch Generationenbeziehungen. Der Konfliktfall führt hier
allerdings nicht zur Scheidung als institutionalisierter Form des
Bruchs, höchstens zu einem vorgezogenen Ausscheiden aus der Haushaltsgemeinschaft,
das in einer neolokalen Gesellschaft im Verlauf der Jugendphase
ohnehin erfolgen soll. Das Potential für Spannungen und Konflikte
zwischen den Generationen hat durch die Beschleunigung des gesellschaftlichen
Wandels stark zugenommen. Noch nie zuvor in der Weltgeschichte haben
in ihren Einstellungen und Werthaltungen so unterschiedlich geprägte
Generationen zusammengelebt wie heute. Und noch nie zuvor haben
so viele so unterschiedlich geprägte Generationen gleichzeitig gelebt.
Daß ein altes Paar nicht nur die erwachsenen Enkel sondern auch
noch heranwachsende Urenkel erlebt, ist heute keine Seltenheit mehr.
Vor wenigen Jahrzehnten war es noch eine Ausnahme. Die steigende
Lebenserwartung hat zu einer Vertikalisierung der Familie geführt,
im Englischen mit der Metapher der ‚bean-pole-family’ bedacht. Das
Paradoxe der Situation ist, daß diese immer älter werdenden Alten
immer stärker abweichend geprägte Nachkommen erleben. Wo nicht Haushaltsgemeinschaft
besteht, reduziert sich die Problematik auf Kontakte bei Familientreffen.
Sie hat damit nicht die gleiche Bedeutsamkeit wie im Zusammenleben
zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern. Sie schafft aber doch
auch Betroffenheit, wo alte Menschen gegenüber ihren Nachkommen
in ähnlicher Weise Kontinuität in Weltanschauungen und Verhaltensweisen
erwarten, wie sie sie gegenüber den eigenen Vorfahren erlebt haben.
[ ...] | |
Traditionelle
Muster der zeitlichen Abfolge von Lebenszyklusphasen verlieren ihre
Geltung. Das kann so weit gehen, daß die verlängerte Jugendphase
ihren Charakter als Übergangsstadium verliert und auf Dauer die
Lebensweise bestimmt. ’Single’-Dasein als eine
historisch völlig neuartige Lebensform lässt sich im wesentlichen
als eine solche Prolongierung der Jugendphase begreifen. Ein ‚Single’
verzichtet auf eine eigene Familiengründung. Das schwierige Problem
der Synchronisation und inneren Abstimmung des Lebenskonzepts mit
einem Partner stellt sich ihm nicht mehr.” [ ...] | Singles |
Der
„Tod der Familie” – von Kulturpessimisten prophezeit, von radikalen
Gesellschaftsreformern zum Programm erhoben – ist aus historischer
Sicht eine völlig unrealistische Perspektive. Auch bei noch tiefergreifenden
Veränderungen, als sie die letzten Jahrzehnte gebracht haben, wird
es sicher nur zu einer Umformung, nicht zu einem Verlust familialer
Beziehungen kommen. Nur das Ausmaß und die Art der Umgestaltung
kann zur Debatte stehen. | Tod der Familie? |
versus
FamilienbindungAls ein gemeinsamer Trend der Veränderung von Beziehungen,
der sich auf dem Hintergrund der hier besprochenen Dimensionen Raum,
Zeit und Kommunikation ergibt, hat sich die Tendenz einer zunehmenden
Individualisierung bzw Singularisierung in der Familie gezeigt.
Sie begegnet bei der Entwicklung zu Individualräumen und zu individualisierten
Lebensläufen, deren Phasenablauf schwierig zu synchronisierten ist,
genauso wie in den Auswirkungen der Massenmedien. Wenn der Prozeß
der Entgrenzung, der Beschleunigung, des zunehmenden Medieneinflusses und
damit der Rückgang von Kopräsenz, Kontinuität und direkter Kommunikation
in der Familie weitergeht, so ist mit einer Verstärkung dieses Trends
zu rechnen. Die Spannung zwischen Individualisierung und Familienbindung zu
bewältigen erscheint als eines der Hauptprobleme zukünftiger Familienentwicklung.”
– Mitterauer, Räume – Zeiten – Kommunikation, aaO 60 ff. | Individualisierung |
 | Abbildung 16.9: Präsentation Durchschnittlicher
Zeitaufwand (in Stunden) von in Partnerschaft lebenden Personen
mit Kindern für Erwerbs-, Haus und Familienarbeit 1992 |
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A. Familienrecht |
C. Fortpflanzungsmedizin |
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