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Die gesprengten Fesseln des Todes
(Wie wir durch das Kreuz erlöst sind)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:"Durch sein Blut haben wir die Erlösung" (Eph 1,7). - Worin besteht diese Erlösung und wie zeigt sie sich in unserem Leben? Was hat Erlösung mit dem Kreuz und einem blutigen Tod zu tun? Und was haben wir davon, dass Jesus für uns gestorben ist? Bei alldem geht es nicht nur um theologische Fragen, sondern um Lebenswissen. Das Buch thematisiert "Fesseln des Todes" mitten in unserem Leben und zeigt, wie Christus uns durch seinen Kreuzestod einen Schlüssel bereitgestellt hat, mit dem wir diesen tödlichen Verstrickungen entkommen können.
Publiziert in:Willibald Sandler, Die gesprengten Fesseln des Todes. Wie wir durch das Kreuz erlöst sind. Kevelaer: Topos Taschenbücher Nr. 701, 2011.
Datum:2011-02-15

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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DIESER TEXT IST ALS BUCH IM BUCHHANDEL ERHÄLTLICH!

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(>> Bestellung)

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um 9,90 Eur[D]; 10,20 [Ö]
(Topos plus) ISBN: 978-3-8367-0701-5
Paperback, 192 S.

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„Sie, die saßen in Dunkel und Finsternis,
gefangen in Elend und Eisen,
die den Worten Gottes getrotzt
und verachtet hatten den Ratschluss des Höchsten,
deren Herz er durch Mühsal beugte,
die stürzten und denen niemand beistand,
die dann in ihrer Bedrängnis schrien zum Herrn,
die er ihren Ängsten entriss,
die er herausführte aus Dunkel und Finsternis
und deren Fesseln er zerbrach:
sie alle sollen dem Herrn danken für seine Huld,
für sein wunderbares Tun an den Menschen,
weil er die ehernen Tore zerbrochen,
die eisernen Riegel zerschlagen hat.“
(Ps 107,10–16)

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„Dies ist die selige Nacht,
in der Christus die Ketten des Todes zerbrach
und aus der Tiefe als Sieger emporstieg.
Wahrhaftig, umsonst wären wir geboren,
hätte uns nicht der Erlöser gerettet.“
(Aus dem Exsultet der katholischen Osternachtsliturgie)

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„You broke the bonds
And you loosened the chains
Carried the cross of all my shame
All my shame, you know I believe it.“
(Aus dem Song „I Still Haven´t Found What I´m Looking For“ der irischen Rockband U2)

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Vorwort

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Das Christentum ist eine Erlösungsreligion, und zwar nicht nur einer zukünftigen, sondern einer im Wesentlichen bereits geschehenen Erlösung. „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich. Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“ So lautet der Kehrvers in katholischen Kreuzwegandachten.1 Diese Aussage berührt das Herzzentrum des christlichen Glaubens, und damit stößt sie heute auf ein gleich mehrfaches Unverständnis.

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Zunächst: Was ist überhaupt Erlösung? In einer ersten Näherung können wir Erlösung als ein gottgewirktes Geschehen verstehen, welches uns von einem Zustand der Heillosigkeit in einen „heilvollen“ Zustand versetzt. „Heil“ bedeutet dabei eine glückende Beziehung des Menschen zu Gott, zu seinen Mitmenschen, zur Welt und zu sich selbst. Mit diesem Verständnis von Heil und Erlösung besagt der christliche Erlösungsglaube,

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  • dass wir Menschen uns in einem relativ heillosen Zustand befinden und deshalb erlösungsbedürftig sind;
  • dass unsere Erlösung aus diesem heillosen Zustand durch Jesus Christus bewirkt wird: „Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“;
  • dass für diese Erlösung der Tod Jesu am Kreuz eine Schlüsselrolle spielt: „Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“;
  • dass diese Erlösung alle Menschen betrifft: „Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“;
  • dass diese Erlösung durch das Christusereignis im Wesentlichen bereits vollzogen ist: „Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“.
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Diese Aussagen werden im vorliegenden Buch erklärt (vgl. 9. Kapitel). Erlösung geschieht nicht nur durch das Kreuz, aber das Kreuz hat eine Schlüsselrolle für christlich verstandene Erlösung. Es ermöglicht uns, auch die Abgründe des Menschlichen nüchtern wahrzunehmen, ohne die Hoffnung zu verlieren.

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Um zu begreifen, wie wir durch das Kreuz erlöst sind, werden wir uns eingehend mit dem Christusereignis auseinandersetzen, wie es uns in den biblischen Schriften der Evangelien begegnet. Danach kam es zum Kreuzestod Jesu aufgrund einer Folge von dramatischen Konfrontationen der Menschen mit Jesus Christus in seinen Worten und Taten. Dies wiederum steht im Gesamtzusammenhang einer Heilsgeschichte göttlichen Handelns, wie es von der Bibel des Alten und Neuen Testaments entfaltet wird. Nur von diesem weiten Zusammenhang her lässt sich Erlösung verstehen.

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Die durchgängig leitenden Fragen werden sein: Was passiert mit Menschen, wenn sie Jesus begegnen? Was geht ihnen von Gott auf? Welche Erfahrungen von Gnade machen sie? Wie verhalten sie sich, wenn diese Erfahrungen die Grundlagen ihres bisherigen Lebens erschüttern? Und wie geht Jesus damit um, wenn seine Heilsangebote zurückgewiesen werden? Dadurch wird sich uns ein Prozess von Erlösung erschließen, der nicht nur für das Jenseits verheißen ist, sondern bereits hier konkret erfahrbar wird, – und zwar nicht nur für einige Menschen in Israel vor zweitausend Jahren, sondern auch für uns heute.

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Dieses Buch ist aus der Perspektive eines Theologen und entschiedenen Christen geschrieben, für den das Wort Erlösung nicht bloß eine theoretische Herausforderung ist, sondern mindestens so sehr eine Herausforderung für das Leben. Es geht darum, aus dem gelebten Glauben heraus die biblischen Quellen des christlichen Glaubens tiefer zu verstehen und daraus für das konkrete eigene Leben die Konsequenzen zu ziehen. Aus einer derart vertieften christlichen Praxis können die biblischen Quellen nochmals besser verstanden werden.

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Das heißt aber nicht, dass dieses Buch nur für praktizierende Christen geschrieben und nachvollziehbar ist. Wenn ich zum Beispiel den Buddhismus wirklich kennen lernen wollte, dann würde ich nach einem Autor suchen, der theoretisches Verstehen mit gelebter Erfahrung verbindet. Ich würde mir von seinem Buch erwarten, dass es den für mich fremden Heilsweg auf nachvollziehbare Weise beschreibt, auch ohne dass ich ihn in eigener Erfahrung durchschritten habe. Und ich würde eine entschiedene, kompromisslose Darstellung bevorzugen gegenüber einer oberflächlichen Zusammenschau, die sich auf das Gemeinsame mit anderen Religionen und Weltanschauungen konzentriert und die Unterschiede verwischt. Auf diese Weise könnte ich die wirklichen Herausforderungen des mir fremden Heilswegs besser erkennen. Und möglicherweise könnte ich gerade so auf tiefere Entsprechungen zu anderen Religionen stoßen.2

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Und wenn nun jemand das Christentum wirklich kennen lernen wollte? An welchen Autor, der Lehre und Leben miteinander verbindet, sollte er sich halten? Ohne selber geschrieben zu haben, hat Jesus von Nazaret Lehre und Leben bis zum Zusammenfall miteinander verbunden. Worin Erlösung besteht und wie sie geschieht, lässt sich am besten von biblischen Autoren lernen, die Jesus begegneten, seinen Heiligen Geist erfuhren und in Lehre und Leben davon Zeugnis gaben. So ist das Buch, an das man sich am besten hält, um christliche Erlösung unverkürzt und unverwässert kennen zu lernen, die Heilige Schrift. In den Dienst ihres tieferen Verstehens stellt sich der vorliegende Band. Er arbeitet also vor allem mit Bibeltexten. Diese Texte werden nicht isoliert als bloße Lehren verstanden, sondern als Zeugnisse von Menschen, die sich durch die Begegnung mit Jesus von Nazaret herausfordern ließen. Als solche sind diese Texte zugleich Herausforderungen für uns Bibelleser. Sie ziehen uns in dramatische Gottesbegegnungen hinein, die unser Leben verändern. Es gibt keine neutrale Zuschauerperspektive und keine Schiedsrichterposition. Wir sind selbst Teil des Spiels, das wir beschreiben. Das gilt nicht nur für mich als Autor, sondern auch für Sie als Leserinnen3. Die Methode der hier vollzogenen Bibelarbeit kann deshalb als dramatisch bezeichnet werden:4 Sie folgt der dramatischen Konfrontation zwischen Gottes Offenbarung und menschlicher Antwort darauf, – am Schnittpunkt von Lehre und Leben. Was sich daraus ergibt: überraschend neue Perspektiven auf allzu vertraute Bibeltexte und eine schrittweise Verwandlung gewohnter Vorstellungen von Mensch und Gott, von Heil und Sünde, von Himmel, Hölle und Fegfeuer, – und natürlich: von Erlösung.

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Die Krise des traditionellen christlichen Erlösungsverständnisses – Stichwort: Satisfaktionslehre – ist ein wichtiges Thema im vorliegenden Buch, aber es geht nicht von dieser Problematik aus. Wir werden uns der Schwierigkeit eines heutigen Verstehens von Erlösung auf einem anderen, ungewohnteren Weg nähern: nämlich durch einen Einblick in die Krise der „großen christlichen Erzählung“ von Schöpfung, Sünde und Erlösung, vor allem an ihren Übergängen Sündenfall und Taufe. Darum geht es im ersten Kapitel. Es lokalisiert die Erlösungsfrage in einem weiten heilsgeschichtlichen Zusammenhang und ist deshalb etwas komplizierter. Man kann es auch überspringen und mit der konkreten Arbeit an biblischen Texten ab dem zweiten Kapitel beginnen. Von dort weg lassen wir uns von den Begegnungen mit Jesus von Nazaret leiten, wie sie die Evangelien bezeugen: über die Stationen Gottesreichbotschaft, richtende Konfrontation, Passion und Kreuz. So legen wir die Grundlagen für das zentrale sechste Kapitel: „Für uns hingegeben“ – Wie wir durch das Kreuz erlöst sind. Die dort vorgelegte Erklärung von Erlösung wird im siebten Kapitel anhand verschiedener biblischer Bilder von Erlösung bewährt und vertieft. Hier wird gezeigt, welche Bedeutung und welche Lebensrelevanz es hat, dass wir durch Christi Blut reingewaschen sind, und dass Jesus durch sein Selbstopfer am Kreuz unsere Sünden gesühnt hat. Erst nach dieser Erschließung des positiven Sinns von Erlösung lassen wir uns auf eine kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Erlösungsvorstellungen ein. Abschließend werde ich die vier eingangs gestellten Fragen beantworten, die der Kreuzwegtext aufwirft: wodurch, wann, durch wen und für wen Erlösung geschieht: „Durch sein heiliges Kreuz– hat– Jesus Christus– die Welt erlöst“.

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1. Ist unsere Welt erlösungsbedürftig – und erlösbar?

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Der christliche Erlösungsglaube macht nur Sinn unter den beiden Voraussetzungen, dass unsere Welt Erlösung braucht und dass sie erlösbar ist. Das Erste, die Erlösungsbedürftigkeit unserer Welt, scheint angesichts überhandnehmender globaler Katastrophen auf weitgehende Zustimmung zu stoßen. Haben wir nicht deutlich genug erfahren, dass wir die Welt nicht selbst retten können? Allzu oft haben unsere diesbezüglichen Anstrengungen uns nur noch tiefer in Schwierigkeiten hineingeritten. Fortgesetzte Miseren in Weltfinanz, Friedenspolitik, Ökologie, Armutsbekämpfung und vielen anderen Bereichen legen den Ausruf nahe: „Nur ein Gott kann uns noch retten!“ Aber ist das mehr als Resignation? Wer erwartet denn wirklich, dass die Welt von Gott her erlösbar ist? Es gibt einen Pessimismus, der ein christliches Erlösungsverständnis ebenso blockiert wie ein Fortschritts-optimismus, der meint, die Menschen könnten alles aus eigener Kraft bewirken. Wer annimmt, dass die Menschheit von Grund auf verdorben, egoistisch und potenziell gewalttätig ist, für den könnte diese Welt nur zerstört und durch eine bessere ersetzt, nicht aber erlöst werden. Erlösung besagt die Rettung und Freisetzung einer anfänglich und im Grunde guten Schöpfung: Auch wenn sie in eine abgründige Entfremdung und Gefangenschaft geraten ist, hat sie ihre Gutheit doch nicht vollständig verloren. Nur unter diesen Voraussetzungen ist überhaupt noch etwas da, was gerettet und erlöst werden kann.

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Damit wir uns Erlösung vorstellen können, ist also zweierlei vorauszusetzen:

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1. die nüchterne Wahrnehmung, dass unsere Welt und wir Menschen verdorben und deshalb erlösungsbedürftig sind;

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2. ein unerschütterlicher Glaube, dass Welt und Menschen unter all ihrer Verdorbenheit, Hässlichkeit und Bosheit etwas Gutes und Schönes verbergen. Davon her und darauf hin sind wir erlösbar.5

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Wir können uns das am Gleichnis vom verlorenen Sohn verdeutlichen. Zutiefst verdorben und schmutzig kehrt dieser zu seinem Vater zurück. „Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lk 15,20). Der Vater tut nicht einfach nur so, als wäre sein Sohn liebenswert. Sein liebender Blick durchdringt die dicke Schicht von Hässlichkeit und Verdorbenheit und legt im verlorenen Sohn einen verschütteten Grundbestand von Gutheit und Schönheit frei. Diese entdeckende Freilegung ist zugleich eine – die Wirklichkeit verändernde – Freisetzung. Der Sohn wird durch den liebenden Blick des Vaters real verändert und so bereits anfänglich erlöst. Diese erlösende Veränderung von Wirklichkeit wirkt sich in unserer Welt weiter aus, indem wir – wie der verlorene Sohn und hoffentlich sein älterer Bruder – uns von Gottes liebendem Blick anstecken lassen: in einem Akt, der wesentlich Glaube ist. Von diesem unerschütterlichen Glauben habe ich im zweiten Punkt gesprochen. Er unterscheidet sich wesentlich von der gnostischen6 Überzeugung, dass wir im Grunde immer schon gut sind, und dass alles automatisch gut wird, wenn wir das erst erkannt haben. Der Unterschied besteht darin, dass wir – ebenso wie der barmherzige Vater im Gleichnis – nicht die Augen verschließen müssen vor unserer faktischen Unerlöstheit. Die liebende Wahrnehmung des Guten am Grund der Schöpfung ersetzt nicht den Einsatz zu ihrer Rettung, sondern setzt ihn frei.

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Eine Erlösungsreligion setzt die Wahrnehmung sowohl von fundamental Gutem als auch von Bösem in der Welt voraus: Erlösung besteht in der Freisetzung des Guten durch Überwindung des Bösen. Diese Sichtweise ist verschiedenen Erlösungsreligionen gemeinsam, die es bereits in der Antike gegeben hat.7 Auf dieser gemeinsamen Grundlage kann Erlösung sehr verschieden verstanden werden.

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In einfacher und brandgefährlicher Weise folgen manche Erlösungsreligionen einem dualistischen Schema, wonach Gutes und Böses mehr oder weniger säuberlich geschieden oder unterscheidbar sind: in verschiedene Reiche der vorfindlichen Welt oder auch in verschiedene Ebenen des Menschlichen, zum Beispiel eine wesentlich gute Geistseele und eine wesenhaft schlechte Körperlichkeit.

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Im Unterschied dazu nimmt christliches – ebenso wie jüdisches8 – Erlösungsverständnis eine ursprüngliche Gutheit von allem Geschaffenen an: eine Schöpfung, die von einem guten und allmächtigen Gott ohne Einschränkungen gut geschaffen wurde. Und das Christentum kennt eine Verderbnis, welche sich über die Gesamtheit von allem Geschaffenen ausbreitet und die Menschen in allen Dimensionen ihres Wesens – Körper, Seele und Geist – heimsucht: Sündenfall. Unter dieser doppelten Voraussetzung von Schöpfung und Sündenfall kann Erlösung nicht durch äußeren Kampf geschehen, in einem primitiven Streben nach Vernichtung des identifizierten Bösen, sondern nur durch einen anspruchsvollen Prozess hindurch, der innere Scheidung, Reinigung und Umkehr beinhaltet.9

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Dieser erlösende Prozess muss einerseits von den Menschen selbst durchlaufen werden. Das ist notwendig im Sinne der Freiheit, mit welcher Gott die Menschen von Schöpfung an ausgestattet hat. Diese geschöpfliche Freiheit ist durch den Sündenfall gebrochen: Die Menschen können von sich her (in vielem) das Gute nicht tun, selbst wenn sie es wollten (Röm 7,21). Erlösung bedeutet Befreiung der Menschen zur Freiheit (Gal 5,1), und nicht Befreiung von ihrer (sündig beeinträchtigten) Freiheit. Wenn der erlöste Mensch nicht hinter die Würde freier Geschöpfe zurückfallen soll, dann muss der Mensch den Prozess seiner Erlösung selber vollziehen. Er muss das tun und er muss das auch können.

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Aber genau das – nämlich das Gute zu tun, um so seine Erlösung zu wirken – kann der sündig gebrochene Mensch nicht aus sich selber. Das ist nur möglich durch Gottes Gnade10, die den Menschen befähigt, das Gute zu wollen und auch zu tun. Diese Gnade ist dem Menschen von Schöpfung an – in innerster Verbindung mit seiner Freiheit – geschenkt. Der Sündenfall besteht nun wesentlich darin, dass der Mensch Gottes Gnade zurückweist, um ohne Gott-Bezogenheit selber zu verwirklichen, was ihm selber als gut erscheint.11 Diesen Missbrauch von Freiheit hat Gott zugelassen. Es gehört wesentlich zur geschöpflichen Freiheit, dass Gott sich dem Menschen mit seiner Gnade nicht aufzwingt. Wenn der Mensch Gott zurückweist, dann respektiert Gott das.

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Darin besteht nun die Schwierigkeit von Erlösung: Es genügt nicht, dass Gott dem Menschen seine Gnadenhilfe anbietet, damit er das Gute, das sein Heil und seine Erlösung bedeutet, selber tun kann. Gott muss ihm auch ermöglichen, dieses Angebot anzunehmen. Das heißt, Gott muss dem Menschen aus seiner sündigen Entschiedenheit heraushelfen, sich nicht von Gott helfen lassen zu wollen.

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Um diese „Hilfe zur Annahme von Hilfe“ hat im Markusevangelium der Vater eines stummen Epileptikers gebeten: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,24). Aber auch das ist bereits ein Glaube12. Der Mann äußert eine wenigstens minimale Bereitschaft, sich von Gott helfen zu lassen. Wenn eine solche Bereitschaft und ein solches Gottvertrauen auch in ihren geringsten Ansätzen sündig gebrochen ist, sodass der Mensch in der Haltung eines störrischen Nein jeder göttlichen Hilfe gegenüber verharrt; und wenn in solcher Entfremdung und Totalverweigerung Gott gegenüber das eigentliche Wesen von sündiger Verstrickung besteht: Wie soll Gott dem Menschen dann noch helfen können? Wie soll er ihn dazu erlösen können, dass er selbst seine Erlösung vollzieht?

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Damit haben wir eine erste Idee davon bekommen, wie verschlungen die Knoten von Erlösungsbedürftigkeit und Erlösbarkeit angesichts einer sündigen Selbstverstrickung des Menschen sind. Es dürfte klar sein, dass unter solchen Bedingungen der vom Menschen ausgetriebene Gott den Menschen nicht von außen erlösen kann. Er muss sich – durch seine Menschwerdung und bis zum Kreuz – so eng auf die Menschen einlassen, dass ein Drama entsteht, in dem der Mensch durch eine zu äußerster Feindschaft gesteigerte Zurückweisung Gottes hindurch in einen so engen Kontakt mit Gottes erbarmender Liebe gerät, dass die Todesfesseln seiner heillosen Gottentfremdung aufgesprengt werden.13

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Schöpfung, Sündenfall und Erlösung – Die große christliche Erzählung in der Krise

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Das nicht-dualistische Erlösungsverständnis des Christentums ist eingebunden in eine dreigliedrige „große Erzählung“ von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung:

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1. Ein guter und allmächtiger Gott hat die Welt und die Menschheit ursprünglich gut geschaffen.

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2. Durch die Sünde der Menschen ist die Welt verdorben.

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3. Gottes erlösendes Handeln – zuletzt und alles Bisherige vollendend in Jesus Christus – stellt die ursprüngliche Gutheit der Menschen wieder her und führt sie auf eine alles überbietende Vollendung hin.

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Diese dreigliedrige Struktur (einer großen christlichen Erzählung von Gottes Heilsgeschichte mit den Menschen) spiegelt sich in verschiedenen Zusammenfassungen des christlichen Glaubens. Ein gutes Beispiel gibt das vierte eucharistische Hochgebet:

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„[Teil 1: Schöpfung] Wir preisen dich, heiliger Vater, denn groß bist du, und alle deine Werke künden deine Weisheit und Liebe. Den Menschen hast du nach deinem Bild geschaffen und ihm die Sorge für die ganze Welt anvertraut. Über alle Geschöpfe sollte er herrschen und allein dir, seinem Schöpfer, dienen.
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[Teil 2: Sündenfall] Als er im Ungehorsam deine Freundschaft verlor und der Macht des Todes verfiel,
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[Teil 3: Erlösung] hast du ihn dennoch nicht verlassen, sondern voll Erbarmen allen geholfen, dich zu suchen und zu finden. Immer wieder hast du den Menschen deinen Bund angeboten und sie durch die Propheten gelehrt, das Heil zu erwarten. So sehr hast du die Welt geliebt, heiliger Vater, dass du deinen eingeborenen Sohn als Retter gesandt hast, nachdem die Fülle der Zeiten gekommen war …“14
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Was Erlösung bedeutet, wird heute auch deshalb so schwer verstanden, weil uns diese große christliche Erzählung nicht mehr einleuchtet. Vor allem die beiden Übergänge zwischen ihren drei Teilen sorgen seit Jahrhunderten für Irritationen:

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1. Übergang: Die traditionelle Version der großen christlichen Erzählung schreibt den Übergang vom ersten zum zweiten Teil – also von einer ursprünglichen Gutheit zu einer umfassenden Verdorbenheit aller Schöpfung – dem Sündenfall von Adam und Eva zu. Wer aber waren die beiden, dass ihr Versagen die ganze Welt von einem guten in einen verdorbenen Zustand stürzen konnte? Was für eine erschütternde Untat mussten sie begangen haben, und in welchem Missverhältnis dazu steht der Griff nach einer verbotenen Frucht? Welch grenzenlose Verantwortung – für die gesamte Menschheit – hatten die beiden getragen, und in welchem Missverhältnis dazu steht die Unreife, in der sie sich befunden haben mussten (Sandler 2009, 11–21)?

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In der biblischen Urgeschichte (Gen 1–11) bildet die Erzählung vom Sündenfall das entscheidende Bindeglied zwischen einer ursprünglichen Gutheit der Schöpfung (Gen 1,31) und ihrer totalen Verdorbenheit: „Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat“ (Gen 6,11). Versucht man nun – wie manche neuere Bibelwissenschaftler – den vermeintlichen Skandal eines solchen Sündenfalls zu entschärfen, dann geraten die ersten beiden Teile der großen christlichen Erzählung aus dem Gleichgewicht:

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Entweder man nimmt an, dass die Schöpfung am Anfang doch nicht so gut war, – dann zeigt sich in der Tat von Adam und Eva nur ein unvermeidliches Verhängnis.15 Die Annahme einer guten Schöpfung, also der erste Teil der großen christlichen Erzählung, droht in sich zusammenzubrechen. Die Welt wird dann als von Grund auf verdorben begriffen, als der Erlösung bedürftig, aber nicht mehr dazu fähig, erlöst zu werden.

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Oder man nimmt dem Sündenfall das Gewicht einer umfassenden Verderbnis von Welt und Menschheit. Dann aber müsste die Welt, wie wir sie heute erfahren, noch weitgehend ungebrochen unter dem Schöpferwort stehen: „Es war gut“. Damit entfernt man sich vom zweiten Teil der großen christlichen Erzählung. Es ergibt sich eine angesichts von endlosem Leid und Unrecht unrealistisch optimistische Perspektive. Menschheit und Welt sind nicht mehr erlösungsbedürftig. Diese Auffassung ist heute in der Version verbreitet, dass die Menschen sich aus ihrer Misere allein aus eigener Kraft befreien müssen und auch können.

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Beide Versionen einer Entschärfung des Sündenfalls entziehen dem dritten Teil der großen christlichen Erzählung – der Erlösung – den Boden.

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2. Übergang: Nicht minder problematisch steht es um das zweite Scharnier der großen christlichen Trilogie: Der Übergang von der gefallenen zur erlösten Schöpfung wird „objektiv“ der Erlösungstat Christi zugesprochen, „subjektiv“ – also in seiner Auswirkung für uns – vor allem dem Sakrament der Taufe. Gemäß traditioneller christlicher Lehre bewirkt die Taufe eine Befreiung von der Erbsünde, also von jener universalgeschichtlichen Schuldverstrickung, die auf den Sündenfall Adams und Evas zurückgeht. Wie viel von einer solch fundamentalen Wende von Schuldverfallenheit (2. Teil) zu erlöster Existenz (3. Teil) ist aber tatsächlich am Getauften wahrnehmbar? Und wie sollte sich die von Christus gewirkte Erlösung überhaupt vermittelt durch die Taufe am Täufling auswirken?

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Allerdings wurde die große christliche Erzählung meist differenzierter verstanden. Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil wurde kaum jemals ausschließlich an einem historisch verstandenen Sündenfall Adams und Evas angesetzt, sondern an einer Sündengeschichte, deren „unvordenklicher“ Anfang mit der Erzählung vom Sündenfall symbolisch zum Ausdruck gebracht wird. Weiters ist – zumindest gemäß katholischer Tradition16 – der erste Teil einer guten Schöpfung durch die Sünde nicht vollständig an ein Ende gekommen. Er wirkt als wurzelhafte Gutheit der Geschöpfe am verborgenen Grund der Sündengeschichte weiter. Diese bleibende Gutheit ist im biblischen Schöpfungsverständnis verankert: Danach hat Gott die Welt nicht nur anfänglich ins Dasein gesetzt. Er erhält und vollendet seine Schöpfung durch die Geschichte hindurch.

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Auch der Übergang vom zweiten zum dritten Teil der großen christlichen Erzählung wurde niemals als restloser Umschlag von Sündenverfallenheit in einen erlösten Zustand begriffen. Gemäß traditioneller katholischer Lehre bewirkt die Taufe zwar eine Befreiung von der Erbsünde, aber die „begierliche“ Neigung zur Sünde (Konkupiszenz) wirkt dennoch weiter.17 Dass sich durch die Taufe meist nicht viel Sichtbares am Täufling ändert, wird von daher nachvollziehbar. Was aber bewirkt die Taufe dann noch in Bezug auf unsere Schuldverstrickung? Welche konkrete Bedeutung hat eine Befreiung von Erbsünde, wenn die sündige Begierlichkeit erhalten bleibt? Ist damit die von der Sünde erlösende Wirkung, die der Taufe zugeschrieben wird, nicht auf etwas Unerfahrbares reduziert?18

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Ein differenziertes Verständnis der großen christlichen Erzählung macht somit deutlich, dass wir uns in jedem Teil dieser Geschichte zugleich befinden: Wir alle sind gut geschaffen mit einem bleibend guten Kern, mehr oder weniger von Sünde verdorben und irgendwie erreicht von Christi Erlösung. Dieser Einsicht entsprechen die unscheidbaren Mixturen von Gut und Böse, die wir in verschiedensten Mischungsverhältnissen bei anderen und bei uns selber wahrnehmen. Aber wird durch diese bescheiden-realistische Sicht nicht jedes Profil einer großen christlichen Erzählung verwischt? Was heißt dann noch Sündenfall und Sünde? Was heißt Erlösung, und an welchen Ereignissen wird sie konkret erfahrbar?

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Exemplarische Geschichte: Wie wir die große christliche Erzählung verstehen können

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Zwei Deutungsansätze haben sich bereits als unzulänglich erwiesen: Einerseits können wir die beiden Übergänge der christlichen Trilogie nicht einfach auf bestimmte Einzelereignisse festschreiben: auf einen als historisch aufgefassten Sündenfall und ein erlösendes biografisches Ereignis in der Taufe, durch welche ein Zustand der Sündenverfallenheit in eine erlöste Existenz umschlagen würde. Aber auch eine geschichtslose Einebnung der drei Teile Schöpfung, Sündenverstrickung und Erlösung in ein ununterscheidbares Zugleich kann nicht befriedigen. Erlösung würde hier zu einem ununterscheidbaren Moment in einem Gemisch von Gut und Schlecht, in dem wir alle verfangen sind. Schöpfung, Sündenfall und Erlösung müssen als Ereignisse in der menschlichen und menschheitlichen Geschichte erfahrbar und unterscheidbar sein, ohne dass man sie auf Einzelereignisse – Adams Sündenfall, unsere Taufe – reduziert.

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Für ein entsprechendes Verständnis des Sündenfalls, also des ersten Übergangs innerhalb der großen geschichtlichen Erzählung, kann ich zurückgreifen auf mein Buch „Der verbotene Baum im Paradies“, zu welchem der vorliegende Band eine Fortsetzung ist. Dort habe ich vorgeschlagen, den Sündenfall Adams und Evas weder als historisches Ereignis noch als zeitlosen Mythos zu deuten, sondern als exemplarische Geschichte (Sandler 2009, 26–33). Zurückprojiziert an den Anfang der Menschheit erzählt die Sündenfallgeschichte ein typisches Geschehen, welches die religiöse Erfahrung Israels fortlaufend geprägt hat: dass Menschen ausgerechnet in Situationen der Gottesnähe und Lebensfülle ohne Not von Gott abfielen. Auf diesen irritierenden Sachverhalt stießen die biblischen Schriftsteller in der Geschichte des störri--schen Volkes Israel und bei seinen Anführern, selbst bei so hervorragenden Gestalten wie David und Salomo. Und sie stellten fest, dass dieser grundlose Abfall durch ei-ne vorausgehende Sündengeschichte anderer zwar nicht bewirkt, aber doch beeinflusst wurde. Diese typische Geschichte wird von der Sündenfallerzählung exemplarisch dargestellt. Einen völlig überflüssigen Abfall von Gott sahen die biblischen Schriftsteller als typisch für die gesamte Menschheitsgeschichte. Diese schmerzliche Erkenntnis drückten sie dadurch aus, dass sie die Geschichte vom Sündenfall als eine Anfangsgeschichte für die ganze Menschheit erzählten, – an zwei Personen, denen sie schlicht die Namen „Mensch“ und „Leben“ gaben. Denn „Adam“ heißt „Mensch“, und Eva heißt „Leben“. Und den Ort für diesen exemplarischen Abfall von Gott bezeichnet die Bibel als „Eden“, das heißt „Fülle“. Die Erzählung macht deutlich, dass diese Fülle nicht im Sinn eines maßlosen Überflusses gemeint ist – wie ein Schlaraf-fen-land-Paradies –, sondern als Erfüllung in allen menschlichen Grundbeziehungen: zu Gott, zum Mitmenschen, zur Welt und zu sich selbst.

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Die Grenzüberlegung eines Sündenfalls der ersten Menschen warf eine Frage auf, die sonst verdeckt blieb: Wenn Sünde grundsätzlich über die Verführung durch andere Menschen weitergegeben wird, von wem konnte dann der erste Mensch versucht worden sein? Mit der zum Sündenfall verleitenden Schlange verweist die Sündenfallerzählung auf geschöpfliche verführerische Einflüsse, die nicht durch Menschen vermittelt sind. Frühjüdische Reflexionen bringen die Paradiesschlange mit dem Teufel und einem Engelsfall in Verbindung. Diese Spekulationen wurden von der Bibel so gut wie gar nicht aufgenommen (Sandler 2009a). Es geht ihr nicht um eine jenseitige „Völkerkunde“ von Engeln, Teufeln und Dämonen, sondern um ein existenzielles Verständnis, wie das Böse in eine gute Welt einbrechen, die Menschen unterwerfen und durch Gottes Erlösungswerk überwunden werden kann: Sünde ist stets ein freier, persönlich zu verantwortender Akt, zugleich aber ein Nachgeben gegenüber verführe-rischen Einflüssen, die vor allem, aber nicht ausschließlich durch Mitmenschen vermittelt werden.
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Somit ist Sündenfall nicht ein Ereignis, das einmalig am Anfang der Menschheit geschehen und sich über dunkle Kanäle – etwa der geschlechtlichen Zeugung – auf alle Menschen übertragen hätte. Er ist Sünde Adams, des exemplarischen Menschen schlechthin, und beschreibt somit ein Geschehen, welches bis in die Gegenwart immer wieder vorgekommen ist, – nicht nur bei anderen, auch bei mir selber: Was Sündenfall eigentlich ist, wird überall dort konkret, wo Menschen Gottes befreiende Zuwendung erfahren und sich weigern, dieser Erfahrung entsprechend zu leben, – wo Menschen auf diese Weise Gottes Selbstoffenbarung mit einem Nein beantworten. In der Form einer Anfangserzählung macht die biblische Sündenfallgeschichte deutlich, dass wir Menschen seit unvordenklichen Zeiten in einer Welt leben, die durch Sünde beeinträchtigt ist. Und sie verbindet diesen nüchternen Realismus mit der hoffnungsvollen Zuversicht, dass diese unsere Welt dennoch von einem guten Gott gut geschaffen ist, weder naturhaft schlecht, noch rettungslos schlecht geworden, sondern erlösbar. Das Böse war nicht anfänglich in der Welt. Es ist erst in diese Welt hineingekommen, und zwar weder durch Gottes Wirken (denn Gott ist gut) noch durch eine gottfeindliche teuflische Macht (denn Gott ist allmächtig), sondern dadurch, dass der Mensch seine gottgeschenkte Freiheit und Macht selbstherrlich missbrauchte. Auf diese Weise hat er sich selbst und seine Welt Mächten ausgeliefert, die von der Bibel als teuflisch bezeichnet werden, und die wir näherungsweise als Dynamiken von pervertierter geschöpflicher Freiheit beschreiben können (Sandler 2009a).

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In dieser gut geschaffenen und durch Sünde schlecht gewordenen Welt hat Gott durch seine Selbstoffenbarung immer wieder einen neuen Anfang gesetzt: In der Begegnung mit ihm sind Menschen immer wieder aus der Spur von Sünde und Heillosigkeit herausgerissen und in einen Zustand der Fülle in glückenden Grundbeziehungen versetzt worden. Wo Menschen diesem neuen Anfang nicht durch ein neues Verhalten – biblisch: Umkehr – entsprechen, sondern wie bisher weiterleben wollen, da wird das konkret, was die Bibel in Form einer Anfangserzählung als Ursünde oder Sündenfall beschreibt.

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Von daher können wir die große christliche Erzählung tiefer verstehen, und zwar vor allem im Verhältnis zwischen ihrem zweiten und dritten Teil. Erlösung wird konkret in Gottes Heilsinitiativen, mittels derer er den Menschen, die in den Folgen eines sündigen Neins zu Gott verfangen sind, einen neuen Zugang zu ihm eröffnet. Diese göttlichen Initiativen versetzen den Menschen in eine Freiheit, die er eigentlich durch die Sünde verloren hat: Er kann neu zu Gott ja sagen und von daher seinem Leben eine heilvollere Richtung geben, aber er kann auch diese Freisetzung mit einem verschärften Nein gegen Gott beantworten. Damit wird dann das, was die Bibel an Adam und Eva als Sündenfall beschreibt, geschichtlich konkret. In diesem Fall hebt Gottes erlösendes Handeln nicht nur Sünde auf, sondern führt – aufgrund der vom Menschen missbrauchten neuen Freiheit – zu vertiefter Sünde. Weil Gott diese verschärfte Sünde durch nochmals vertiefte erlösende Initiativen neu aufbrechen kann, ergibt sich ein dramatisches Wechselspiel zwischen dem zweiten und dem dritten Teil der großen christlichen Erzählung:

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schöpferisches Handeln Gottes => Sünde => erlösendes Handeln Gottes => verschärfte Sünde => nochmals vertieftes erlösendes Handeln Gottes => …
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Unter Erlösung im eigentlichen Sinn können wir diesen ganzen Prozess von Gottes vertiefter Selbstoffenbarung gegenüber notorischen Sündern bezeichnen, – im hoffnungsvollen Blick darauf, dass der Gott davonlaufende Mensch sich letztlich doch noch von Gottes erbarmender Liebe einholen lässt. Wir werden sehen, dass Erlösung im Sinne eines solchen siegreichen Erlösungsprozesses sich auch angesichts der abgründigsten menschlichen Verfehlungen als möglich erweist, und zwar aufgrund eines unermesslichen Selbsteinsatzes Gottes, der im Geschehen des Kreuzes offenbar wird. Damit können wir – aus einer Heilshoffnung heraus, die vom erlösenden Kreuzestod Jesu her grundgelegt ist – zur einfachen dreigliedrigen Form der großen christlichen Erzählung zurückkehren: Am Ende eines dramatischen Ringens zwischen göttlichen Heilsinitiativen und menschlicher Sünde steht Erlösung, welche die Macht der Sünde endgültig überwindet.

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Auch die Schöpfung als erster Teil der großen christlichen Erzählung kann auf differenziertere Weise im Verlauf der Heilsgeschichte wahrgenommen werden. Nach biblischem Verständnis ist Schöpfung nicht nur ein anfängliches Ins-Dasein-Setzen der Welt, sondern umfasst auch deren Erhaltung und Vollendung (Ps 104,29; Offb 21,1). Von daher sind Gottes befreiende Heilsinitiativen nicht als ein vereinzeltes Eingreifen zu verstehen, sondern als Ereignisse, in denen Gottes durchgängiges welterhaltendes Wirken in bestimmte Situationen hinein wirksam und zeichenhaft sichtbar wird. Dies wäre auch in einer Welt und Menschheit, die nicht in Sünde gefallen wäre, so gewesen. Sünde aber bedeutet eine Selbstabschneidung von Gott, die ohne Gottes erhaltendes Wirken, welches die Folgen der Sünde begrenzt, den Tod zur Folge hätte (Sandler 2009, 83). Wo Gottes Handeln den Menschen aus dieser sündigen Selbstbegrenzung herausreißt, kann dieses schöpferisch-erhaltende Wirken Gottes als erlösend bezeichnet werden. Schöpfung und Erlösung sind auf diese Weise nicht voneinander getrennt. Diesen Zusammenhang macht die Bibel deutlich, wo sie die in Christus Erlösten als neue Schöpfung bezeichnet (2 Kor 5,17; Gal 6,15; Offb 21).
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2. „Das Reich Gottes ist nahe“ – Das erlösende Wirken des Jesus von Nazaret

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Erlösung umfasst sämtliche Heilsinitiativen Gottes zur Befreiung, Heilung und Vollendung der Menschen. Dazu gehören die alttestamentliche Heilsgeschichte und im Neuen Testament das gesamte Christusereignis, begonnen mit Jesu Geburt, seinem öffentlichen Wirken über Passion und Kreuzigung bis zu seiner Auferstehung und der Aussendung des Heiligen Geistes an seine Jünger und die werdende Kirche. Dass wir durch das Kreuz erlöst sind, ist entscheidend. Es kann aber nur im Gesamtzusammenhang von Jesu Wirken richtig verstanden werden.

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„Gekommen, den Willen des Vaters zu tun“

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Jesu öffentliches Wirken umfasste nicht mehr als das letzte Zehntel seiner dreiunddreißig Lebensjahre. Voraus ging eine lange Zeit des stillen Hineinreifens in eine Sendung, die er – gemäß christlichem Glauben – als Sohn Gottes zwar immer schon hatte, in die er aber als „wahrer Mensch“ (Konzil von Chalkedon) erst hineinwachsen musste (Lk 2,52). Diese Sendung gründete in einer innigen Verbindung zum göttlichen Vater, den Jesus in einer für das damalige Judentum ungewohnten Vertrautheit mit dem Wort „Abba – Papa“ anredete (Mk 14,36). Und diese Sendung bestand darin, dass er den Menschen diese innige Gottesbeziehung erschließen sollte, und zwar nicht nur „informativ“ durch Worte, sondern wirksam durch den Einsatz seiner ganzen Existenz. Vermittelt durch den Heiligen Geist, der bei seiner Taufe auf ihn herabkam (Mk 1,10), ließ er sich in jeder Lebenslage vollkommen von Gottes Willen führen. Auf diese Weise strahlte er mit seinem ganzen Sein eine Gottvertrautheit aus, die unwillkürlich auf die Menschen übergriff, – tiefer, als es durch Worte und Taten allein möglich wäre.

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Dieser absolut lenkbare Gehorsam Jesu musste sich vor Beginn seines öffentlichen Wirkens in Versuchungen bewähren. Nach dem Johannesevangelium sagt Jesus: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen“ (Joh 4,34). Das steht in direktem Gegensatz zur ersten teuflischen Versuchung, selbstherrlich Steine in Brot zu verwandeln, um seinen Hunger zu stillen (Mt 4,3). Auf typische Weise wiederholt sich hier die Versuchung des Sündenfalls im Paradies: selbstherrlich wie Gott sein zu wollen (Gen 3,5). Und es klingen die Sündenfälle Israels an, als es auf der vierzigjährigen Wüstenwanderung (nach seiner Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft) über mangelndes Brot murrte und zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückkehren wollte (Ex 16,3). Im Gegensatz zu Adam und Israel hält Jesus der Versuchung stand, und zwar im unbeirrten Blick auf Gott und sein Wort. Er antwortet dem Versucher mit einem alttestamentlichen Zitat und zeigt so, dass er in einer tiefen Verwurzelung in der jüdischen Heilsgeschichte „den Gehorsam lernte“ (Hebr 5,8):

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„Du sollst an den ganzen Weg denken, den der Herr, dein Gott, dich während dieser vierzig Jahre in der Wüste geführt hat, um dich gefügig zu machen und dich zu prüfen. Er wollte erkennen, wie du dich entscheiden würdest: ob du auf seine Gebote achtest oder nicht. Durch Hunger hat er dich gefügig gemacht und hat dich dann mit dem Manna gespeist, das du nicht kanntest und das auch deine Väter nicht kannten. Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht.“ (Dtn 8,2f; vgl. Mt 4,4)
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Die vierzig Tage, die Jesus in der Wüste fastete, rekapitulieren die vierzig Jahre Israels nach seiner Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und vor seinem Einzug in das Gelobte Land. Symbolisch wird damit die Heilsgeschichte erneut durchlaufen, diesmal aber ohne Sündenfälle. Mit seiner Bewährung in der dreifachen Versuchung erweist sich Jesus als neuer Adam (1 Kor 15,45), als exemplarischer Mensch ohne Sünde, in ungebrochener Ausrichtung auf Gott.

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Aus diesem gelebten Gehorsam entspringt Jesu Verkündigung in Wort und Tat:

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„Was ich von ihm gehört habe, das sage ich der Welt.“ (Joh 8,26)
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„Amen, amen, ich sage euch: Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn. Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut, und noch größere Werke wird er ihm zeigen, sodass ihr staunen werdet.“ (Joh 5,19f)
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„Die Zeit (Kairos) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe gekommen!“

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Jesu Wirken und Verkündigung wird von den Evangelien nicht nur ausführlich erzählt, sondern in knappen Aussagen vorwegnehmend zusammengefasst:

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„Er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14f; vgl. Mt 4,17)
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„Evangelium Gottes“ ist die von Gott kommende gute Botschaft („eu-angelion“). Diese besteht in einer ohne Vorbedingungen von Gott eröffneten Gnadenzeit. Das biblische Schlüsselwort für diese Zeit der Gnade lautet kairós. „Die Zeit (kairós) ist erfüllt.“ Im Unterschied zum griechischen Wort chrónos, das eine kontinuierlich fortlaufende – „chronologische“ – Zeit besagt, meint kairós eine qualitativ herausragende Zeit der Gnade, in der eine Tür zu Gott offen steht, die zuvor verschlossen war. Es ist die Zeit eines göttlichen Heilshandelns, das den durch Sünde verursachten Schleier zwischen Mensch und Gott wegreißt (2 Kor 3,16). Es ist der Kairos einer unverstellten Gegenwart Gottes, von der her das menschliche Leben in allen Grundbezügen – zu Gott, Mitmensch, Welt und sich selbst – neu ausgerichtet und auf diese Weise erlöst werden kann. Genau das ist gemeint mit dem Wort Reich Gottes oder (bei Matthäus) Himmelreich. Es ist eine durch Jesus vermittelte Gottesgegenwart, welche die Menschen aus ihrer Unfreiheit und Heillosigkeit befreit und sie zur Umkehr befähigt, – zu einem neuen Leben ganz auf der Grundlage von Gott und seiner Führung, und in diesem Sinn von Glauben: „Der Kairos ist da, das Gottesreich ist nahe gekommen. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15).

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Damit eröffnet Jesus den Menschen genau das, was ihn selbst zuinnerst bestimmt: ein Leben, das in kompromisslosem Gehorsam aus der Bezogenheit zum göttlichen Vater erwächst und sich in allem jederzeit von ihm leiten lässt. Noch vorgängig zu allen Worten und Taten strahlt ein solches Leben auf andere aus. Es ist Licht der Welt, Stadt auf dem Berg, und kann nicht verborgen bleiben (Mt 5,14–16).

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Damit ist klar, wie Jesus den Anbruch des Gottesreichs, also einer ganz in Gott gründenden und auf diese Weise heilen Lebens- und Weltordnung, versteht. Es handelt sich noch nicht um die vollendete Gegenwart des Gottesreichs, für die nach jüdischem und alttestamentlichem Verständnis sehr weitgehende Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Bekehrung aller Heiden (Sach 8,23), Wallfahrt der Völker nach Jerusalem (Sach 14,16), das Ende aller Götzendienste (Sach 13,2), Eintracht aller Gläubigen (Zef 3,9), die Wiedervereinigung Israels unter Gott (Ez 37,21–23) und ein messianisches Friedensreich, das sogar die Versöhnung der Tierwelt beinhaltet (Jes 11,6–9).19 Jesus verkündete einen anfänglichen Durchbruch des Gottesreichs, an eingeschränktem Ort zu eingeschränkter Zeit, klein wie ein Senfkorn, aber mit der Potenz, „größer als alle anderen Gewächse“ zu werden (Mk 4,31). Das eigentliche Samenkorn des Gottesreichs ist Jesus und in ihm Gott selber, der sich durch seine Menschwerdung in eine von ihm entfremdete Welt „eingenistet“ hat. Die Wachstumskraft dieses Samenkorns zeigt sich an der Intensität, in der die Menschen auf Jesus reagierten. Die von ihm berufenen Jünger lassen alles liegen und stehen, um ihm nachzufolgen (Mk 1,17f). Körperliche und seelische Fesseln – von Krankheit und dämonischer Besessenheit – werden mühelos aufgesprengt (Mk 1,23f.31), und verborgene Feindseligkeit gegen Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit bricht mit ungebremster Aggressivität hervor (Lk 2,34f; Lk 4,29). Die Reaktionen der Menschen auf Jesus sind gegensätzlich, aber niemand vermag seinem Auftreten gegenüber gleichgültig zu bleiben.

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Jesu Verkündigung vom anbrechenden Gottesreich ist alles eher als leeres Gerede. „Er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten.“ (Mk 1,22) Er untermauert seine Worte mit Machttaten, die das Gottesreich, von dem er spricht, zeichenhaft gegenwärtig setzen, und zwar entlang aller menschlichen Grundbezüge:

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– in der Vergebung von Sünden: als zeichenhafte Wiederherstellung eines gebrochenen Gottesverhältnisses (Mk 2,5);

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– in der Sammlung eines neuen Gottesvolkes (Mt 23,37), indem Jesus Außenseiter und Unterdrückte in die Mitte holt (Lk 6,8): als zeichenhafte Versöhnung zwischenmenschlicher Beziehungen;

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– in Heilungen und Wundern wie Brotvermehrung (Mk 5,41), Stillung des Seesturms (Mk 4,39): als zeichenhafte Wiederherstellung eines ungebrochenen Verhältnisses zur Natur;

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– und in einer Befreiung von dämonischen Bewusstseinsspaltungen (Mk 5,9) und Entfremdungen: als zeichenhafte Heilung des menschlichen Selbstbezugs.

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3. „Ist das nicht der Sohn Josefs?“ – Das Drama der verpassten Gottesbegegnung

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Matthäus und Markus fassen Jesu öffentliches Wirken mit einem summarischen Text im Voraus zusammen – „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe“ (Mt 4,17; vgl. Mk 1,15). Anstelle dessen erzählt Lukas eine Geschichte mit exemplarischer Bedeutung: Jesus tritt erstmals in seiner Heimatstadt Nazaret auf und predigt dort in der Synagoge. Nach anfänglicher Zustimmung wird seine Verkündigung von den Anwesenden zurückgewiesen, und es kommt zu einem Konflikt, der beinahe bis zum Lynchmord an Jesus eskaliert. Lukas spannt hier einen straffen Bogen über Jesu öffentliches Wirken von den ersten Anfängen bis knapp vor seine Kreuzigung. Damit macht der Evangelist verständlich, warum Jesus mit seiner positiven, den jüdischen Erwartungen entsprechenden Gottesreichbotschaft so scharf zurückgewiesen wurde, ja warum dies geradezu geschehen musste (Lk 24,26), – bis zur Auslieferung und Tötung ihres Verkündigers. Mit den Mitteln einer dramatischen Erzählung deckt Lukas die bestimmenden Kräfte auf, welche selbst fromme Menschen, Repräsentanten des erwählten Volkes, in Verstockung und Mord treiben. Darin gleicht die Nazaret-Erzählung der alttestamentlichen Sündenfallgeschichte. Dort steht Adam für den Menschen schlechthin, der Gottes Wort ausgerechnet in einer Situation gottgeschenkten Glücks (Paradies!) zurückweist. Und die Synagogenbesucher aus Nazaret stehen exemplarisch für Israel sowie für die ganze Menschheit: Sie nahmen das Licht, das in die Welt kam, nicht auf (Joh 1,10f), sondern suchten es nach Kräften auszulöschen.

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Wenn wir Erlösung als Überwindung der Fesseln des Todes begreifen wollen, dann müssen wir erst die Eigenart dieser Todesfesseln verstehen: als eine Macht, die nicht nur ein erfülltes Leben vereitelt, sondern überdies Gottes erlösende Initiativen als gefährliche Bedrohung erscheinen lässt, – mit der Konsequenz, dass die Menschen ihre ganze Kraft einsetzen, um den zu bekämpfen, der angetreten ist, sie zu befreien. Es dürfte sich also lohnen, wenn wir uns mit dieser Geschichte gründlich auseinandersetzen.

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Der erste Teil dieser Erzählung fasst – wie die Summarien bei Matthäus und Markus – Jesu Gottesreichbotschaft knapp zusammen, und zwar mit einem Zitat aus dem Alten Testament:

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v16 So kam er [Jesus] auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen, v17 reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt:
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v18 Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze v19 und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
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v20 Dann schloss er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. v21 Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ (Lk 4,16–21)
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Wir dürfen die Provokation dieses Anspruchs für die anwesenden Juden nicht übersehen. Zwar wurde der von Jesus ausgewählte Jesajatext seit Jahrhunderten als Verheißung messianischer Zeiten vorgetragen. Aber noch nie dürfte jemand wie Jesus gesagt haben: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Vers 21). „Heute“ kann nur heißen: „durch mich“. Mit dieser Anwendung der Jesajastelle auf sich beansprucht Jesus, Geistträger und Gesalbter des Herrn zu sein (vgl. Vers 18). Und zwar nicht nur wie die Könige und Propheten, die durch Menschen gesalbt wurden, sondern als der von Gott Gesalbte: als Christus („Gesalbter“ auf Griechisch) und Messias („Gesalbter“ auf Hebräisch).

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Der von Jesus verlesene Jesajatext entspricht genau der Gottesreichbotschaft, die ihm bei Markus und Matthäus zugeschrieben wird. Das „Gnadenjahr des Herrn“ (Vers 19) deckt sich mit dem von Jesus proklamierten „Kairos“ des anbrechenden Gottesreichs (Mk 1,15). „Den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen“, sind Zeichen für das anbrechende Reich Gottes, – konkrete Werke der Erlösung, die Jesus somit auch für sein Wirken beansprucht. Noch von zwei weiteren Handlungen spricht der messianische Text: „den Armen eine gute Nachricht“ und „den Blinden das Augenlicht“ zu bringen. Beides dürfte der in Nazaret lehrende Jesus bereits zuvor in Kafarnaum zeichenhaft gewirkt haben (Lk 4,23).
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Von Kafarnaum her war Jesus der Ruf eines Heilers und Wundertäters vorausgeeilt. Seine Verlesung des messianisch-endzeitlichen Jesajatextes musste deshalb bei den Bewohnern Nazarets höchste Spannung hervorrufen: „Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet“ (Vers 20). Jesu anschließende „Predigt“ ist von schockierender Wucht und Kürze: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“

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Ein dramatischer Meinungsumschwung

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Jesus bezeichnete sich also in seiner Predigt in der Synagoge Nazarets faktisch als Messias. Ein solcher Anspruch war ungeheuerlich, ebenso wie die damit verbundene Behauptung eines jetzt anbrechenden Gottesreichs. Von daher wäre es nur zu verständlich, wenn Jesu Worte einen Aufruhr in der Synagogenversammlung provoziert hätten, und wenn genau das sofort geschehen wäre, was unser Text an späterer Stelle konstatiert:

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„Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.“ (Lk 4,28f)
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Aber die unmittelbare Reaktion der Synagogenbesucher war eine völlig andere:

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„Seine Rede fand bei allen Beifall …“ (Lk 4,22a)
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In wörtlicher Übersetzung:

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„Und alle gaben ihm ein (zustimmendes) Zeugnis.“
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Eine derart positive Reaktion angesichts eines solch ungeheuerlichen Anspruchs ist nur vorstellbar, wenn die anwesenden Menschen von Jesus tief bewegt waren, und zwar nicht nur von seinen Worten und den über ihn verbreiteten Wundertaten, sondern insgesamt von seiner Person und Ausstrahlung. Dazu kam für die Bewohner von Nazaret, dass sie Jesus von früher her kannten und ihren gegenwärtigen Eindruck von Jesus mit der Erinnerung an ihn als einen außerordentlich begnadeten Menschen in Verbindung bringen konnten. So „stellten ihm alle ein zustimmendes Zeugnis aus“. Jedenfalls musste in der Begegnung mit Jesus allen Anwesenden etwas von seiner Beziehung zum göttlichen Vater aufgegangen sein. So hat der Kairos – das „Gnadenjahr des Herrn“, das Jesus mit den Worten Jesajas ankündigte – die versammelten Synagogenbesucher zumindest anfänglich erreicht.

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Vor diesem Hintergrund ist nun zu lesen, was in zwei weiteren Satzteilen knapp aneinandergefügt ist:

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„sie staunten darüber, wie begnadet er redete …“ (Lk 4,22b)
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„… und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?“ (Lk 4,22c)
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Man ist versucht, beide Aussagen im Licht der erstgenannten, zustimmenden Reaktion positiv zu deuten.20 Staunen kann eine Haltung sein, in der man sich von Gottes durchscheinender Gegenwart beeindrucken lässt. Und auch die Frage „Ist das nicht der Sohn Josefs?“ ließe sich im Sinne einer ehrfürchtigen Verwunderung auffassen. Wie aber erklärt sich dann die Fortsetzung der Geschichte?

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v23 Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat! v24 Und er setzte hinzu: Amen, das sage ich euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.“ (Lk 4,23f)
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Offensichtlich hat Jesus die Reaktion seiner Zuhörer als Zurückweisung aufgefasst. Im Sinn einer Ablehnung müssen wir zumindest die drittgenannte Reaktion der Synagogenbesucher verstehen: „… und [sie] sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?“ Was das bedeutet, erhellen die Parallelstellen bei Matthäus und Markus:

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„Jesus kam in seine Heimatstadt und lehrte die Menschen dort in der Synagoge. Da staunten alle und sagten: Woher hat er diese Weisheit und die Kraft, Wunder zu tun? Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria, und sind nicht Jakobus, Josef, Simon und Judas seine Brüder? Leben nicht alle seine Schwestern unter uns? Woher also hat er das alles? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab. Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat und in seiner Familie. Und wegen ihres Unglaubens tat er dort nur wenige Wunder.“ (Mt 13,54–58; vgl. Mk 6,2f)
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Eine solche Ablehnung ist zwar nicht sympathisch, aber menschlich nachvollziehbar. Wen man von früher als seinesgleichen kennt, den wird man schwerlich als Prophet, geschweige denn als Messias akzeptieren. Hier gilt das Sprichwort, das Jesus den Nazarenern vorhält: „Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt“ (Vers 24).

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Auch zur zweitgenannten Reaktion der Synagogenbesucher – „sie staunten darüber, wie begnadet er redete“ (Vers 22b) – geben uns die Parallelstellen bei Matthäus und Markus ernüchternde Hinweise. Sie sprechen ebenso von einem Staunen der Menschen, aber gewiss nicht in einer positiven, zu Gotteslob führenden Haltung. Ihr Staunen führt die Zuhörer zur Frage: „Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Wunder, die durch ihn geschehen!“ (Mk 6,2) Die Fortsetzung beseitigt jeden Zweifel über die wahre Natur dieser Verwunderung:

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„Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab.“ (Mk 6,3)
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Der Zusammenhang macht deutlich: Dem verwunderten Fragen der Nazarener haftet etwas von Nichtfassenkönnen, von Ungläubigkeit, vielleicht auch von Neid an. Das von Matthäus und Markus für „Staunen“ verwendete Wort („ekplésso“) enthält ebenso wie das bei Lukas stehende „thaumázein“ eine Ambivalenz, die wir am besten mit dem Wort „fasziniert sein“ ausdrücken. Es ist kein reines, kindliches Staunen, sondern hat etwas Messendes, Vergleichendes und Rivalisierendes, das jederzeit von Bewunderung in Empörung umschlagen kann.

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Es ergibt sich: Mit den drei Reaktionen der Nazarener – Beifall, Staunen und skeptisches Fragen – beschreibt Lukas, wie innerhalb kürzester Zeit die Atmosphäre der Versammlung von anfänglicher Zustimmung in Ablehnung umkippt.21 Wie aber lässt sich ein solcher Meinungsum-schwung begreifen? Jesu Antwort und die Reaktion der Bewohner Nazarets bringen Licht in diese Frage. Schauen wir uns den zweiten Teil der Geschichte im Zusammenhang an:

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v21 Da begann er, ihnen darzulegen:
Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.
v22a Seine Rede fand bei allen Beifall;
v22b sie staunten darüber, wie begnadet er redete,
v22c und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?
v23 Da entgegnete er ihnen:
[1.] Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!
v24 Und er setzte hinzu:
[2.] Amen, das sage ich euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.
v25 [3.] Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam. v26 Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon.
v27 Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman.
v28 Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. v29 Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.
v30 Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg.“ (Lk 4,21–30)

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Der Grund für die Zurückweisung Jesu: Seitenblick-Identität

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Die Erzählung von Lukas enthält drei extreme und deshalb erklärungsbedürftige Wenden:

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1. der in Vers 22 beschriebene Umschlag in der Reaktion der Nazarener von Zustimmung hin zu allgemeiner Ablehnung;

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2. der Übergang zur darauf folgenden Rede Jesu: Diese erscheint als unverhältnismäßig provokant, – selbst wenn man davon ausgeht, dass Jesus auf Ablehnung reagierte;

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3. die Reaktion der Nazarener auf Jesu Rede: Auch wenn man die Worte Jesu als sehr provokant einschätzt, erscheint ein versuchter Lynchmord als unverhältnismäßig.

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Diese dramatische Eskala-tion wird besser verständlich, wenn wir berücksichtigen, was Jesus zu den Einwohnern Nazarets sagte. Im ersten Teil seiner Rede setzt Jesus die beiden Orte Nazaret – „Jesu Heimat“ (Vers 23) – und Kafarnaum, seinen gegenwärtigen Wohnort, zueinander in Beziehung:

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„Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!“ (Lk 4,23)
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Jesus unterstellt den Nazarenern eine Verärgerung darüber, dass er mit seinem spektakulären Wirken nicht dort anfing, wo er herkommt und deshalb auch hingehört: in seiner Heimatstadt. Die Redewendung „Arzt, heile dich selbst!“ kann nur in diese Richtung verstanden werden: „Wenn du schon heilen willst, dann fang gefälligst bei dir und den Deinen an, also in Nazaret und nicht in Kafarnaum!“ Der von Jesus aufgewiesene heikle Punkt ist offenbar eine Haltung von Nachbarschaftsrivalität, verbunden mit rivalisierenden Besitzansprüchen auf die Person Jesu.

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In die gleiche Richtung zielt der zweite Teil von Jesu Rede, mit dem Vorwurf:

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„Amen, das sage ich euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.“ (Lk 4,24)
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Auch dafür ist der Grund Nachbarschaftsrivalität, nun allerdings nicht zwischen Städten, sondern innerhalb einer Stadt: Zur Vermeidung und Begrenzung von Spannungen ist der Rang von Menschen gewöhnlich klar festgelegt. Wenn eine gleichrangige Person unverhältnismäßig aufsteigt, wird sie zwangsläufig Neid hervorrufen. Dass ein einfacher Mitbewohner von Gott zum Propheten und Messias gekürt und den anderen vorangestellt wird, gilt von daher als Zumutung.22

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Auch mit dem dritten Teil seiner Rede kritisiert Jesus eine Neigung zur Rivalität, nun auf einer nochmals anderen Ebene:

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v25 Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam. v26 Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon. v27 Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman.“ (Lk 4,25–27)
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Nun geht es um das Verhältnis von Israel zu seinen heidnischen Nachbarn. Sowohl die Witwe in Sarepta als auch der Syrer Naaman waren Heiden. Jesus konfrontiert die stolzen Israeliten mit einem demütigenden Faktum: Israels größte Propheten wirkten ihre bedeutendsten Wunder gerade nicht an Juden, sondern an Heiden.

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Mit jeder seiner drei Aussagen legt Jesus den Finger auf denselben wunden Punkt: Die Menschen Nazarets beziehen ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl – was sie sind und was sie gelten – von einem taxierenden Vergleich mit anderen. Deshalb fühlen sie sich in ihrer persönlichen Identität innerhalb Nazarets durch die göttliche Bevorzugung eines gleichrangigen Nachbarn gedemütigt. Deshalb fühlen sie sich in ihrer Identität als Nazarener beleidigt, wenn Jesus mit seinen spektakulären Wundern nicht bei ihnen anfängt. Und deshalb ist es für sie in ihrer Identität als Juden eine untragbare Kränkung, wenn Gott, den sie doch als ihren Gott beanspruchen, die anderen, nämlich die Heiden bevorzugt.

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Seitenblick-Identität als Wurzelsünde – schon bei Kain …

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Jesus brandmarkt an den Bewohnern Nazarets dasselbe Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, welches Kain dazu getrieben hatte, seinen Bruder Abel zu ermorden (Sandler 2009, 137–143).

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„Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich …“ (Gen 4,3–5)
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Durch den Eindruck, Gott würde seinen Bruder ihm gegenüber bevorzugen, fühlte sich Kain abgrundtief gekränkt. Was den Hass gegen seinen Bruder schürte, war ein Grundgefühl von Neid. Und Neid entsteht dadurch, dass ein Mensch seine Identität und seinen Selbstwert nicht von Gott, sondern vom rivalisierenden Vergleich mit seinem Nächsten bezieht. Es ging Kain nicht um Gott; es ging ihm nicht um die „Sache“ (ein gut verlaufendes Opfer); es ging ihm ausschließlich um seine Position im Vergleich zu seinem Bruder. Hätte Gott auf Abels Opfer ebenso wenig geschaut wie auf sein eigenes, dann wäre für Kain alles in Ordnung gewesen. Wäre es Kain um seine Gottesbeziehung oder um die „Sache“ eines Gott wohlgefälligen Opfers gegangen, dann hätte er eigentlich kein Problem gehabt. Er hätte sich nur seinem Bruder anschließen müssen. Dieser hatte ja einen Draht zu Gott. Aber der Zugang zu Gott war für Kain so blockiert, dass er ihm nicht einmal abging. Wie alle Geschöpfe hätte Kain seine Identität und seinen Selbstwert von Gott her beziehen können. Aber dieser Zugang war für ihn verstellt. So blickte er – wie einst seine Eltern – ohne Gott auf sich und auf seinen Bruder (Sandler 2009, 97–99). Im Vergleich mit ihm kam er sich zutiefst nichtig vor und schämte sich in Grund und Boden. Die Geschichte von Kain und Abel offenbart die verführerische Gewalt des ‚Dämons der Seitenblick-Identität‘:

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„Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.“ (Gen 4,5–8)
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Was hier spielt, ist ein Drama der Blicke. Dass Gott auf Abel, nicht aber auf Kain schaute, trieb Kain in einen eifersüchtigen und neidischen Zorn gegen seinen Bruder.23 Je mehr er sich diesem Groll überließ, desto mehr senkte sich sein Blick und desto weniger war er fähig, „aufzublicken“ und die Zuwendung Gottes wahrzunehmen, der sich ihm immerhin noch in warnender Rede zuwandte. Kain sieht und hört Gott nicht, er will nicht sehen und nicht hören. Sein Blick bleibt auf sich und Abel fixiert, in einem taxierenden Vergleich, der für ihn unerträglich demütigend ist. So geht er aufs Feld und erschlägt seinen Bruder.

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Die Erzählung von Kain und Abel beschreibt das Wesen der Sünde als fortgeschrittene Perversion aller menschlichen Grundbezüge durch eine Per-Version (wörtlich: Fehl-Wendung) des Blicks: Der Blick ist von Gott abgewendet und – „Gott-los“ – auf den Nächsten fixiert. Die Gegenstände der Welt vermögen nicht mehr den Bezug zu Gott herzustellen, und die Selbstwahrnehmung – im Blick auf sich selbst unter Absehung eines verdankenden Gottbezugs – ist entwertet. Überdies macht die Erzählung einsichtig, was die Sündenfallgeschichte im Paradies noch ungeklärt ließ: Dass die Folge der Sünde tatsächlich der Tod ist (Gen 2,17), nämlich als Mord.

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All das finden wir in der Nazaret-Erzählung bei Lukas wieder:

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– Verlust des anfänglichen, durch den Gnaden-Kairos bewirkten Blicks auf Gott („Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet“);

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– Rückfall in eine Seitenblick-Identität;

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– Verfangenheit in eine Dynamik, welche zum Mord treibt.

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… und bei Adam

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Fragen wir nach den Wurzeln für diese Pervertierung des menschlichen Identitätsverständnisses, so werden wir – hinter Kain zurück – zur Sündenfallgeschichte von Adam und Eva geführt (Sandler 2009, 69–136). Deren Versuchung bestand darin, ihr Selbstsein ohne verdankenden Gottesbezug erfassen zu wollen: Sie wollten ohne Gott wie Gott sein; und sie wollten Gut und Böse erkennen (vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen), indem sie Wert, Würde und Identität des Menschen losgelöst von seiner verdankten Gottesbeziehung zu bestimmen versuchten. Vor dieser verhängnisvollen Perspektive, die durch den verbotenen Baum im Paradies symbolisiert wird, hatte Gott den ersten Menschen gewarnt: „Sobald du davon isst, wirst du sterben“ (Gen 2,17). Und zu eben dieser verhängnisvollen Perspektive hat laut Sündenfallgeschichte die Schlange den Menschen verleitet. Es ist die Perspektive eines Ohne-Gott-wie-Gott-sein-Wollens. Diese Perspektive verführt zur Frage: „Wer bin ich ausschließlich aus mir selbst, abgesehen von allem, was ich anderen und letztlich Gott verdanke?“ (vgl. Sandler 2009, 97) Und: „Wer ist mein Nächster ausschließlich aus sich selbst, abgesehen von allem, was er anderen und letztlich Gott verdankt?“

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Die unvermeidliche Folge dieser Übertretung ist, dass die Menschen sich und ihren Nächsten in einer abgründigen Nacktheit und Nichtigkeit wahrnehmen, sodass sie nicht anders können als sich voreinander und füreinander zu schämen. Genau darin besteht die durch den verbotenen Baum symbolisierte und von der Schlange verheißene Erkenntnis von Gut und Böse: Als böse – im Sinn von schlecht, unzulänglich und minderwertig – erscheint dem Menschen er selbst wie auch sein Nächster, wenn er ihn unter dem Blickwinkel anschaut, was er ohne Gott, ausschließlich aus sich selbst ist. Und die Erkenntnis von „Gut“? Als „gut“ erweist sich nun alles, was diesen bösen Eindruck von Minderwertigkeit „wegmacht“: entweder also Feigenblätter, die die eigene Nacktheit verbergen, oder, wie bei Kain, die Vernichtung des Anderen, dessen Blick und Anblick die grauenvolle eigene Nacktheit enthüllt.

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Diese „Erkenntnis von Gut und Böse“ ist sachlich nicht falsch, aber sie ist dennoch verlogen und trügerisch. Richtig an ihr ist, dass der Mensch ohne Gott tatsächlich nichts ist – weil alles, was er ist, gottverdankt und gerade so ihm selbst zuinnerst zu eigen ist. Verlogen und trügerisch ist diese Erkenntnis, weil die Perspektive, die sie einnimmt, eine zutiefst unsinnige und verhängnisvolle Abstraktion darstellt: Wir müssen und dürfen nicht von allem absehen, was wir Gott verdanken, um festzustellen, wer und was wir selber sind. Denn gerade unser tiefstes „Selbersein“, unsere Autonomie, gründet in Gott (Sandler 2007).

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Diese Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit sowie der Nichtigkeit des Anderen als „schlecht“ ist unerträglich und führt unweigerlich zum Versuch der Menschen, die eigene Nacktheit voreinander zu verschleiern. Das sprichwörtliche Feigenblatt, mit dem Adam und Eva ihre Nacktheit voreinander zudecken, steht für alle Versuche, durch äußere Mittel die eigene Minderwertigkeit zu verbergen und sich attraktiver darzustellen, als man sich selber vorkommt (Sandler 2009, 125–130). So wird mittels Täuschung und Lüge eine abgrundtiefe Lüge verschleiert und durch diese Verschleierung in unzugängliche Tiefen eingesenkt: dass ich in meinem geheimsten Innersten – in dem, was ich durch zahllose Schalen, Schichten und Feigenblätter vor mir und anderen ängstlichst verberge – zutiefst unzulänglich und im Vergleich zu allen anderen minderwertig bin. Das würde nur stimmen, wenn für unsere Identität allein zählte, was wir ausschließlich aus uns selber sind. Mit der Ursünde, wie Gott sein zu wollen, erheben wir einen wahnwitzigen Standard, mit dem wir andere und uns selbst zu messen trachten: Wir meinen, wir müssten sein wie ein Gott, oder so, wie wir uns Gott in unserer Verblendung vorstellen: „causa sui“ – ausschließlich aus sich selber seiend und sich niemand anderem verdankend.24 So versuchen wir, mittels Feigenblättern (zum Beispiel Statussymbolen) unsere eingebildete Minderwertigkeit zu verschleiern und eine unmögliche Selbst-Herrlichkeit vorzutäuschen. Und je besser uns das gelingt, je mehr wir den Eindruck erwecken, „selbst herrlich“ zu sein, desto stärker verankern wir diese Lüge bei anderen, die ihrerseits nicht anders können, als sich mit uns zu vergleichen: entweder resignativ, indem sie in Minderwertigkeitskomplexe verfallen, oder aggressiv, indem sie mit uns rivalisieren und uns zu überbieten trachten. Beides treibt in Ängste und verschiedenste Begierden: Ich will haben, was mein Rivale hat, nicht weil ich es an sich bräuchte, sondern als Statussymbol, um ihm ebenbürtig zu sein. Oder die Aussichtslosigkeit, diese Begierden zu erfüllen, treibt mich in ein Grundgefühl von Minderwertigkeit und Ressentiment. Ängste und Begierden verstärken sich gegenseitig, weil wir Dinge begehren, um Ängste zuzudecken, und weil der gierige Besitz von Dingen Verlustängste erzeugt. Wir alle sind mehr oder weniger von Ängsten und Begierden getrieben. Darin besteht jene Schuldverstri-ckung, welche die Kirche mit den Worten Erbsünde und Konkupiszenz (Begierlichkeit) beschreibt (Sandler 2009, 167–174).

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Die Wurzel dieser „Sünde der Welt“ (Joh 1,29), in der wir alle mehr oder weniger gefangen sind, ist eine Selbstabschneidung und Abgeschnittenheit von Gott, dem personalen Prinzip aller Verdanktheit. Das Wesen dieser „Sünde der Welt“ ist Verschleierung und Lüge: unser „Feigenblattkomplex“, mit dem wir meinen, erst etwas vor anderen darstellen zu müssen, um – für die anderen und für uns selber – etwas zu sein. „Sünde der Welt“ besteht wesentlich darin, dass Menschen ihre Identität im Seitenblick – durch Identifizierung mit den einen und durch Abgrenzung von anderen – zu gewinnen und zu sichern trachten. Die ausgewachsene Frucht dieser „Sünde der Welt“ ist der Mord. Das zeigt uns die Geschichte von Kain und Abel, und das zeigt uns der Ausgang, den Jesu Predigt in Nazaret nimmt:

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„Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.“ (Lk 4,29)
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Wie man einen Gnaden-Kairos in wenigen Minuten verfehlt

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Diese Analyse der Sünde als Seitenblick-Identität erlaubt uns, die Dramatik von Jesu Auftritt in Nazaret – wie Lukas sie darstellt25 – zu rekonstruieren:

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Nicht anders als die meisten religiösen Menschen waren die Bewohner Nazarets in einer Mischung von echter Frömmigkeit und Gottlosigkeit befangen. Zum Teil wurde ihr Selbstverständnis auf authentische Weise von den Zusagen und Verheißungen Gottes innerhalb ihrer jüdischen Praktiken und Traditionen gespeist, teils aber auch „im Seitenblick“ auf ihre Mitmenschen: in Identifizierung mit den einen und in Abgrenzung von anderen.

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Von daher waren ihre Erwartungen gegenüber Jesus von Anfang an zwiespältig. Einerseits kannten sie ihn, der doch bei ihnen aufgewachsen war, als einen außerordentlich begnadeten Menschen, sodass sie ihm auf seine Selbstdarstellung als Messias hin, „ein zustimmendes Zeugnis geben konnten“ (Lk 4,22a). Anderseits war ihr Verhältnis zu ihm getrübt durch kleinliche Empfindlichkeiten: darüber, dass einer, der einst gleich war wie sie, nun als Prophet oder gar Messias Karriere machen sollte, und darüber, dass er – wenn schon – mit seinem wunderbaren Wirken nicht bei ihnen angefangen, sondern Kafarnaum bevorzugt hatte.

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Dennoch wurden sie von der Begegnung mit Jesus zuinnerst erreicht: Ein neuer Zugang zu Gott öffnete sich für sie und damit die Möglichkeit, sich ihre Identität und ihren Selbstwert neu von Gott her zusprechen zu lassen. Das heißt, dass ihr Blick primär auf Gott ausgerichtet wurde und nicht – im sich und andere prüfenden Seitenblick – auf die anderen.26 Genau das finden wir in der lukanischen Erzählung bestätigt: „Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet“ (Vers 20) – und nicht auf das mutmaßliche Urteil ihrer Nachbarn. So konnten ihm alle ein zustimmendes Zeugnis geben, wie Vers 22a in wörtlicher Übersetzung besagt. Aber dieser aufkeimende Glaube vermochte sich in der Versammlung nicht durchzusetzen. Er erstickte alsbald an überhandnehmenden Vorbehalten. Wie es dazu kam, können wir uns folgendermaßen vorstellen:

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Alle Teilnehmer am Synagogengottesdienst kamen je für sich zur erfahrungsgestützten Gewissheit: Jesu Aussage vom gegenwärtig mit ihm anbrechenden Gottesreich ist auf eine tiefe Weise wahr. Aber statt diese Erfahrung freimütig vor allen zu bezeugen, hält sich jeder zurück. Die einfachen Synagogenbesucher warten vorsichtig ab, bis die Anführer und Experten die Echtheit von Jesu Zeugnis bestätigen. Diese aber sind durch die außerordentliche Situation nicht weniger überfordert, und ein Urteil ist für sie noch riskanter. Was wird aus ihrem Ansehen, wenn sie einem falschen Propheten auf den Leim gehen sollten? So halten auch sie sich bedeckt. Es entsteht eine Atmosphäre reservierter Zurückhaltung, die sich alsbald zum allgemeinen Eindruck verdichtet: An der Sache ist etwas faul. Unter diesem Einfluss kommen die Synagogenbesucher nach und nach zur Gewissheit, dass ihr ers-ter, positiver Eindruck von Jesus falsch war.

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Der Dreischritt von Lukas – „seine Rede fand bei allen Beifall; sie staunten darüber, wie begnadet er redete, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?“ – beschreibt auf präzise Weise, wie sich ein Gnaden-Kairos für die Einwohner Nazarets binnen weniger Augenblicke in Nichts auflöst. Und warum? Weil die Menschen in ihre taxierende Seitenblick-Mentalität zurückgefallen sind. Anstatt auf Gott und seine Gegenwart in Jesus zu schauen – wie noch kurz zuvor: „Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet“ –, schielen sie auf die Reaktion ihrer Nachbarn.

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Was kann Jesus in dieser Situation noch tun? Der Gnaden-Kairos ist unwiederbringlich dahin. Ein neuerlicher Auftritt von Jesus in derselben Synagoge wäre absurd. So bleibt ihm nur die Möglichkeit, jene verhängnisvollen Ursachen aufzudecken, welche den Kairos vereitelten. Und genau das tat Jesus mit seinen provozierenden Worten auf stärkstmögliche Weise.

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Aggressivität und Gewalt aufgrund von Identitätskrisen

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Von daher lässt sich nun auch das extrem aggressive Verhalten der Einwohner Nazarets begreifen. Wir müssen uns die Synagogenbesucher als durchschnittlich mehr oder weniger friedliche Menschen vorstellen, so wie wir alle. Aber es gibt einen Punkt, an dem unsere Gutmütigkeit ein jähes Ende findet: wenn die persönliche oder gemeinschaftliche Identität ernsthaft bedroht wird. Das passiert, wenn Menschen ihre Identität durch Abgrenzung gegen andere Menschen und Gruppen definieren, und wenn diese Grenzen von jemandem erfolgreich in Frage gestellt werden. Das Resultat ist eine persönliche oder gemeinschaftliche Identitätskrise. Sie wird als Bedrohung der eigenen Existenz erlebt und dementsprechend aggressiv bekämpft: Existenzbedrohung gegen Existenzbedrohung.

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Diese Mechanismen der Gewalt sind nicht zwingend. In dem Maß, als Menschen ihre Identität aus einer verdankten Bezogenheit auf andere – auf positive Ziele und letztlich auf Gott – gewinnen, sind für sie Grenzüberschreitungen zwischen Dazugehörigen und Außenstehenden unbedrohlich. Überdies: Jeder Mensch, jede Gemeinschaft und jede Gesellschaft braucht auch Abgrenzung, damit Intimität möglich ist und Überforderung verhindert wird. Das ist an sich nicht schlecht. Problematisch wird es erst, wenn diese Grenzziehungen zur Sicherung von Identitäten herhalten müssen, gemäß dem Prinzip: Wir sind, wer wir sind, weil wir nicht so sind wie diese oder jene anderen.

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Von Schöpfung an ist jedem Menschen durch Gott eine einmalige, wunderbare Identität zugesagt. Diese Erfahrung, gut, erwünscht und geliebt zu sein, wird in heiler Gemeinschaft durch zwischenmenschliche Liebe vermittelt. Die liebende, bedingungslose Identitätszusage, die für den Menschen von Kindheit an überlebenswichtig ist und in ihm ein Urvertrauen begründet, kann auf verschiedenste Weisen beeinträchtigt werden. Früher oder später ‚lernen‘ Menschen, dass ihr Geliebt- und Akzeptiertsein nicht bedingungslos ist, sondern von Leistungen abhängt: davon, wie sie wirken, was sie haben und was sie können.

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Religiöser Glaube kann ein starkes Fundament geben für die Erfahrung eines Geliebtseins, das nicht von der Akzeptanz durch bestimmte Menschen abhängt. Denn letztlich ist es Gott, der uns – auch an enttäuschenden Bezugspersonen vorbei – bedingungslos zusagt: „Es ist gut, dass es dich gibt; du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter.“

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Aber auch Religion kann durch die „Sünde der Welt“ (Joh 1,29) beeinträchtigt und sogar pervertiert werden. Viele religiöse Menschen meinen, auch vor Gott erst durch Leistung und vorweisbare Gutheit brillieren zu müssen, bevor sie von ihm geliebt und akzeptiert werden. So versuchen Menschen, erst aus Eigenem heraus „wie Gott“ (Mt 5,48) gütig, gerecht und barmherzig zu sein, bevor sie Gott unter die Augen treten. Und mitten in diesen moralischen Anstrengungen übersehen sie, dass sie genau damit den Sündenfall wiederholen und weitertreiben: nämlich ohne Gott wie Gott sein zu wollen. Gottes Gebote, die eingerichtet wurden, um uns zu einer Lebensform in positiver Bezogenheit zu Gott, Mitmensch, Welt und sich selbst zu verhelfen, werden auf diese Weise selbst zu Feigenblättern, mittels derer man seine religiöse Identität in Identifizierung mit den einen und in Abgrenzung zu anderen sicherstellen kann:

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„Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort. Ich faste zweimal in der Woche und gebe dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens.“ (Lk 18,12)
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Religiöse Identität wird auf diese Weise abhängig von der Ausgrenzung anderer. Der selbstgerechte Pharisäer weiß nicht mehr, wer er ist, wenn es das Negativbeispiel des Zöllners nicht mehr gibt. Er muss in eine Identitätskrise fallen, wenn Jesus mit Zöllnern isst und ihnen die gleichen Heilschancen wie den Juden einräumt. Eine verbreitete Redewendung bringt diese Identitätskrise auf den Punkt: „Wer sind wir denn, dass dieser da auch noch zu uns gehören soll?“

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Gottverdankte Identität als heilvolle Alternative zur „Seitenblick-Identität“

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Von daher wird die Brisanz von Jesu Gottesreichbotschaft verständlich, – und zwar ausgehend von ihrer innersten Sinnmitte. Diese besteht in einer neu durchbrechenden Bezogenheit zum wahren Gott, der hinter Sünde und falscher Gesetzlichkeit verborgen und verzerrt war wie die Sonne hinter einer dicken Smogschicht. Menschen, denen in der Begegnung mit Jesus Gott neu aufgeht, wissen auf einmal, wer sie sind: Gottes geliebte Kinder (Eph 5,1). Sie brauchen keine Menschen und Gruppen mehr, von denen sie sich distanzieren oder mit denen sie sich identifizieren, um ihre Identität sicherzustellen.

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Etwas davon erfuhren auch die Menschen aus Nazaret, als sie in der Synagoge „die Augen auf Jesus richteten“ (Lk 4,20) und seinen Worten zustimmten. Unvorbereitet und unverdient wurden sie durch die Begegnung mit Jesus ein Stück weit in die Erfahrung einer von Gott her geschenkten Identität hineingerissen. Aber sie fielen in die gewohnte Haltung zurück, ihre Identität und damit auch ihr Urteil von anderen her bestimmen zu lassen: als Nazarener im Gleichklang mit ihren Nachbarn und im Gegensatz zu Kafarnaum; als Juden im Gleichklang mit den Glaubensgeschwistern (selbst jenen aus Kafarnaum!) und im Gegensatz zu den Heiden. So waren sie zwischen zwei grundverschiedenen Ausrichtungen der Identitätssicherung hin und her gerissen: positiv-bezogene Identität im dankbar empfangenden Blick auf Gott oder negativ-grenzende und identifizierende Identität im Seitenblick auf „die anderen“. Auf diese Weise wurden sie durch den Kairos ihrer Gottesbegegnung in eine Wahlsituation gestellt. Alles hing nun davon ab, dass sie „umkehrten und an das Evangelium glaubten“ (Mk 1,15), das heißt, dass sie mit ihrer ganzen Existenz auf jenen neu aufbrechenden Gottesbezug setzten, der ihnen gnadenhaft bereits eröffnet war.

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Aber unter dem kollektiven Sog der Synagogenversammlung folgten sie ihrer Seitenblick-Mentalität und entschieden sich gegen den aufkeimenden vertrauensvollen Blick auf Gott. Dieses Nein zu Gott war eine folgenschwere Entscheidung. Von nun an waren sie in weit schärferem Maß den Dynamiken einer Identitätssicherung durch Abgrenzung ausgeliefert. In der nachfolgenden Konfrontation mit Jesus wurde das sichtbar.

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Mit der Erzählung von Jesus in Nazaret hat Lukas ein „Evangelium im Evangelium“ verfasst: eine Kurzfassung von Jesu Wirken, begonnen mit seinem ersten öffentlichen Auftreten bis knapp vor seinen gewaltsamen Tod. Lukas unternahm dies nicht in der Weise eines historischen Berichts, sondern in einer ‚narrativen Tiefenanalyse‘ der bestimmenden Kräfte. Dafür brauchte er kein tiefenpsychologisches Instrumentar und keine soziologischen Begriffe. Er erzählte eine höchst spannungsreiche Geschichte, scheinbar voller Brüche, aber nachvollziehbar, wenn wir ihr einfühlend folgen, – das heißt, wenn wir uns mit unseren eigenen Gnadenerfahrungen und unserem Erfahrungswissen um Verstrickungen in Sei-ten-blick-Identität auf dieses Geschehen einlassen. Man muss die Geschichte als Bibliodrama spielen, dann werden ihre Brüche und Eskalationen nachvollziehbar.

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Was wir anhand dieser Erzählung exemplarisch aufzeigen konnten, ließe sich von anderen Evangelientexten her erhärten, zum Beispiel den johanneischen Streitreden in Joh 6–8 (Sandler 2009a). In ihnen fühlen sich „Juden, die an Jesus glaubten“ (Joh 8,31) von ihm immer schärfer provoziert, bis Jesus ihnen vorwirft, dass sie beabsichtigen, ihn zu töten, und sie mit dem Urteil konfrontiert:

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„Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.“ (Joh 8,44)
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Wie aber gehen derart harte Attacken zusammen mit dem Jesus der Gottesreichbotschaft, durch den sich Gott den Sündern bedingungslos und in großer Güte zuwendet? Eine Antwort wurde in diesem Kapitel bereits vorbereitet. Sie soll im Folgenden vertieft werden.

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4. „Weh euch …“ – Jesu Botschaft vom Gottesreich als Provokation und Bedrohung

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Zwei Gesichter Jesu?

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In den Evangelien gibt es scheinbar zwei Gesichter von Jesus. Einerseits erscheint er als Abbild des barmherzigen Vaters, wenn er heilt, Sünden vergibt und ein Gnadenjahr des Herrn ausruft. Anderseits tritt er als strenger Richter auf. Er verurteilt Menschen aufs Schärfste und droht mit ewigen Höllenqualen (vgl. Mt 5,29f; Mt 23,33). Wie gehen diese beiden Gesichter Jesu miteinander zusammen?

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Eine Antwort hat sich uns schon von der Nazaret-Erzählung her nahegelegt: Jesus konfrontiert nur jene Menschen, die einen Kairos erfuhren und zurückwiesen. Menschen, denen Gottes Gegenwart neu aufgegangen war und die nicht bereit waren, daraus in Umkehr und Glaube die Konsequenzen zu ziehen, liefen Gefahr, Gott verschärft zurückzuweisen und in einen schlimmeren Unglauben zu fallen. Jesus deckte die destruktiven Kräfte in und zwischen den Menschen auf, welche sie davon abhielten, ihr Leben gemäß ihrer Gotteserfahrung auszurichten. Diese Aufdeckung konnte durch anklagende Worte erfolgen – „ihr habt den Teufel zum Vater“ (Joh 8,44) – oder durch ein provokantes Verhalten, welches ihre Ungerechtigkeit, Unaufrichtigkeit und Gewaltbereitschaft zum Vorschein brachte: mit seiner provokanten Rede in der Synagoge von Nazaret, oder mit seinen Krankenheilungen am Sabbat, der nach jüdischem Rechtsverständnis von aller Arbeit frei zu halten ist.

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Aus diesen Zusammenhängen lässt sich ein Prinzip der Schriftauslegung gewinnen: Wo immer Jesus Menschen tadelt oder ihnen droht, haben sie vorher in der Begegnung mit ihm einen Kairos von gnadenhafter Gottesnähe erfahren, dem sie nun nicht entsprechen. Jesu Kritik ist nie Kritik an anderen, Unbeteiligten. Er folgt niemals dem Prinzip einer kollektiven Identität, wonach Gemeinschaft durch gemeinsame Feinde sichergestellt wird. Wenn Jesus Menschen um sich sammelt, dann keinesfalls durch einheitsstiftende Ausgrenzung von anderen.

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Deutlich wird das auch im Johannesevangelium, das härteste Worte Jesu gegen „die Juden“ enthält, und dem deshalb schon öfters eine judenfeindliche Ausrichtung unterstellt wurde. Ein näherer Blick bestätigt unser Deutungsprinzip: Wenn Jesus den Juden vorwarf, sie hätten den Teufel zum Vater (Joh 8,44), so zeigt der Zusammenhang, dass sich dieser Tadel an die Juden richtete, „die an ihn glaubten“ (Joh 8,31).
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Das Gleiche haben wir bei Jesu Predigt in Nazaret gesehen: Jesu Kritik richtet sich an Menschen, die ihm zuvor die Wahrheit seines Anspruchs bezeugen konnten.

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Hatte Jesus einen schlechten Charakter?

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Unsere Erklärung wirft immer noch ein gewisses Zwielicht auf Jesus. Sie scheint ja zu besagen: Solange Menschen Jesus zujubeln und ihm Glauben schenken, können sie alles von ihm haben: Zusage des Gottesreichs, Heilungen, Wunder, Zuspruch von Sündenvergebung. Wenn sie ihn aber ablehnen, dann werden sie von ihm beschimpft, provoziert und mit Höllendrohungen traktiert. Der religionskritische Philosoph Bertrand Russell hat in seinem Büchlein „Warum ich kein Christ bin“ (Russell 1968) diese Doppelgesichtigkeit angeprangert und von daher Jesus einen schlechten Charakter unterstellt. Heute würden wir von einem narzisstischen Menschen sprechen, von dem man alles haben kann, solange man seine grandiosen Selbstvorstellungen unterstützt, der aber gegen jeden, der ihm die Zustimmung versagt, mit narzisstischer Wut vorgeht.

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Gegen eine solche Kritik können wir von unserer bisherigen Jesusdarstellung her einiges einwenden:

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1. Jesus hat nicht sich verherrlicht, sondern seinen himmlischen Vater. Sein ganzes Leben war von einer Haltung des Gehorsams Gott gegenüber geprägt, der sich vor allem in den Versuchungsgeschichten zeigte. Russells „Mensch mit einem schlechten Charakter“ oder ein größenwahnsinniger – weil eine tiefe Ichschwäche überspielender – Narzisst würde auf jede der drei Versuchungen voll eingestiegen sein.

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2. Was Jesus den Menschen im Zuge seiner Gottesreichverkündigung zusagte, war keine haltlose Phantasterei, sondern durch Taten untermauert. Die Menschen konnten Befreiung und Heil auf allen Ebenen tatsächlich erfahren.

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3. Jesu Kritik und seine Provokationen waren sachlich berechtigt. Sie deckten tatsächlich eine „Gott-lose“ und in diesem Sinn sündige Grundhaltung auf, welche die Menschen auch von ihren Mitmenschen, der Welt und sich selbst entfremdete. In unserer Analyse der Nazaret-Erzählung verdeutlichten wir diese korrekturbedürftige Grundhaltung als Seitenblick-Mentalität.

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4. Jesus hat die Menschen, die er provozierte und kritisierte, nicht einfach sich selbst überlassen. Vielmehr unternahm er alles, um sie vor den letzten Konsequenzen ihrer Verweigerung zu bewahren: der Hölle als einer unrettbaren Selbstabschneidung von Gott und Welt, von anderen und sich selbst. Diesen Punkt werden wir im folgenden Kapitel noch deutlicher herausarbeiten.

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Trotzdem ist Russells Kritik damit noch nicht restlos ausgeräumt:

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zu 1. Woran soll man Jesu Gottesgehorsam erkennen, wenn er sich selbst zum Maßstab des göttlichen Gesetzes machte, indem er das Sabbatgebot brach und andere Gebote in der Bergpredigt maßlos verschärfte? Was soll man von dem ungeheuren Selbstanspruch halten, mit dem er auftrat, als er den Glauben an Gott von der Annahme seiner Person abhängig machte? (Joh 15,23)

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zu 2. Jesu Zeichen und Wunder Jesu sind heute wie damals umstritten. Schon damals hat man seine Wunder in Frage gestellt (Joh 9,18), auf widergöttliche Mächte zurückgeführt (Mk 3,22) oder schlichtweg ignoriert (Joh 6,30: unmittelbar nach dem Wunder der Brotvermehrung!). Heute gibt es nicht nur ein allgemeines Misstrauen gegenüber Wundern, sondern auch bibelkritische Verfahren, welche die biblischen Wunderberichte von vornherein relativieren (Sandler 2008, Kap. 3.1).

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zu 3. Hat Jesus die Aggressionen gegen ihn durch sein provokantes Verhalten nicht vielmehr erzeugt als bloß hervorgerufen?

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zu 4. Was hat Jesus unternommen, um seine Gegner vor dem Gericht zu bewahren? Hat er sie nicht in ein Verhalten getrieben, mit dem sie sein Blut auf sich und ihre Kinder herabriefen (Mt 27,25)? Und wurde das Kreuz in der Kirchengeschichte nicht zum Zeichen von Antijudaismus und von unterdrückender Sündenspiritualität?

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Grenzen der Argumentation – Es geht auch um eine existenzielle Entscheidung

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Auch die zuletzt genannten Einwände lassen sich entkräften,27 aber die Debatte wird sich auf einer rein theoretischen Ebene nicht entscheiden lassen. Es ist auch eine Sache von existenzieller Entscheidung. Damit ist nichts gesagt gegen eine intellektuelle Verantwortung unseres Glaubens, wohl aber über deren Grenzen. Glaube kann weder durch unbezweifelbare Wunder noch – rationalistisch – durch „wasserdichte“ Vernunftargumente erzwungen werden, sondern lässt immer auch Spielraum für eine freie Entscheidung. Was wir aufweisen können, ist eine Sicht von Jesus als Gottessohn und Erlöser, die in sich stimmig und mit unserem Erfahrungswissen vereinbar ist, – nicht aber, dass jede Jesuskritik absolut haltlos und indiskutabel ist.

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Wenn wir versuchen, das in den Evangelien niedergeschriebene Christusereignis ausschließlich „objektiv“ zu diskutieren – das heißt unter Absehung von unseren letzten Grundeinstellungen zu Gott und Welt –, dann werden wir die von Jesus erhobenen Ansprüche nicht nachvollziehen können. Wie bei den Menschen, die damals Jesus begegneten, so ist es auch bei uns heute, wenn wir durch die biblischen Schriften und durch das Zeugnis von Christen mit Jesus zu tun bekommen: Wir kommen erst vom Fleck, wenn wir uns mit unseren Erfahrungen von Staunen und Dank, mit unseren Sehnsüchten und Ängsten, Ressentiments und Fixierungen einbringen.

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Warum „Ohne Christus kein Heil“ nicht intolerant ist

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So hielten wir es mit der Nazaret-Erzählung von Lukas: Indem wir unsere eigene Verfangenheit in Seitenblick-Identitäten ins Spiel brachten, konnten wir die Brüche und Eskalationen der Erzählung nachvollziehen. So wurde deutlich, dass es mit dem Ja oder Nein zu Jesus als dem Messias zugleich um eine Grundentscheidung für eine gottbezogene oder eine negativ-grenzende Identität geht, – und damit um eine Entscheidung für oder gegen Gott selber.

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Eine derart vertiefte Konfrontation mit Jesus bedeutet, dass ein Nein zu ihm nicht andere Zugänge zu Gott offen lässt. Wenn wir uns solcherart mit dem Gewicht unserer ganzen Existenz auf die Herausforderung Jesu einlassen, dann gilt für uns – heute wie damals:

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„Er [Jesus] ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist. Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.“ (Apg 4,11f)
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Damit ist zunächst noch nichts gesagt über die Heilsmöglichkeit von Nichtchristen.28 Es geht hier nicht um „den Menschen“, sondern um „uns Menschen“. Das heißt, der Anspruch einer Rettung nur durch Christus trifft Personen, die in ihren existenziellen Fragen vom Christusereignis getroffen wurden.

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Dieses Buch unternimmt eine „dramatische Bibeldeutung“29, die den Leser bzw. die Leserin in eine solche existenzielle Konfrontation hineinführen will. Wo es zu einer solchen Konfrontation kommt, wird Jesus alternativlos als „Weg, Wahrheit und Leben“ (Joh 14,6) aufscheinen, an dem vorbei der Weg zum himmlischen Vater versperrt ist (nochmals Joh 14,6). Ob und inwieweit es zu einer solchen existenziellen Jesus-Begegnung kommt, kann allerdings auch durch eine solche dramatische Methode nicht vorentschieden werden. Da der Anspruch von Jesus als einzigem Heilsmittler nur jene Menschen richtet, die ihm voll begegnet sind (vgl. S. ), führt der hier erhobene Anspruch nicht in einen fundamentalistischen Heils-Exklusivismus. Wer – heute wie damals – faktisch zu Jesus nein sagt, ist ihm vielleicht noch nicht mit der vollen Wucht seiner Existenz begegnet. Er verbleibt in den Bereichen indirekter Gottesbegegnungen, die überall in der Welt vermittelt werden durch den Heiligen Geist, der „weht, wo er will“ (Joh 3,8).

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Diese Möglichkeiten zu einer indirekten Gottesbegegnung werden hingegen von Menschen behindert, die Christus in einer direkten30 Begegnung mit ihm zurückgewiesen haben. Dies ist der Fall, wenn sie in der Jesusbegegnung mit den verborgenen Prinzipien ihrer Identitätsbildung konfrontiert wurden und die Chance, ihre Identität in tieferer Weise positiv-bezogen von Gott her zu empfangen, nicht ergriffen. Warum also sollte ein Pharisäer nicht in einer Religion der Gesetzestreue Gott finden können, auch wenn er den Mann aus Nazaret abgelehnt hat? Das wird dann nicht möglich sein, wenn dieser Pharisäer in der Zurückweisung Jesu zugleich eine Grundentscheidung über das Wie seiner Gesetzesfrömmigkeit getroffen hat. Wenn er sich im Kairos der Jesus-Begegnung auf eine Seitenblick-Identität festgelegt hat, wird ihm das Gesetz zum Fluch werden, – nicht weil das Gesetz in sich schlecht wäre, sondern weil (und insofern) er es fortan in einer pervertierten Weise gebrauchen würde.
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Der „Community-Test“

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Es war nicht so, dass Jesus mit einer sanften Frohbotschaft angefangen und erst in Reaktion auf seine Ablehnung provokant geworden wäre. Er lehrte und lebte von Anfang an eine Botschaft bedingungsloser Liebe, die die Menschen nicht nur erfreute, sondern auch verstörte. Zu dieser Botschaft gehörte, dass er Personen, die am Rand standen – Kranke, Besessene, Sünder, aber auch Frauen und Kinder – in die Mitte hereinholte (Mk 3,3; Mk 9,36). Das war ein Zeichen von Gottes bedingungsloser Liebe und Vergebungsbereitschaft, und zwar nicht nur für die Menschen am Rand, sondern für alle. Denn jeder konnte so die Gewissheit empfangen: Wenn Gott diesem Sünder vergeben kann, dann auch mir in meiner Bedürftigkeit. Diese Erfahrung eines vergebenden Gottes ermöglichte wiederum, gesellschaftlich abgewertete Menschen mit den Augen Jesu anzuschauen. So weitete sich die von Jesus vermittelte Gotteserfahrung auf unheile Bereiche der persönlichen und gemeinschaftlichen Existenz aus. Das Samenkorn von Jesu Gottesreichbotschaft konnte wachsen.

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Aber „die Sorgen der Welt, der trügerische Reichtum und die Gier nach all den anderen Dingen“ (Mk 4,19) drohen dieses Samenkorn zu ersticken. Der Blick irrt von Gott ab und orientiert sich an den anderen. Für Menschen, die in einer solchen Seitenblick-Identität verfangen sind, gewinnt Jesu barmherzige Hereinholung eines Draußenstehenden (die für Bedürftige trostvoll ist) eine völlig entgegengesetzte Bedeutung. Sie wird zum Stein des Anstoßes, indem sie den empörten Ausruf provoziert: „Wer sind wir denn, wenn diese da – ohne jede Zulassungsbedingung – einfach uns, dem erwählten Gottesvolk zugezählt werden?“ Auf diese Weise nahmen Menschen Anstoß daran, wenn Jesus mit verachteten Zöllnern aß (Lk 5,29f) oder einer Sünderin Vergebung zusprach (Joh 8,3–11).

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All das macht deutlich: Jesus hat nicht irgendwann angefangen, absichtlich zu provozieren. Vielmehr war seine gelebte Gottesreichbotschaft von Anfang an zugleich liebevoll und provokant. Sie scheidet die Geister: In dem Maß, als Menschen und Gemeinschaften offen sind für eine gottgeschenkte, positiv-bezogene Identität, entwickeln sie eine spontane Freude, wenn ein „verlorenes Schaf“ von Jesus in ihre Mitte geholt wird: Freude darüber, dass wieder jemand dazugekommen ist in die zum Heil berufene Gemeinschaft. In dem Maß aber, als Menschen und Gemeinschaften ihre Identität der einheitsstiftenden Abgrenzung gegenüber anderen verdanken, werden sie durch Jesu Hereinnahme von Außenstehenden zwangsläufig in eine Identitätskrise getrieben.

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Positiv-bezogene, gottverdankte Identität und negativ-grenzende Seitenblick-Identität sind idealtypische Formen, die in Reinkultur so nicht vorkommen. Konkrete Menschen und konkrete Gemeinschaften haben Anteile von beidem, – in der Weise einer kaum scheidbaren Vermischung. Hier bewirkt der Kairos der Jesusbegegnung zwei Dinge: Erstens trifft eine Erfahrung positiv-bezogener Identität wie ein Lichtstrahl mit großer Intensität auf bestimmte Bereiche menschlichen Wahrnehmens, Fühlens und Wollens. Dieser Durchbruch hat die Tendenz, sich über alle Seinsbereiche des einzelnen Menschen und über die ganze Gemeinschaft auszubreiten. Damit werden – zweitens – die verborgenen Anteile einer fixierten Seitenblick-Identität unerbittlich an die Oberfläche getrieben.
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Hier kommt es zur Konfrontation gegenstehender Mächte, wie in einer Schlacht. Bastionen einer negativ-grenzenden Identität können durch die entwaffnende Erfahrung vorbehaltloser Liebe im Sturm genommen werden. Es kann aber auch zu aufreibenden (inneren) Kämpfen kommen. Oder die Bastion negativ-grenzender Identität erweist sich als uneinnehmbar, sodass die ansatzweise Erfahrung einer befreiten Identität hieran kläglich zerbricht. In all diesen Dynamiken, die in und zwischen Menschen spielen, ist deren Entscheidungsfreiheit in unterschiedlichem Maß beteiligt. Vor allem in Anfangsphasen eines solchen Kairos können Menschen durch das Erfahrene überwältigt, zerrissen und völlig überfordert werden. Die Bibel beschreibt das mit stärkstmöglichen Begriffen menschlicher Erschütterung.31 Später, wenn die Wucht des Ereignisses verblasst und die alltäglich dominierenden Auffassungen wieder aufleben, kommt der Moment, wo alles auf die freie Entscheidung des von Gott angerührten Menschen ankommt.
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Wo Menschen sich durch eine Abgrenzung gegen bestimmte Andere definieren, wird Jesu liebevolle Hereinnahme dieser Außenstehenden zum Skandal. Jesu integrierendes Verhalten hat von daher eine dramatische Wirkung auf die durchschnittlichen Mischungen menschlicher Identitäts-Anteile. Es fällt sie auseinander und macht die positiv-bezogenen und negativ-grenzenden Anteile für sich sichtbar und wirksam, – wie ein Lackmustest in der Chemie. So übt Jesus auf Menschen und Gemeinschaften eine Wirkung aus, die man geradezu als Community-Test bezeichnen kann.

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Dabei ist klarzustellen: Jesus testet die Menschen nicht aus; er ist dieser Test, und zwar gerade dadurch, dass er Gottes Heilshandeln vergegenwärtigt. Auf diese Weise ist er von Anfang seines Auftretens an Richter, scheidendes Gotteswort, Stein des Anstoßes und Zeichen, das aufrichtet und dem widersprochen wird.

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„Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens.“ (Hebr 4,12)
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„Und Jesus sagte zu ihnen: Habt ihr nie in der Schrift gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, er ist zum Eckstein geworden; … wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen der Stein aber fällt, den wird er zermalmen.“ (Mt 21,42–44)
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„Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden.“ (Lk 2,34f)

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Ein berüchtigter Gesetzesbrecher?

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Jesus provozierte durch seinen liberalen Umgang mit dem Gesetz. Seine Jünger verzichteten auf rituelle Waschungen vor dem Essen und fasteten nicht. Vor allem aber übertrat er das Sabbatgebot, indem er immer wieder am Sabbat heilte und so das strenge Arbeitsverbot durchbrach (Mk 3,2).

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Dennoch verhielt sich Jesus in keiner Weise gesetzlos. Vielmehr konzentrierte er sich auf die personale Mitte des Gesetzes: Gott zu lieben mit ganzem Herzen und seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst (Mk 12,30f). Von dieser Mitte her relativierte er die vielen anderen Gebote. „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat …“ (Mk 2,27). Damit stellte sich Jesus in eine lange jüdische Tradition prophetischer Gesetzeskritik (vgl. Mt 9,13 mit Hos 6,6). Aber er sprengte diesen Rahmen auch, wenn er sich selbst als Mitte des Gesetzes darstellte: „… deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat“ (Mk 2,28).

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Herr über den Sabbat und andere Gesetze ist Jesus aber nicht aus Willkür, sondern in einem Gehorsam, mit dem er sich in jedem Augenblick von Gott führen lässt und auf diese Weise den Willen des göttlichen Vaters repräsentiert. „Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht“ (Joh 5,19). Jesus heilte, wenn er sich vom Vater dazu beauftragt und vom Heiligen Geist dazu getrieben sah – oft durch eine mitfühlende Erschütterung über leidende Menschen, welche spontan in ihm aufstieg (Joh 11,33) –, und er unterließ diese Heilungen, ja konnte nichts tun, wenn er keine Beauftragung spürte (Mk 6,5). Von daher gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Jesus mit seinen Heilungen am Sabbat absichtlich provozierte. Jesus ließ sich unmittelbar von der Hilfsbedürftigkeit von Menschen ansprechen und heilte sofort, – egal an welchem Wochentag. Am Sabbat gab es dann Probleme, und so schlugen die Sabbatheilungen höhere Wellen. Die Evangelien berichten bevorzugt von Heilungen am Sabbat. Hier zeigte sich, woran der Same des Gottesreichs ersticken konnte.

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Mit dieser bedingungslosen Ausrichtung auf Gottes Führung ist Jesus Herr über den Sabbat und über alle Gesetze. Hierin ist er uns Vorbild: personale Mitte des Gesetzes und Mittler von Gottes Willen. Unser Zugang zu Gott ist durch Sünde beeinträchtigt, sodass wir uns nicht so unmittelbar von Gott führen lassen können. Jesus offenbarte sich uns als Weg zum Vater und – über Tod und Auferstehung – als Spender des Heiligen Geistes. Durch eine Ausrichtung unseres Lebens auf ihn und – wie er und durch ihn – geführt vom Heiligen Geist können wir Gottes Gebote von ihrem personalen Zentrum der Gottesliebe her und in einer darin gründenden Nächstenliebe erfüllen. Ausgehend von dieser Mitte können wir mühelos das ganze Gesetz halten, und zwar in einer vollkommeneren Weise, als es konkrete Durchführungsbestimmungen – mit ihren Kompromissen gegenüber menschlicher Hartherzigkeit (Mt 19,8) – vorsehen.

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„Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 5,18–20)
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Paulus hat genau diesen Ansatz in seiner Gesetzeskritik ausgefaltet:

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„Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen. Hört, was ich, Paulus, euch sage: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. Ich versichere noch einmal jedem, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Wenn ihr also durch das Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr zu tun; ihr seid aus der Gnade herausgefallen. Wir aber erwarten die erhoffte Gerechtigkeit kraft des Geistes und aufgrund des Glaubens. Denn in Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist …
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Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! … Darum sage ich: Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht erfüllen. … Wenn ihr euch aber vom Geist führen lasst, dann steht ihr nicht unter dem Gesetz.“ (Gal 5,1–18)
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Jesu notorische Ungerechtigkeit

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In mehreren Aussagen und Gleichnissen tritt Jesus unser übliches Gerechtigkeitsverständnis geradezu mit Füßen. „Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzten“ (Mt 20,16). Dass die arme Witwe, die einen Pfennig in den Opferstock warf, mehr gegeben hatte als alle anderen, weil sie alles gab, was sie besaß (Lk 21,3), ist uns noch nachvollziehbar. Aber das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ist eine Ohrfeige für ein durchschnittliches Gerechtigkeitsempfinden, ob-wohl es einer ähnlichen Logik wie Jesu Wort über die Witwe am Opferstock folgt. Denn was können die erst gegen Abend angeworbenen Taglöhner dafür, wenn sie vorher niemand angeheuert hat. Dass sie dennoch den vollen Tageslohn – einen Denar – erhalten, würde man als besondere Großzügigkeit des Weinbergbesitzers noch durchgehen lassen. Dass aber jene, die länger gearbeitet haben, nicht mehr erhalten, ist nach den Maßstäben unserer leistungsorientierten Welt – damals wie heute – ein Skandal:

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„Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten. Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten nur einen Denar. Da begannen sie, über den Gutsherrn zu murren, und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen. Da erwiderte er einem von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin? So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“ (Mt 20,8–16)
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Das von Jesus aufgezeigte Problem besteht in einer Sei-ten-blick-Gerechtigkeit. Dem Kontrakt wurde voll Genüge getan, aber im Vergleich zu den Arbeitern der letzten Stunde fühlen sich jene, die den ganzen Tag gearbeitet haben, benachteiligt. Wie der Weinbergbesitzer zu Recht unterstellt, handelt es sich um ein Problem des Neides. Hätten die Arbeiter der letzten Stunde nur einen Bruchteil des vereinbarten Tageslohnes erhalten, so wären alle zufrieden gewesen. Das Prinzip des Gottesreichs, welches Jesus hier einmahnt, ist die Freiheit des Gebers zur Übererfüllung: „Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?“ (Vers 15) – Das Gottesreich ist freie Gabe, die nicht verdient werden kann. Wer sich dafür anstrengt, um es zu verdienen, ist schlechter dran als jemand, der gar nichts dafür getan hat. Denn im Gegensatz zu diesem muss er erst seine Anspruchshaltung verlernen, – wie der Pharisäer, der Gott dafür dankt, dass er nicht so ist wie der Zöllner dort hinten, sondern als Gerechter lebt (Lk 18,11). In das Himmelreich kommt man nur in der Haltung eines Kindes: unverdient (Mk 10,15). Das ist nicht nur geistlich erbaulich, sondern auch logisch: Die wesentliche Zusage, die wir von Gott erhalten, besteht in der Erfahrung, von Gott geliebt zu werden, das heißt bedingungslos angenommen zu sein. Diese Erfahrung wird durch den Eindruck, Anerkennung verdient zu haben, blockiert.

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Aber wird damit nicht jede moralische Anstrengung untergraben? Nein, sie erhält nur eine andere Funktion und Position. Die Erfahrung, bedingungslos geliebt und angenommen zu sein, ermächtigt und beauftragt Menschen, „hinzugehen und genauso zu handeln“ (Lk 10,37). „Genauso“ heißt, dasselbe genauso zu tun, das heißt ebenso ohne jede Berechnung. Daher die Aufforderung Jesu, nicht nur seine Freunde einzuladen, sondern jene, die es nicht zurückzahlen können (Lk 14,12–14). Wer sich so verhält, „wird einen bleibenden Schatz im Himmel haben“ (Lk 18,22), – natürlich nicht in der Weise eines Anspruchs und Guthabens, sondern im Sinne der wunderbaren Erfahrung, an der Verbreitung des Himmelreichs – der Wahrheit der bedingungslosen Liebe – mitwirken zu dürfen.

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Das Gleichnis vom benachteiligten Sohn und vom unverantwortlichen Vater

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Die – nach unseren Maßstäben – „Ungerechtigkeit“ des Gottesreichs spitzt sich aufs Äußerste zu im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Dieses Gleichnis ist uns so vertraut, dass wir seine Ecken und Kanten kaum noch wahrnehmen. Das gilt auch für die Rolle des älteren Sohnes, die oft problematisiert, aber dann doch moralisch interpretiert und so entschärft wird: Es ist eben einfach unschön, wie der Ältere seinem jüngeren Bruder die erfahrene Barmherzigkeit neidet. Und weil das Gleichnis doch am ehesten von guten Christen gehört wird – den Kirchgängern, die beim Vater geblieben sind und für ihn arbeiten –, deshalb fühlen sie sich vom Verhalten des älteren Sohnes an der Nase genommen: Sind wir „guten Christen“ nicht alle ein wenig wie dieser ältere Sohn?

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Doch die Kritik, die Jesus mit diesem Gleichnis vorbringt, reicht tiefer. Sie richtet sich frontal gegen ein landläufiges Gerechtigkeitsverständnis. Immerhin hat der jüngere Sohn seinen Teil des Erbes restlos verschleudert. Und was passiert, als er mittellos, stinkend und heruntergekommen zurückkehrt?

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„Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Da sagte der Sohn: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein. Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand, und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe an. Bringt das Mastkalb her, und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein. Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern.“ (Lk 15,20–24)
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Da ist nicht nur ein Überschwang maßloser Liebe, mit dem der Vater – gemessen an den Vorstellungen eines orientalischen Patriarchen – sich völlig vergisst, wenn er dem stinkenden Bündel entgegenläuft und ihm um den Hals fällt. Da ist nicht nur eine grenzenlose Vergebungsbereitschaft und Großzügigkeit. Die Aufforderung, ihm einen Ring an die Hand zu stecken, besagt, dass er wieder voll in die Würde und Rechte eines Sohnes aufgenommen wird, mit dem Anspruch auf ein ungemindertes Erbe. – Aber wird damit nicht das Erbe, das sein älterer Bruder erwarten kann, radikal gemindert, ja geradezu halbiert? Einerseits ja, anderseits aber gewiss nicht, denn welche Erbschaftsansprüche kann ein Kind gegenüber seinen lebenden Eltern stellen? Der ältere Sohn ist in der Klemme: Wenn er nicht zusätzlich zu seinen Verlusten auch noch als unmoralisch dastehen will, muss er gute Miene zu bösem Spiel machen, zum Fest gehen und seinem Bruder freundlich die Hand reichen. Oder er lässt sich von der maßlosen Liebe seines Vaters erreichen. Dieser hat ja nicht nur einen Narren am jüngeren Sohn gefressen, sondern auch am älteren, wenn er eigens herauskommt, um dem Zornigen gut zuzureden:

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„Sein älterer Sohn war unterdessen auf dem Feld. Als er heimging und in die Nähe des Hauses kam, hörte er Musik und Tanz. Da rief er einen der Knechte und fragte, was das bedeuten solle. Der Knecht antwortete: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn heil und gesund wiederbekommen hat. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm gut zu. Doch er erwiderte dem Vater: So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. Der Vater antwortete ihm: Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“ (Lk 15,25–32)
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In manchem ähnelt das Gleichnis der Geschichte von Kain und Abel. Auch dort ging es um ein rivalisierendes Brüderpaar, bei dem Gott offenbar einen von beiden ungebührlich bevorzugt. In Jesu Gleichnis nimmt Gott die Rolle eines liebenden Vaters ein, der jeden seiner Brüder ganz an sich ziehen will. Er wendet sich dem zornigen Sohn nicht nur warnend zu, sondern versucht ihn zu gewinnen. Ob er damit Erfolg hat, bleibt im Gleichnis offen. Keineswegs ausgeschlossen ist, dass der ältere Bruder – wie einst Kain – den Jüngeren auf dem Feld tötet, oder dass er voller Bitternis nun selber – wie zuvor sein Bruder – seinen Anteil des Erbes einfordert und den Vater verlässt.

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Liest man das Gleichnis im Blick auf die Familiendynamik, dann kommt man nicht am Verdacht vorbei, dass der Vater – wieder gemessen an unseren Maßstäben – zu viel will. Er will es allen recht machen, niemanden ausschließen, und wird damit wahrscheinlich auf ganzer Linie scheitern. Nach der Logik dieser Welt ist das Verschwinden eines Sohnes natürlich bedauerlich. Aber es stabilisiert zugleich die zurückgebliebene Familie. In ihrem Leid, ihrer Gekränktheit, ja sogar einem fernen – und damit unverbindlichen – Mitgefühl können die Zurückgebliebenen sich eins fühlen. Das schweißt zusammen. Darin besteht die friedensstiftende Wirkung von schwarzen Schafen und Sündenböcken. Der barmherzige Vater versucht nun, diesen „Frieden minus eins“ zu einem vollständigen Frieden zu machen, indem er den Außenseiter in die Mitte zurückholt. Aber damit riskiert er den Zusammenhalt der gesamten Familie. Die anderen Zurückgebliebenen – im Gleichnis repräsentiert durch den älteren Sohn – geraten in eine Identitätskrise: „Wer bin ich denn und was tue ich denn da – mit all meiner Rackerei auf dem Feld (Vers 25) –, wenn man die Sohnschaft einfach so nachgeschmissen bekommt?“

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Was Jesus also im Gleichnis den barmherzigen Vater tun lässt, ist genau das, was er selber im Namen des göttlichen Vaters immer wieder tut: Voller Mitleid (Vers 20) nimmt er Außenseiter und Disqualifizierte in die Mitte herein und verursacht damit in einer Seitenblick- und Neid-Gesellschaft Identitätskrisen. Dem entspricht der Kontext, in dem das Gleichnis vom verlorenen Sohn steht:

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„Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen.“ (Lk 15,2)
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Auf diesen negativ verlaufenden „Community-Test“ reagiert Jesus mit drei Gleichnissen: vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn. Der Abschluss der Gleichnisse ist immer derselbe: Der Himmel bzw. der himmlische Vater hat eine riesige Freude über einen zurückkehrenden Sünder (Lk 15,7.10.32). Es ist dieselbe Freude, von der spontan Menschen erfasst werden, die in einer positiv-bezogenen Identität von Gott her leben. Damit kritisiert Jesus die Empörung der jüdischen Lehrer als ihrem Glauben unangemessen. Mit seinen Gleichnissen eröffnet Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten aber zugleich einen Weg, ihre Empörung zu überwinden und in die himmlische Freude einzustimmen: Dazu müssen sie – wie der verlorene Sohn – zum himmlischen Vater zurückkehren. Ihre Empörung ist Symptom dafür, dass sie ihre Identität in einem von Gott „fernen Land“ (Lk 15,13) – bei den Futterschoten der Schweine (Lk 15,16) – zu sichern trachten, wo sie doch niemals satt werden. Mit den drei Gleichnissen eröffnet Jesus ihnen, wie Gott wirklich ist, und lädt sie ein, sich diesem Gott neu zuzuwenden. Dann wird auch für sie die Freude im Himmel groß sein.

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Zugleich legitimiert Jesus sein eigenes Verhalten – die liebevolle Hereinnahme der gesellschaftlich ausgegrenzten Zöllner und Sünder – mit der Sichtweise und dem Handeln des himmlischen Vaters. Er macht deutlich, dass er nichts anderes tut als das, was er den Vater tun sieht: „Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn“ (Joh 5,19).

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Dies gilt nicht nur für Jesu Zuwendung zu den Zöllnern und Sündern, sondern auch für seinen Umgang mit den empörten Anhängern des himmlischen Vaters, – den Pharisäern und Schriftgelehrten, die im Gleichnis durch den „braven“, zu Hause gebliebenen Sohn dargestellt werden. Dieser erweist sich ja auch schon im Gleichnis als der eigentlich schwierigere Fall. Während der jüngere Sohn aus eigenem Antrieb aus der Ferne zurückkehrt, geht der Vater dem älteren Sohn32 nach: „Sein Vater aber kam heraus und redete ihm gut zu“ (Lk 15,28). Während die Begegnung mit dem jüngeren Sohn glücklich verläuft, bleibt der Ausgang des Gesprächs mit dem älteren Sohn offen. Genau das ist die Situation, als Jesus den empörten Pharisäern und Schriftgelehrten die drei Gleichnisse erzählt: Der Ausgang bleibt offen.33

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„Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert …“

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Wenn wir das schöne Gleichnis vom verlorenen Sohn auf diese Weise lesen, dann passt es bruchlos zusammen mit einer Aussage Jesu, die zu seinen härtesten gehört:

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„Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein.“ (Mt 10,34–36)
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Bringt der barmherzige Vater aus Jesu Gleichnis „Frieden auf die Erde“ oder Frieden in seine Familie? Oder ist er mit seinem Verhalten nicht vielmehr „gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien“, sodass fortan „seine Hausgenossen … seine Feinde sein“ werden?

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Das erschreckende Wort Jesu leuchtet sofort ein, wenn wir berücksichtigen, dass es zweierlei Frieden gibt. Jesus ist gekommen, „Frieden zu hinterlassen und Frieden zu geben“ (Joh 14,27), aber „nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt“ (ebenda). Der „Friede dieser Welt“ ist ein teuflischer Friede, der Menschenopfer fordert: schwarze Schafe und Sündenböcke, auf deren Kosten Einigung zustande kommt. Diese Art von Frieden wird durch das liebevolle Handeln des göttlichen Vaters – repräsentiert vom Handeln Jesu – unterhöhlt, bis er in sich zusammenstürzt. Und so gilt es buchstäblich, dass Jesus „nicht gekommen ist, um Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert“.

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Mit dem wahren Frieden, der ohne auszuschließende „Reste“ auskommt, verhält es sich folglich wie mit dem Geduldspiel des Rubik-Würfels: Es ist nicht schwer, alle Teilwürfel bis auf einen in die richtige Position zu bringen. Solcherart beinahe am Ziel, ist eine vollkommene Lösung doch nur möglich, wenn man die erreichte Beinahe-Einheit wieder vollständig auflöst. Es sei denn, man würde einen Teilwürfel gewaltsam herausbrechen und in die gewünschte Position zwingen.34 Ähnlich verhält es sich mit dem vollkommenen Frieden: Um ihn ohne Gewalt zu erreichen, muss jeder vorläufige Friede preisgegeben werden, um den wahren, gerechten und vollständigen Frieden von der einzig möglichen Mitte her aufzubauen: Jesus Christus.35

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„Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch.“ (Joh 14,2)
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„Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ (Mt 12,30 = Lk 11,23)
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„Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,33)

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5. Jesu Kreuz-Weg zwischen Aggression und Resignation

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Es gibt also zweierlei Frieden, ebenso wie es zweierlei Identität gibt: positiv-bezogenen und negativ-grenzend (S. 52). Der erste ist der Friede Christi, der zweite ein Friede, wie die Welt ihn gibt.

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„Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch.“ (Joh 14,27)Diese Entgegensetzung – so schlicht wie provozierend – steht nicht nur wörtlich im Johannesevangelium. Wir müssen sie voraussetzen, um Jesu Wirken als Friedensstifter mit seiner polarisierenden Wirkung in Einklang bringen zu können. Der Gegensatz zwischen dem Frieden Christi und dem Frieden dieser Welt muss allerdings recht verstanden werden. Erstens bedeutet er kein Monopol auf eine explizit christliche Friedensarbeit. Ein Wirken im Namen Christi hängt nämlich nicht vom Kennen und Nennen seines Namens ab.36 Die Christen haben hier keine Vorzugsrechte (vgl. Mt 7,9). Dass sie Jesus kennen, stellt sie vielmehr unter einen verschärften Anspruch, nach seinen Prinzipien zu leben. Wenn sie diesen Anspruch verfehlen, stehen sie schlimmer da als die Heiden (Mt 7,21; Mt 21,31; Sandler 2004).
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Zweitens ist der Gegensatz zwischen positiv-bezogenem und negativ-grenzendem Frieden nur theoretisch so klar, wie er klingt. Es ist so, wie wir es bei den zwei Grundformen einer positiv-bezogenen und einer negativ-grenzenden Identität gesehen haben (S. ): Wir leben alle mehr oder weniger in Mischformen, welche durch die Begegnung mit Jesus Christus – in einem „Community-Test“ (S. ) – unterscheidbar werden. Worin ein wahrer Friede besteht und wie er gewonnen werden kann, zeigt sich uns an der dramatischen Geschichte von Jesu Wirken. Dieser Spur wollen wir nun folgen.

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Ein reduzierter Friede, der seine Kraft vom Gegensatz zu anderen Menschen bezieht, war eine ständige Bedrohung von Jesu Gottesreichverkündigung. Immer wieder geriet Jesus in Gefahr, zur Befriedigung von eitlen Überlegenheitsansprüchen missbraucht zu werden (S. ). Indem er diesen Versuchungen widerstand, polarisierte er die Menschen. Dadurch aber verschärfte sich die Gefahr, dass seine Sammlung des Gottesvolks in einen „halbierten Frieden“ zurückfiel: Wie konnte Jesus – angesichts der ihm feindlichen Eliten – verhindern, dass seine Anhänger zur „Jesus-Sekte“ verkamen, die ihre Identität im Gegensatz zu den etablierten jüdischen Religionsführern sicherten?

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Jesus überließ seine Gegner nicht sich selber, sondern ging ihnen nach, – bis nach Jerusalem, der Domäne der für ihn gefährlichen religiösen Autoritäten. Sein leitendes Bild dafür ist das des Hirten, der den Schafen nachgeht (Lk 15,4) und sogar sein Leben für sie gibt (Joh 10,7–16). Dieses Nachgehen bewirkte allerdings nicht die bereitwillige Rückkehr der verirrten Schafe, sondern eine Steigerung des Konflikts. Mit zunehmender Schärfe verurteilt Jesus das unangemessene Verhalten seiner Gegner und warnt sie vor den Konsequenzen (Mt 11,19f). Damit heizt er den Widerstand gegen ihn immer weiter an, bis er zuletzt gefangen genommen, verurteilt und gekreuzigt wird.

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Jesu Verhalten gegenüber seinen Gegnern ist also ein Nachgehen ohne Nachgeben: Es ist ein Nachgehen, in dem sich Sorge für die Menschen und Kritik gegen sie miteinander verbinden, – mit eskalierender Wirkung. Diesen Weg Jesu wollen wir nun untersuchen. Er wird sich als Kreuz-Weg einer kritischen Solidarität erweisen, der zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation immer enger wird. An seinem Ende steht das Kreuz.

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Kritische Solidarität

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In seinem öffentlichen Wirken folgte Jesus einem schwierigen und manchmal widersprüchlich scheinenden Kurs, auf dem sich bedingungslose Zuwendung zu Sündern mit harten Gerichtsworten gegen sie abwechselten. Dennoch ist sein Verhalten konsequent. Es lässt sich als kritische Solidarität begreifen: Jesus verhielt sich auch seinen Gegnern gegenüber zutiefst solidarisch. Bis zuletzt ging er ihnen nach und bemühte sich um ihr Heil. Gerade deshalb verhielt er sich in seiner Solidarität kritisch. Er griff die Positionen und Verhaltensweisen seiner Gegner an, soweit diese heillos und letztlich selbstzerstörerisch waren. Kritische Solidarität beinhaltet eine schwierige Unterscheidung zwischen Person und Position: Wo jemand eine zerstörerische Position einnimmt, muss die Position kritisiert werden, um die Person zu schützen, – auch gegen ihre unmittelbaren Interessen.

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Konkret: Jesu Integration von Außenseitern stand gegen die unmittelbaren Interessen von religiösen und politischen Führern. Denn dadurch wurde ein „machbarer“ Friede gefährdet. Solcher „Frieden, wie die Welt ihn gibt“ (Joh 14,27) ist aber letztlich zerstörerisch, und zwar nicht nur für die Ausgegrenzten, sondern auch für jene, die dazugehören.37 Jesus untergräbt die Strategie eines negativ-grenzenden Friedens, um die Menschen, die sich an diese Strategie gebunden haben, zu einem wahrhaftigen Heil zu führen, – auch gegen ihre unmittelbaren Interessen. Ein solches Verhalten kritischer Solidarität heizt die Konflikte an.Wer sich zu Menschen kritisch-solidarisch verhält, muss ständig zwischen Annahme und Kritik abwägen. Er ist in steter Gefahr, in einen von zwei Straßengräben abzurutschen: in eine Solidarität ohne Kritik oder in eine Kritik ohne Solidarität. Diese beiden Fehlformen werden wir im Folgenden genauer untersuchen.
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Kritik ohne Solidarität – Der Straßengraben der Aggression

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Aggression ist nicht an sich verwerflich. Es kann notwendig sein, ein zerstörerisches Verhalten aggressiv zurückzuweisen. Jesus verhielt sich in diesem Sinne aggressiv: zum Beispiel in seinen harten Gerichtsworten (Mt 23) oder bei der Tempelaustreibung (Joh 2,14). Aggression wird allerdings selber zerstörerisch, wenn sie auf eine Totalablehnung von Personen hinausläuft, auch wenn deren Positionen und Verhaltensweisen zu Recht „aggressiv“ verurteilt und bekämpft werden. Das ist der „Straßengraben der Aggression“. Hier wird eine kritische Solidarität durch eine Kritik ohne Solidarität verfehlt.

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Die Unterscheidung zwischen solchermaßen guter und schlechter Aggression ist theoretisch eindeutig. Praktisch ist sie aber oft so schwierig, dass sie beinah zwangsläufig verfehlt oder missverstanden wird. Christen gehen davon aus, dass Jesus von seinem geistgeführten Weg einer kritischen Solidarität niemals auch nur einen Millimeter abgewichen ist. Sie können das annehmen, weil Jesus für sie der Maßstab des richtigen Wegs ist (Joh 14,6). Aber selbst wenn Jesus nicht in den Straßengraben einer aggressiven Totalzurückweisung von Menschen und Gemeinschaften fiel, so ist doch gewiss: Jesu Reden und Aktionen wurden nicht als berechtigt verstanden, sondern als Frontalangriff gegen Personen und Institutionen wahrgenommen: als Kritik ohne Solidarität.

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Der Straßengraben der Resignation

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Auf der anderen Seite droht die solidarische Bejahung, welche Jesus den Menschen bei aller Kritik zusprach, in ein unkritisches Nachgeben abzurutschen. Ich schlage vor, diese Gefahr als den Straßengraben der Resignation zu bezeichnen. Unter Resignation verstehe ich dabei: den gebotenen Widerstand aufgeben. Gemeint ist also gerade nicht ein resignativer Rückzug, der die Menschen sich selbst überlässt, sondern ein unangemessenes Nachgeben gegenüber der geliebten und solidarisch bejahten Person. Der Widerstand, der gegen die falschen Positionen und Handlungen einer Person oder Gruppe geboten wäre, wird dadurch geschwächt oder fällt ganz aus.

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Auch Jesus war einem verführerischen Sog zum Nachgeben ausgesetzt. Damit hätte er seine kompromisslose Treue gegenüber Gottes zugleich gerechter und barmherziger Liebe verraten. Ein Beispiel für diese Gefahr gibt das Johannesevangelium. Mit seinem Wunder der Brotvermehrung löste Jesus eine kollektive Dynamik der Erwartung aus: Das Volk wollte ihn zum König machen (Joh 6,15). So geriet sein von Mitleid motiviertes Brotwunder (vgl. Mt 15,32) in äußerste Nähe zur ersten Versuchung in der Wüste: aus Steinen Brot zu machen. Ein weiteres Beispiel geben die anderen Evangelisten: Der eben von Jesus hochgelobte Petrus führt ihn in Versuchung, indem er ihm seinen Leidensweg nach Jerusalem ausreden will (Mt 16,17). Von Anfang seines öffentlichen Wirkens an war Jesus dem verführerischen Sog ausgesetzt, die Bedürfnisse der Menschen zu bedienen, um sie so für das Gottesreich zu gewinnen. Die drei Versuchungsgeschichten erzählen davon.

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Die Schwierigkeit des Mittelwegs

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Der konsequent durchgehaltene Mittelweg einer kritischen Solidarität wirkt auf gebundene Menschen maximal befreiend. Das bedeutet aber zugleich, dass dieser Einfluss von nicht umkehrwilligen Menschen als maximaler Druck wahrgenommen wird (Sandler 2002). Jeder der beiden Straßengräben – nicht nur die resignative Nachgiebigkeit, sondern auch eine aggressive Totalablehnung – wäre leichter zu ertragen. Denn die Gegnerschaft von Menschen, die man nicht mehr als solidarisch erfährt, tut weniger weh. Man kann sich leichter von ihnen absetzen und seine angeschlagene Identität im Gegensatz zu ihnen stabilisieren.

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So war Jesu kritische Solidarität für die nicht umkehrwilligen jüdischen Autoritäten maximal provozierend. Je mehr sie sich gegen Jesus versteiften, desto schwerer musste es für ihn werden, den Mittelweg einer kritischen Solidarität beizubehalten. Immer mehr musste jede Kritik zur Bestätigung einer Totalablehnung und jede solidarische Geste zum Zeichen eines unangemessenen Nachgebens werden.

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Rein „horizontal“ betrachtet – das heißt unter Absehung von Jesu durchgängig gehorsamer Ausrichtung auf seinen göttlichen Vater – geriete der Weg der kritischen Solidarität schnell zur Sackgasse, der nur noch die schiefen Alternativen von Aggression oder Resignation offenlässt. Sowohl eine egozentrische Ausrichtung – geleitet von dem Eindruck, den man beim Gegner hervorruft – als auch eine selbstlose Ausrichtung, die sich ganz an dem orientiert, was dem anderen zuträglich ist, sind hier zum Scheitern verurteilt.

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Jesus konnte seinen Weg der kritischen Solidarität bis zum innerweltlichen Endpunkt des Kreuzes durchhalten, ohne abzuweichen. Das war ihm möglich, weil er sich in jedem Augenblick vom göttlichen Vater und seinem Mittler, dem Heiligen Geist, führen ließ:

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„Jeden Morgen weckt er [Gott, der Herr] mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück.“ (Jes 50,5)38
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Es ist Jesu Sendung in ihrer doppelten Bezogenheit von Gott her und zu den Menschen hin, die ihn auf dem Mittelweg zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation hält.

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Im Straßengraben der Aggression würde Jesus den Adressaten seiner Sendung verlieren. Er wäre mit Gott gegen die Menschen und würde so seine Sendung verfehlen. Und zwar letztlich in jeder Hinsicht: Er hätte nicht nur die Menschen, sondern auch Gott verraten, der ihn ja zu den Menschen gesandt hat.
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Im Straßengraben der Resignation hingegen würde Jesus die Botschaft seiner Sendung preisgeben. Durch eine überzogene Solidarität würde er sich mit den sündigen Menschen gegen Gott stellen und auf diese Weise ebenso vollständig aus seiner Sendung herausfallen: Er würde nicht nur die Treue zu Gott, sondern damit letztlich auch die Solidarität zu den Menschen verraten, deren Heil ja nur in einer positiven Beziehung zu Gott gewährleistet ist. Überdies: Wer sich so weit auf andere Menschen einlässt, dass er mit ihnen zum Sünder wird, wird letztlich auch die Bezogenheit zu diesen Menschen verlieren, denn Sünde ist wesentlich Zerstörung von Beziehung, – auch auf der zwischenmenschlichen Ebene (vgl. S. ).
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Jesus entgeht diesem von zwei Seiten drohenden Scheitern durch den unablässigen Blick auf den göttlichen Vater, indem er sich seine Sendung jeden Augenblick neu von ihm zusagen lässt. Bis sich die beiden Abgründe links und rechts des Gott wohlgefälligen Wegs am Kreuz zu treffen scheinen: in Jesu Schrei „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46 = Mk 15,34).

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Jesu Martyrium zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation

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Doch auch wenn Jesus in der äußersten Solidarisierung mit den Sündern seinen himmlischen Vater und den von ihm gewiesenen Weg nicht mehr sehen konnte: Er hielt ihn auch noch in seinem Sterben durch, in blindem Vertrauen und Gehorsam. „Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.“ (Lk 22,42) Damit wies er für zahllose Nachfolgerinnen den rechten Weg für eine Kreuzesnachfolge bis ins Martyrium. Auch dieses ist nämlich ein Mittelweg zwischen zwei Straßengräben und kann deshalb aus eigener Kraft – mit allem Heroismus – nur verfehlt werden.

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Für das Martyrium besteht der Straßengraben der Aggression in einem Ausweichen in die Gewalt39 oder in einem Sterben in Hass und Ressentiment, welches den dahinscheidenden Körper noch zu einer Waffe macht. Dies kann direkt geschehen – wie bei Selbstmordattentätern – oder indirekt, indem der eigene Tod zum Fanal erhoben wird: als Trompetenstoß für eine erbitterte Rache von Vielen. Im Gegensatz dazu hält Jesus eine Haltung liebender Solidarität auch gegenüber seinen Peinigern und Mördern durch. Er stirbt im Geist der Vergebung: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Und seine ersten Worte als Auferstandener werden sein: „Friede sei mit euch“ (Lk 24,36).

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Der Straßengraben der Resignation hingegen bestünde in einem Sichschicken in das aufgezwungene Schicksal, – auf die Weise, dass der Leidende und Sterbende sich widerstandslos mit dem Tun seiner Henker einverstanden erklärt oder dieses sogar sucht. Immer wieder wurden Christen durch heroisierende Märtyrergeschichten dazu verleitet, den Glorienkranz des Martyriums für sich zu suchen. Demgegenüber hielt Jesus eine Haltung kritischer Solidarität gegen die Gewalt seiner Gegner bis zuletzt durch. Anstelle duldend „die andere Backe hinzuhalten“ (in einer missverstandenen Bergpredigt), konfrontiert er den Diener des Hohepriesters mit dem Unrecht seines Handelns (Joh 18,23). Pilatus weist er auf die Grenzen seiner Macht hin (Joh 19,11), und auch in seinem Schweigen wahrt er eine Würde, die den Eindruck eines duldsamen Einverständnisses mit seinen Bedrängern nicht aufkommen lässt. Gegenüber den Einseitigkeiten nicht weniger Kreuzestheologien ist hier klar festzuhalten: Jesus hat seinen Tod nicht gesucht!40 Er hat ihn als letzte Konsequenz einer durchgehaltenen kritischen Solidarität auf sich genommen.

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So ergeben sich aus der Mitte des christlichen Glaubens – im Blick auf Jesus und seine Sendungstreue – die entscheidenden Kriterien für ein Martyrium, das sowohl von Fanatismus als auch von Leidverherrlichung grundverschieden ist (Sand-ler 2010b).

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Kreuzweg der kritischen Solidarität als allgemeinmenschliche Erfahrung

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Ein enger werdender Kreuzweg der kritischen Solidarität zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation: Auch außerhalb eines ausdrücklichen christlichen Gottesglaubens wird dieser Weg von Menschen beschritten, wenn sie sich für andere einsetzen, die in Todesfesseln gefangen sind. Ein drastisches Beispiel dafür ist die Begleitung von einem Suchtkranken, vor allem, wenn er einem menschlich oder verwandtschaftlich nahesteht. Eine suchtkranke Person ist auf Verhaltensweisen – Konsum von Suchtmitteln, sexuelle Praktiken, Glücksspiele oder auch Arbeit – fixiert, die sie unbedingt braucht, um sich eine wenigstens minimale Lebensqualität zu erhalten. Und dies, obwohl ebendiese Verhaltensweisen sie immer tiefer in Zerstörung und Selbstzerstörung hineintreiben. Suchtkranke isolieren sich von Mitmenschen, gehen in destruktiv reduzierter Weise mit Dingen der Welt um und verfallen in einen armselig einseitigen Lebensstil, den sie schamvoll vor anderen verbergen. Sie berauben sich aller Möglichkeiten zu erfüllten zwischenmenschlichen Begegnungen und zu Gotteserfahrungen in Staunen und Dankbarkeit. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich immer ausschließlicher ihren Suchtmitteln zu und verfangen sich in eine tödliche Dynamik, welche auf körperliche, psychische, geistige und soziale Zerstörung hinausläuft. So sehen wir an einem schwer Suchtkranken mit großer Schärfe die Symptome einer Heillosigkeit in allen Grundbezügen: Gottbezug, Interpersonalität, Weltbezug und Selbstbezug. Das sind genau die Anzeichen von Sünde und Schuldverstrickung, die wir als mehr oder weniger symptomatisch für uns alle wahrgenommen haben: im Leben nach den Werten und Zielen einer Seitenblick-Identität. Es ist nur so, dass manche im Grunde heillose Verhaltensweisen und Lebensformen gesellschaftlich anerkannter sind und noch etwas größere Spielräume für authentische Gotteserfahrung, Nächstenliebe, Schöpfungsverantwortung und Selbstverwirklichung bieten. Denn kein Mensch ist ausschließlich von seinen Verstrickungen bestimmt. So unterscheiden sich Suchtkranke von unserem durchschnittlich unheilen Leben nur dadurch, dass ihre Todesfesseln stärker, enger und vor allem sichtbarer sind. In der liebenden und helfenden Begleitung von Suchtkranken wird also eine Heillosigkeit und Erlösungsbedürftigkeit besonders augenfällig, die jeden von uns mehr oder weniger betrifft.

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Weil suchtkranke Menschen auf Verhaltensweisen fixiert sind, die für sie zur Erhaltung einer minimalen Lebensqualität unverzichtbar sind, und zugleich ihre Selbstzerstörung vorantreiben, muss man in der liebenden und helfenden Begleitung von ihnen mit ihnen gegen sie agieren. Um mit dem Suchtkranken zu sein, muss man ihn von den Suchtmitteln wegbringen, die ihn zerstören, von denen er aber meint, ohne sie nicht leben zu können. Und so erweckt man zwangsläufig den Eindruck, gegen ihn zu sein, weil man ihm das vorenthält, ohne welches er glaubt, nicht leben zu können. Das ist genau die Haltung einer kritischen Solidarität: Man ist mit ihm solidarisch, indem man sich dem gegenüber kritisch verhält, was zerstörerisch ist, womit er sich aber identifiziert.

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Die Schwierigkeit eines solchen Weges kritischer Solidarität wird deutlich, wenn man auf die „Straßengräben“ – also die beiden Grundformen, diesen Mittelweg zu verfehlen – schaut:

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Der Straßengraben der Resignation wird auf drastische Weise sichtbar in Bertoluccis Film „La Luna“: Dort entdeckt eine Opernsängerin, dass ihr introvertierter Sohn heroinabhängig ist. Erschüttert von seinen Entzugserscheinungen kauft sie ihm nicht nur Drogen, sondern setzt ihm selbst einen Schuss. Beklemmend ist auch die Geschichte eines Jugendpastors, der in einem Gebet41 seine verzweifelte Situation beschrieb: Er ließ sich so weit auf eine in Drogenkonsum verwahrloste Jugendgruppe ein, dass er nicht nur mit ihnen lebte, sondern auch ihre Drogen zu konsumieren anfing. Er wollte ganz bei ihnen sein, ihre Verzweiflung teilen und so mit ihnen einen Ausweg aus ihren Todesfesseln finden. „Hilf mir, Herr, denn nun bin ich selber gefangen in dieser violetten Wüste“, schrie er in dem Gebet. Hier wird drastisch deutlich, dass es keine Solidarität in der Sünde – das heißt in der Gefangenschaft sündiger Entfremdung42 – gibt. Wer versucht, mit anderen in der Sünde solidarisch zu sein, wird durch diese Sünde von ihnen getrennt. So wie der fahrlässige Jugendpastor, der nun weniger denn je mit seinen Schützlingen sein konnte, weil er – selber der Droge verfallen – nun auf sich zurückgeworfen war.

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Der entgegengesetzte Straßengraben ist jener der Aggression. Im Umgang mit einem suchtkranken eigenen Kind würde er beschritten durch die brutale Alternative: „Entweder du hörst mit diesem Zeug auf oder du bist nicht mehr mein Kind.“ Für die Praxis ist dieser Straßengraben schwer von gebotener Strenge abzugrenzen, da Suchtkranke aufgrund ihrer extrem herabgesetzten Freiheitsspielräume tatsächlich vor härteste Alternativen gestellt werden müssen. Die Grenze zum Straßengraben der Aggression wird allerdings dort überschritten, wo die Zusage von Liebe unter eine Bedingung gestellt und auf diese Weise untergraben wird. Die Botschaft „Ich liebe dich nur, wenn du diese oder jene Bedingungen erfüllst“ steht in Widerspruch zur wesentlichen Grundlosigkeit von Liebe und zerstört sie auf diese Weise. Es ist aber die Liebe – im Sinn einer bedingungslosen Anerkennung –, die Suchtkranke am meisten benötigen und entbehren. In einer Seitenblick-Gesellschaft erleben sie härter als andere, wie leicht die scheinbar so unerschütterliche Annahme durch Freunde und Verwandte zerbröckelt, wenn man nicht mehr die gewohnten Standards erfüllt.
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6. „Für uns hingegeben“ – Wie wir durch das Kreuz erlöst sind

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Warum ist Jesus gestorben? – Und wozu?

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Warum ist Jesus am Kreuz gestorben? Unsere bisherigen Ausführungen erlauben eine klare Antwort: Jesu Tod war die äußerste Konsequenz seines gottgewollten Einsatzes für die Menschen. Jesus riskierte seinen gewaltsamen Tod, weil er die Menschen, die den Kairos der Gotteserfahrung ausschlugen, nicht dem Schicksal ihrer selbstgewählten Gottferne überlassen wollte. Er ging ihnen bis ins Äußerste nach, wie ein Hirt den verlorenen Schafen und sogar noch weiter: „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe“ (Joh 10,11).

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Wir haben auch deutlich gemacht, woher hier die Lebensgefahr rührt: Sünde bedeutet letztlich – wie in einer Suchtkrankheit – die Wahl eines Lebens in Selbstzerstörung, um mit selbstzerstörerischen Mitteln sein Leben doch noch zu retten. Hier gilt präzise: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“ (Mk 8,35 = Mt 16,25 = Lk 9,24). Durch sein Lehren, sein Handeln und schon durch seine bloße Gegenwart untergräbt Jesus diese selbstzerstörerischen Wege der Lebenssicherung von Einzelnen und von Gemeinschaften. Er deckt ihre Methoden der Selbstzerstörung auf und stellt sie bloß. Zugleich eröffnet Jesus Alternativen: ein Leben gemäß den Gesetzen des Gottesreichs. Aber diese Alternative ist für Sünder, die den Kairos zurückgewiesen haben, blockiert. So bleiben ihnen für ihre Bemühungen um ein heiles Leben – scheinbar – nur die selbstzerstörerischen Wege der Sünde, und die werden von Jesus angegriffen. Es muss ihnen deshalb so vorkommen, als ob Jesus sie ihrer einzigen Lebensgrundlage berauben wollte. Sozusagen als Notwehrprinzip ergibt sich die Logik des Hohepriesters Kajaphas:

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„Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ (Joh 11,50)43
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So können wir im Blick auf die Sünde der Welt sagen: Das Wort Gottes – und Jesus als das lebendige Wort Gottes – hat in einer solchen Welt keinen Platz. Es untergräbt die unheilsbegrenzenden Prinzipien dieser Welt und wird deshalb zwangsläufig bekämpft werden.

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„Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1,9–11)
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Deshalb musste Jesus am Kreuz sterben.

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Aber kann diese Antwort zufriedenstellen? Damit wäre doch das Kreuz das Symbol für eine verfluchte Welt: Zeichen für die definitive Austreibung Gottes aus dieser Welt, – Zeichen der Katastrophe, nicht der Erlösung. Deshalb reicht es für Christen nicht aus, wenn sie verstehen, warum Jesus am Kreuz gestorben ist, wie es dazu gekommen ist und wie es dazu kommen musste. Christen müssen auch sagen können, wozu Jesus am Kreuz gestorben ist, – wozu das alles doch noch gut ist. Wir müssen zumindest eine Ahnung davon haben, wie durch Jesu Martyrium hindurch sich gerade dort ein Heilsweg neu öffnete, wo alles verloren schien.

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Wir werden diese Antwort in zwei Schritten vorbereiten. Zunächst schauen wir – wie in den vorausgehenden Kapiteln – auf die unmittelbaren Zeitgenossen Jesu und die Wirkung des Kreuzes auf sie. Haben die Menschen, die Jesus ausdrücklich zurückwiesen und dann auch seine Kreuzigung betrieben, sich damit endgültig das Gericht gesprochen (vgl. Mt 27,25) oder konnte Jesus ihnen – durch seinen Kreuzestod hindurch – neu einen Heilsweg eröffnen? In einem zweiten Schritt werden wir dann fragen, was Jesu Tod mit uns zu tun hat, tausende Jahre und tausende Kilometer vom Geschehen der Kreuzigung entfernt.

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Befreit von den Fesseln des Todes – Heilswirkungen, die sich aus dem Kreuz ergeben

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Nach innerweltlichen Maßstäben endete Jesus mit einem totalen Scheitern. Zuletzt ließen ihn sogar seine Jünger im Stich. Petrus, der Anführer der Apostel, den Jesus noch kurz zuvor als Fels bezeichnet hatte, versagte schmählich. Von seiner Beteuerung, Jesus bis in den Tod zu folgen, blieb nicht einmal der Mut, einer Magd gegenüber zuzugeben, dass er Jesus kannte. Jesu Einsamkeit war eine vollständige, als er sterbend am Kreuz schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34 = Mt 27,46).

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Für die Evangelien ist das allerdings nicht das Ende der Geschichte. Jünger und Frauen aus dem Kreis um Jesus bezeugten, dass dieser ihnen als Auferstandener erschienen wäre und Frieden zugesprochen hätte. Er hätte den Verängstigten geboten, in Jerusalem zu warten, bis sie mit der Kraft aus der Höhe, dem Heiligen Geist, erfüllt würden (Lk 24,49). Dann sei er in den Himmel entrückt worden. Solche Zeugnisse klingen nicht nur für heutige Menschen phantastisch; das war schon zur Zeit Jesu so. Skeptische Erklärungen, nach denen die Jünger von Trugbildern heimgesucht wurden oder in Betrugsabsicht den Leichnam gestohlen hätten, sind nicht erst im Denken der Aufklärung entstanden. Sie werden schon von den Evangelien bezeugt (Mt 27,64; Mt 28,13). Alle diese Entlarvungsversuche scheitern aber an einem Faktum: Wenige Wochen nach dem Tod Jesu treten die Jünger mit einem Freimut und einer Glaubenskraft auf, die im äußersten Gegensatz steht zu den verängstigten Jesusanhängern zur Zeit seiner Verhaftung und Kreuzigung. All dies ist nur möglich, wenn die Jünger mit Ereignissen konfrontiert wurden, die sie von Grund auf verwandelten. Während skeptische Al-ter-na-tiverklärungen hier scheitern, gibt das Neue Testament eine Antwort, welche den Umbruch bei den Jesusanhängern nachvollziehbar macht. Und zwar, indem es zwei Ereignisse bezeugt: die Auferstehung Jesu und die Ausgießung des Heiligen Geistes.

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Damit ist eine erste Antwort auf die Frage vorbereitet, wozu Jesus gestorben ist. Ohne zu verstehen, wie das genau zuging, kann man doch feststellen: Jesu Kreuzweg war keine Sackgasse und sein Tod nicht das unrühmliche Ende seiner Gottesreichbotschaft. Vielmehr kam es durch seinen Tod hindurch zu einem dramatischen Umschlag bei den Jüngern: Auf einmal wurden sie, die ihren Meister bis zuletzt immer wieder missverstanden hatten, zu kraftvollen Zeugen seiner Gottesreichbotschaft, – und zwar wie Jesus in Worten, Taten und in ihrem ganzen Sein, bis hin zum Martyrium. Auf einmal hatten sie den Mut und die Weisheit, diese Botschaft in radikaler Christusnachfolge zu leben, – in einer kritischen Solidarität, die weder solidarisches Verhalten noch scharfe Kritik vermissen ließ.

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All dies bringt die Pfingstpredigt des Petrus zum Ausdruck. Gemäß der Chronologie der Evangelien ist sie der erste öffentliche Auftritt des Apostelanführers nach seinem Totalversagen vor einer Magd und ein paar Knechten:

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„Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf; er erhob seine Stimme und begann zu reden: Ihr Juden und alle Bewohner von Jerusalem! … Israeliten, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst – ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde. … Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dafür sind wir alle Zeugen. Nachdem er durch die rechte Hand Gottes erhöht worden war und vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen hatte, hat er ihn ausgegossen, wie ihr seht und hört. … Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.“ (Apg 2,14–36)
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Des Petrus Bereitschaft zur Konfrontation ist geradezu tollkühn, und es würde nicht verwundern, wenn er den äußers-ten Zorn der Menge bis hin zur Steinigung (wie später bei Stephanus) provoziert hätte. Aber die Reaktion ist eine völlig andere:

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„Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz, und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder? Petrus antwortete ihnen: Kehrt um, und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung seiner Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen. Denn euch und euren Kindern gilt die Verheißung und all denen in der Ferne, die der Herr, unser Gott, herbeirufen wird. Mit noch vielen anderen Worten beschwor und ermahnte er sie: Lasst euch retten aus dieser verdorbenen Generation! Die nun, die sein Wort annahmen, ließen sich taufen. An diesem Tag wurden (ihrer Gemeinschaft) etwa dreitausend Menschen hinzugefügt.“ (Apg 2,37–41)
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Gewiss, einen Skeptiker wird diese Darstellung der Apostelgeschichte nicht beeindrucken. Ist das nicht eine christliche Tendenzschrift, die Propaganda für die werdende Kirche macht? Aber selbst wenn man, wie manche Exegeten, diese Darstellungen als idealisierend bezeichnet, dann ist damit doch nur gesagt, dass die Apostelgeschichte etwas pointiert zusammenfasst, was sich im Verlaufe weniger Jahre und Jahrzehnte unbestreitbar abgespielt haben musste: Das Christentum breitete sich mit einer ungeheuren Geschwindigkeit über die damalige Welt aus, und zwar in den ersten Jahrhunderten ganz gewiss nicht mittels Waffengewalt. Ohne Zweifel war dafür das freimütige Zeugnis zahlloser Christen bestimmend, die ohne Fanatismus jene befreiende Gotteserfahrung bis in den Martertod bezeugten, mit der Jesus einst angetreten war.

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Wie war ein solcher Umschwung möglich? Ohne zu versuchen, die biblisch bezeugten Ereignisse von Auferstehung, Himmelfahrt und Geistausgießung zu rekonstruieren, können wir doch einige Sinnzusammenhänge freilegen. Offensichtlich waren die Jünger und ersten Christen auf eine geradezu dramatische Weise frei geworden von den Fesseln einer Menschenfurcht und Todesangst. An ihrem Verhalten wird konkret, was Paulus als Frucht der Erlösung bezeichnet: die Befreiung von der Macht des Todes (Röm 8,2; 2 Tim 1,10; Hebr 2,14).

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Wir müssen diese Todesfesseln in ihrer vollen Tragweite begreifen: Dazu gehört nicht erst der oft gewaltsame Abbruch des leiblichen Lebens, sondern die Anzeichen eines „Todes mitten im Leben“: in Krankheit und Scheitern, in sozialer Isolation und dem Verlust von Errungenschaften, ohne die man sich ein erfülltes Leben nicht vorstellen kann. Versklavender noch als die konkrete Erfahrung solcher Todesschatten wirkt die Angst vor ihrem Eintreten.

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In diesem Sinn betont der Hebräerbrief: Jesus Christus ist Mensch geworden und am Kreuz gestorben, „… um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren“ (Hebr 2,15).
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Es ist die Angst vor dem Tod in all seinen Erscheinungsformen mitten im Leben – Krankheit, Misserfolg, soziale Ausgrenzung –, die dem „Teufel, … der die Gewalt über den Tod hat“ (Hebr 2,14) eine ungeheure Erpressermacht verleiht. Zu was allem sind wir bereit, um nicht jene Identität aufs Spiel zu setzen, die wir von uns wichtigen Personen zugesprochen erhalten? Wie viele Kompromisse sind Politiker bereit einzugehen, damit nicht ihre Sache scheitert, mit der sie sich identifizieren?

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Für Jesus bestand die „Sache“, mit der er sich restlos identifizierte, in seiner Sendung, die Gottesreichbotschaft zu den Menschen zu bringen. Der Erpressermacht des Todes begegnete er erstmals in den Versuchungen, die ja nicht nur Erfolg für seine Gottesreichverkündigung verhießen, sondern zugleich die Rute ins Fenster stellten: „Wenn du den Menschen nicht das gibst, was sie verlangen – Brot und Spiele (1. und 2. Versuchung) –, und dich dem Herrn dieser Welt (Marktlogik usw.) nicht unterwirfst (3. Versuchung), dann wirst du scheitern!“ Das war keine leere Drohung. Es wurde nach und nach Wirklichkeit. Auch wenn Jesus Kranke heilte, Dämonen austrieb und so „dem Satan den Hausrat raubte“ (Mk 3,27): Er wurde zunehmend auf einen Kreuz-Weg gedrängt, an dessen innerweltlich allein wahrnehmbarem Endpunkt sich der Tod in all seinen Formen abzeichnete: Körperlich misshandelt, von allen isoliert, zum Sünder abgestempelt und dem Fluchtod ausgeliefert gemäß dem Urteil der Heiligen Schrift (Gal 3,13; Dtn 21,23), von Gott verlassen, und mit einer Wirkung, die der intendierten Sammlung der Menschen für das Gottesreich diametral entgegenstand: Jesus führte die Menschen tatsächlich zusammen, aber nicht in einen Gottesfrieden, sondern in eine teuflischen Allianz, in einen „Frieden minus eins“: Die Menschen wurden sich ei-nig gegen ihn als den Sündenbock (Lk 23,12; Apg 4,27).

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All das wurde auch von den verzweifelten Jüngern so wahrgenommen (vgl. Lk 24,19–21). Bis ihnen durch Auferstehung und Geistsendung aufging, dass „die Sache Jesu weiterging“, und zwar eine Sache, die untrennbar mit der Person Jesu verbunden war. Von der Begegnung mit dem auferstandenen Gekreuzigten her wurden sie frei von der Erpressermacht des Todes und der Todesangst. Sie lernten eine Form des Erfolgs (Jes 52,13) kennen, der am Tod nicht zerschellt, sondern den Tod zum Zerschellen bringt. So konnten sie – mit Jesus, in seiner Nachfolge – den Weg einer kritischen Solidarität bis zuletzt gehen, bis in den Tod. Denn sie hatten erfahren: Der Tod ist nicht das Ende, – nicht der eigenen Person, nicht der eigenen Identität und nicht der Sache, für die sie ihr Leben einsetzen.

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Von daher wird der Freimut von Petrus, Stephanus und vielen anderen nachvollziehbar. Sie fürchten nicht Tod und Teufel. Sie leben die Liebe auch zu Menschen, die hassen. Sie halten die Spur einer kritischen Solidarität im unausgesetzten Blick auf den himmlischen Vater. Er sagt ihnen zu, wer sie sind, wenn sie von ihren Mitmenschen entwertet werden. Er schickt ihnen den Heiligen Geist als Beistand und Anwalt in die schweren Stunden ihrer Verfolgung (Joh 14,26). Unablässig haben sie Jesus als den Lebenden vor Augen: als den, der gestorben und auferstanden ist, sodass auch sie mit ihm gestorben sind, um mit ihm zu leben (2 Tim 2,11). Das macht sie frei von der Erpressermacht der Sünde und des Todes.

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„Sünde gegen den Heiligen Geist“ – Erlösung von einer unvergebbaren Sünde?

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Durch Tod, Auferstehung und Geistausgießung befreit Jesus Menschen von Mächten, die sie knechten und zu Opfern der Sünde machen. Opfer der Sünde werden Menschen auch dort, wo sie selber zu Tätern werden, – aus Angst, sonst zu kurz zu kommen oder in der verblendeten Meinung, damit Gott und der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34), rief Jesus am Kreuz aus. Damit machte er deutlich, dass gerade jene Menschen, die in zerstörerischem Hass gegen Mensch und Gott handelten, dies aus Verblendung heraus taten. Auch wenn Juden und Römer faktisch den Sohn Gottes ans Kreuz brachten, waren sie nicht Gottesmörder, – zumindest nicht der Intention nach. Über weite Strecken ihres Tuns wussten sie nicht, dass es ein unschuldiger Mensch und gar der Messias und Gottessohn war, dessen Tötung sie betrieben. Zum Teil meinten sie sogar, mit diesem Handeln Gott einen Dienst zu erweisen, so wie später viele (z. B. Saulus/Paulus) meinten, Gottes Willen zu erfüllen, wenn sie Christen verfolgten.

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„Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen, ja es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten. Das werden sie tun, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben.“ (Joh 16,2f)
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In diesem Sinn ist die Kreuzigung Jesu nicht die schlimmste Sünde. Sünde ist Freiheit zur Unfreiheit, und die Auslieferung von Menschen in den Tod ist die ausgewachsene Frucht der Sünde, die oft in einer Sphäre der Unfreiheit vollzogen wird. Hier agieren die Menschen großenteils aus Verblendung, getrieben von einer kollektiven Dynamik, und „ferngesteuert“ von einer Macht, welche die Evangelien als Teufel bezeichnen (Sandler 2009a). „Jetzt hat die Finsternis die Macht“ (Lk 22,53), sagt Jesus bei seiner Verhaftung. Deshalb ist die Verstoßung, Auslieferung, Verleugnung und Kreuzigung des Menschensohnes nicht die schwerste aller Sünden. Nach Jesu Worten ist sie immer noch vergebbar. Aber zugleich nennt Jesus eine Sünde, die schwerer wiegt und nicht vergeben werden kann:

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„Darum sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben. Auch dem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden; wer aber etwas gegen den Heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt.“ (Mt 12,31f)
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Jesus trifft hier eine schwerwiegende Unterscheidung zwischen zwei Arten von Sünde: Es gibt ein destruktives Handeln in Verblendung, unter der Macht der Sünde. Diese Verblendung kann später wegfallen, dann werden Reue und Umkehr möglich.

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„Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,4f)
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Gewiss, damit ist die Schuld noch nicht getilgt und das zugefügte Leid – gegen den Gekreuzigten und gegen zahllose gekreuzigte Menschen und Völker – nicht aus der Welt geschafft. Aber die Sünder sind von sich her offen, sich von Gott erlösen zu lassen. Ohne solche Offenheit ist Erlösung nicht möglich. Denn Gott hat sich mit dem Akt seiner Schöpfung darauf festgelegt, die Freiheit von Menschen zu respektieren. Gott kann also nicht einen Menschen erlösen, der auf einem Nein gegenüber Gott und seinen Geschöpfen, gegenüber Wahrheit und Gerechtigkeit beharrt. Das genau ist der kritische Punkt der zweiten von Jesus genannten Art von Sünde: der Lästerung gegen den Geist, die „in Ewigkeit keine Vergebung findet“ (Mk 3,29). Jesus spricht diese Warnung gegen Pharisäer aus, die ein Heilungswunder Jesu gegen besseres Wissen als teuflisches Wirken abqualifizierten. Es ist der Heilige Geist, der den Menschen die Erkenntnis Gottes und die Fähigkeit zum Glauben erschließt. Wer unter diesem Eindruck – in einem Kairos der Gnade – die erfahrene Heilswahrheit zurückweist und mutwillig verdreht, kommt dem nahe, was Jesus die Sünde gegen den Heiligen Geist nennt. Er stellt sich offenen Auges gegen Gott. Diese Sünde kann nach den Worten Jesu nicht vergeben werden, – nicht weil Gott so zornig darüber ist, sondern weil er andernfalls die freie Entscheidung der Menschen missachten würde. Wer sich in freier Erkenntnis und Entscheidung gegen Gott stellt, könnte allenfalls von seiner Freiheit, aber niemals in seine Freiheit erlöst werden. Erlösung setzt Freiheit voraus.

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Hier stellt sich uns das dornigste Problem der Erlösung: Es ist nicht das Problem des Petrus, der seinen Herrn verriet, denn er tat das unter der Macht der Sünde (Lk 22,31). Es ist nicht das Problem der Volksmenge, die da rief: „Kreuzige ihn“ (Mk 15,13f; Lk 23,21; Joh 19,15) und: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25). Es ist auch nicht das Problem des Pilatus, der unter dem Druck der Volksmenge Jesus auslieferte, nicht der Soldaten, die Jesus geißelten, und nicht einmal das Problem der jüdischen Anführer, die Jesu Tod beschlossen. All diese unmittelbaren Akteure im Drama von Jesu Kreuzigung handelten unter dem Einfluss einer kollektiven, teuflischen Macht, die sich dicht über ihnen zusammengezogen hatte (Lk 22,53). Das eigentliche Problem der Erlösung stellt sich dort, wo Menschen in freier Einsicht – unter der befreienden Wirkung eines Gnaden-Kairos – ein Nein zu Gott sprechen. Dieses Nein wird nicht erreicht von Jesu Ruf „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Denn hier wissen sie, was sie tun. Ist das nicht die Sünde gegen den Heiligen Geist, von der Jesus sagt, dass sie in Ewigkeit nicht vergeben werden kann? Muss Erlösung hier nicht scheitern?

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Das Problem ist ein grundsätzliches. Jeder Mensch ist mit einer Freiheit geschaffen, die es ihm auch ermöglicht, sich gegen Gott in einem Nein festzulegen. Diese Freiheit ist gewöhnlich verdeckt von einer dicken Schicht kollektiver Verblendung und Zerstreutheit in das Unwesentliche. Aber in besonderen Gnaden-Kairoi lichtet sich diese Freiheit: Gott gerät überraschend in den Blick, und damit wird eine Entscheidung für oder gegen ihn möglich und zugleich unausweichlich. Wenn wir ernst nehmen wollen, dass jeder Mensch die Freiheit zu einer Selbstbestimmung vor Gott auf Endgültigkeit hin hat,44 dann müssen wir annehmen, dass es solche Momente einer freigesetzten Freiheit gibt, – nicht vollkommen, aber radikal verschärft im Vergleich zu unserer Alltagserfahrung einer ins Unwesentliche verzettelten Freiheit. Zu solchen Gnadenzeiten vollziehen wir Grundoptionen für oder gegen Gott. Hier betrifft Jesu Warnung vor Sünde gegen den Heiligen Geist uns. Wie viele Menschen haben ein solches freies Nein in Situationen eines Gnaden-Kairos schon einmal vollzogen? Kann ich es für mich ausschließen? Und bin ich damit nicht in alle Ewigkeit – gemäß Jesu Warnung – unerlösbar?45

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Diese Überlegungen machen uns das Gewicht der Sünde46 und die enorme Schwierigkeit unserer Erlösung bewusst. Sie hängen zusammen mit dem Gewicht unserer Freiheit. Dennoch stellen sie eine Grenzüberlegung dar, die so nicht vorkommt. Auch in Augenblicken eines Gnaden-Kairos erkennen wir Gott nicht restlos vollkommen. Damit bleibt ein Ausweg für Erlösung offen: Gott kann sich dem entschiedenen Sünder auf eine noch tiefere Weise offenbaren. Dieser stößt so auf bisher ungekannte Seiten Gottes, die von seinem früheren Nein noch nicht abgedeckt wurden. So öffnet sich für den Sünder eine neue Entscheidungssituation. Im Blick auf die neu entdeckten Seiten Gottes kann er seine bisherige Entscheidung revidieren. Umkehr wird möglich.

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Der Preis der Erlösung

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Erlösung von einem frei und wissend vollzogenen Nein zu Gott ist also möglich durch eine vertiefte Selbstoffenbarung Gottes. Wie uns die Bibel des Alten und Neuen Testaments zeigt, hat sich Gott im Verlauf der Heilsgeschichte immer wieder in einer vertieften Weise den Menschen offenbart. Bereits unabhängig von der Sünde ist das ein Teil von Gottes fortlaufendem Schöpfungshandeln. Als Antwort auf die Sünde der Menschen nimmt Gottes vertiefte Selbstoffenbarung die Gestalt eines Erlösungshandelns an. Dieses hat aber einen hohen Preis. Es versetzt den Sünder in eine neue, radikalisierte Freiheit, die er zur Umkehr, aber auch zu einem verschärften Nein gegen Gott verwenden kann. Eine solche gesteigerte Verweigerung wirkt sich über die ganze Bandbreite menschlicher Grundbezüge aus. Es kann sich auswirken in der Abweisung oder im Missbrauch eines sich in Liebe öffnenden Menschen, und es kann sich steigern bis zur zynischen Ermordung eines wehrlosen Kindes, durch welches sich einem verrohten Söldner noch einmal Gottes wehrlose Liebe offenbaren wollte.47 Ein solches Nein kann sich in einer kaltblütigen Ausbeutung der Umwelt abzeichnen oder in einer zerstörerischen Selbstausbeutung, die jemand in Kauf nimmt, um ein trügerisches Wahrzeichen von Lebensfülle doch noch zu erreichen. All dem zugrunde liegt ein Nein gegen Gott, das sich in der Auslieferung und Kreuzigung des Gottessohnes konkretisiert, – einem Ereignis, auf das, wie wir sehen werden, alles Leid der Welt wie auf einen Brennpunkt zuläuft.

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Das ist das Risiko, das Gott mit einer vertieften Selbstmitteilung an entschiedene Sünder um deren Erlösung willen eingeht. Es gleicht dem Wahnwitz eines Menschen, der einem notorischen Gewalttäter die Fesseln durchschneidet, ohne ihm vorher sein Messer zu entwinden, – in der Hoffnung, diese edle Tat möge ihn bewegen, sein Mordinstrument freiwillig beiseitezulegen. Nach den Maßstäben dieser Welt ist ein solches Verhalten fahrlässig und verantwortungslos. Genau diese „Verantwortungslosigkeit“ finden wir in Gottes Handeln, wie es Jesus mit dem Gleichnis von den bösen Winzern beschreibt:

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„Ein Mann legte einen Weinberg an, zog ringsherum einen Zaun, hob eine Kelter aus und baute einen Turm. Dann verpachtete er den Weinberg an Winzer und reiste in ein anderes Land. Als nun die Zeit dafür gekommen war, schickte er einen Knecht zu den Winzern, um bei ihnen seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs holen zu lassen. Sie aber packten und prügelten ihn und jagten ihn mit leeren Händen fort. Darauf schickte er einen anderen Knecht zu ihnen; auch ihn misshandelten und beschimpften sie. Als er einen dritten schickte, brachten sie ihn um. Ähnlich ging es vielen anderen; die einen wurden geprügelt, die andern umgebracht. Schließlich blieb ihm nur noch einer: sein geliebter Sohn. Ihn sandte er als letzten zu ihnen, denn er dachte: Vor meinem Sohn werden sie Achtung haben.“ (Mk 12,2–6)
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Die Aussageabsicht des Gleichnisses ist klar: Nach vielen verfolgten Propheten sandte Gott seinen geliebten Sohn. Und auch er wird von den Pächtern dieser Erde (des Weinbergs) umgebracht und aus dem Weinberg geworfen (Mk 12,8). Aber war das denn anders zu erwarten? Warum geht der Weinbergbesitzer ein solches Risiko ein? Aus unseren Überlegungen ergibt sich: weil es Gottes einziger Weg ist, um die Menschen aus dem Gefängnis ihrer Sünde zu befreien. Allein durch das Risiko einer vertieften Selbstoffenbarung kann Gott den gegen ihn festgelegten Menschen in eine Situation bringen, in der er das Heil neu zu wählen vermag.

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Aber kann denn dieser äußerste Einsatz des Weinbergbesitzers – die Sendung seines Sohnes – überhaupt etwas Positives bewirken? Nach den Maßstäben unserer Welt gewiss nicht. Das ist eine der Grenzen des Gleichnisses von den bösen Winzern, – welches ja nicht alles an Gottes Handeln erklären will:

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„Was wird nun der Besitzer des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Winzer töten und den Weinberg anderen geben.“ (Mk 12,9)48
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Gott tötet die Menschen, die Jesus ans Kreuz brachten – und das sind letztlich wir alle –, nicht, sondern öffnet ihnen durch Jesu Tod hindurch eine neue Möglichkeit von Heil und Leben. Wie das geschehen kann, werden wir gleich darlegen. Zuvor aber wollen wir zur Frage zurückkehren, wie die Gefahr eines definitiven Neins gegen Gott – also der Sünde gegen den Heiligen Geist – uns alle betrifft, und wie sie von Gott aufgebrochen werden kann. Wir sagten: Durch eine vertiefte Selbstoffenbarung öffnet Gott dem entschiedenen Sünder die Möglichkeit, sich neu für Gott zu entscheiden.

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Allerdings verläuft die menschliche Freiheitsgeschichte nicht einfach geradlinig. In die eine Richtung können wir im Ja, in die andere Richtung immer noch im Nein zu Gott leben. Und die Weise, wie wir von einem sündigen Nein zu Gott geprägt sind, kann sehr unterschiedlich sein: Wir sind Opfer der Sünden anderer. Wir sind Täter, die andere und uns selber schädigen, und zugleich Opfer der Sünde, wenn wir in unserem verblendeten Handeln „nicht wissen, was wir tun“ (vgl. Lk 23,34). Und manchmal sind wir Sünder, die sehr wohl wissen, was sie tun. Es gibt vielleicht Ereignisse unserer Geschichte, wo wir uns in wissenden Momenten der Gnade gegen Gott entschieden haben. Zum Teil mag eine solche sündige Festlegung in späterer, vertiefter Gotteserfahrung durch ein Ja überwunden worden sein. Und zum Teil schwelt es unkorrigiert im Untergrund weiter, bis es sich irgendwann – wie eine Tretmine – durch geringfügige Anlässe in eine destruktive Tat auswirkt.

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Angesichts dieser vermischten Sündensituation ist Erlösung nur möglich, wenn sie alle Aspekte unserer Unerlöstheit erfasst. Der schwierigste unter ihnen ist der letztgenannte: das wissend und frei vollzogene Nein gegen Gott. Hier wird die Sünde gegen den Heiligen Geist zu einer konkreten Gefahr für unser Leben. Wie kann der Kreuzestod Jesu uns von diesen abgründigsten Wurzeln unserer Sünde befreien?

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Im Folgenden will ich verdeutlichen, wie sich Gott durch Jesu Kreuzestod auch den entschiedenen Sündern in ungekannter Tiefe offenbarte und wie er ihnen dadurch einen neuen Heilsweg eröffnete. Dies soll in zwei Schritten geschehen:

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1. Zuerst werde ich an Jesu Kreuzestod einen zweifachen Schlüssel der Erlösung aufzeigen: Jesus identifiziert sich mit den Opfern der Sünde, – auch mit jenen, die in sündiger Verblendung zu Tätern werden. Und er verwandelt das ihm von den Tätern – auch von den entschiedenen Sündern – zugefügte Unheil in einen Akt liebender Selbsthingabe an den göttlichen Vater.

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2. Durch dieses doppelte Handeln Jesu ist allerdings die Erlösung der Sünder noch nicht vollzogen, sondern erst die Grundlage dafür gelegt. Damit dieses Erlösungswirken die Sünder auch erreicht, müssen sie mit der Wahrheit des Kreuzesgeschehens konfrontiert werden. Dies geschieht in einem Wirken des Heiligen Geistes, welches drei Schritte umfasst:

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– die Aufdeckung der Sünde;

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– die Bewusstmachung, dass Jesus diese Sünde in eine liebende Tat der Selbsthingabe transformiert hat;

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– die Eröffnung der Möglichkeit für die Sünder, diese erlösende Verwandlung für das eigene Leben zu übernehmen.

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Im Folgenden werde ich auf diese Schritte genauer eingehen.

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Identifizierung und Verwandlung: Der Schlüssel der Erlösung durch das Kreuz

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Schauen wir zuerst zurück auf die erlösende Kraft von Jesu öffentlichem Wirken: Erlösung besteht wesentlich darin, dass den Sündern ein neuer Zugang zum göttlichen Vater eröffnet wird. Damit hat Jesus in seiner Gottesreichverkündigung begonnen. Wo Menschen diese Botschaft ablehnten, verfielen sie in verschärfter Weise der Sünde. Jesus hat diese Zusammenhänge aufgedeckt und vor den Konsequenzen gewarnt. Dadurch konnte er aber kaum Umkehr bewirken. Vielmehr provozierte er eine verschärfte Ablehnung gegen sich. Jesus überließ die verstockten Sünder nicht sich selber, sondern ging ihnen in kritischer Solidarität nach, oder, wie die Gegner Jesu das erfahren mussten: Er verfolgte sie mit seiner kritischen Solidarität. Auf diese Weise blieb Jesus in maximaler Weise seiner Sendung treu: nämlich für die Menschen, die Gott verloren hatten, Mittler zu Gott zu sein. Er verhielt sich tief solidarisch zu den Menschen, und zugleich blieb er uneingeschränkt Gott treu. Diese beiden Grundbewegungen einer Verbindung mit den Menschen und einer Verbindung mit dem göttlichen Vater hat Jesus bis in seinen Kreuzestod durchgetragen und dort vollendet. Soweit die Menschen Opfer der Sünde waren – selbst als verblendete Täter –, verband er sich mit ihnen in tiefer Solidarität bis zur Identifizierung. Und er hielt seine Treue dem göttlichen Vater gegenüber durch, indem er alles, was ihm von den Menschen – als verblendete oder auch entschieden sündige Täter – angetan wurde, in einen Akt liebender Selbsthingabe verwandelte. Wie können wir uns eine solche „Verwandlung“ vorstellen?

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Wie wir Jesu Hingabe am Kreuz verstehen müssen

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„Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)
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Diese Worte Jesu aus der Weltgerichtsrede werden durch sein gesamtes Wirken vorbereitet. Er lässt sich auf Kranke, Besessene und Ausgestoßene – Opfer der Macht der Sünde und des Todes – so weit ein, dass er von Mitleid erfasst (Mt 9,36) und „im Innersten erregt und erschüttert“ (Joh 11,33) wird. Ja, er trägt sogar ihre Leiden am eigenen Leib (Mt 8,17). Er erträgt nicht nur geduldig, was ihm von seinen Gegnern angetan wird; er macht es zum Gegenstand einer vertieften Verbindung mit ihnen. Jesu Abendmahlsworte und -gesten zeigen das eindrucksvoll auf:

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„Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ (Lk 22,19f)
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„Der Neue Bund in meinem Blut“: Jesus setzt sich für die Wiederherstellung der Gottesbeziehung der Menschen nicht nur in Wort und Tat, sondern unter Einsatz seines Lebens ein. Wo auf dem Kreuz-Weg kritischer Solidarität Worte und Taten nur noch missverstanden werden können, gibt er sein Leben – Fleisch und Blut, symbolisiert in Brot und Wein – für die Menschen hin, und zwar nicht nur für die Jünger („für euch“), sondern „für die Vielen“ (Mt 26,28; Mk 14,24). Von der altgriechischen Sprache her besagt das: für alle.

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Aber was heißt hier: Jesus gibt sein Leben hin? Gewiss nicht, dass er sich in einem Selbstopfer umbringt (vgl. Joh 8,22), um so auf mythisch-dunklen Wegen die Sündenschuld der Vielen zu begleichen und einen beleidigten Gott zufriedenzustellen (vgl. 8. Kapitel). Für ein rechtes Verständnis können wir ansetzen bei einer dreifachen Bedeutung des griechischen Schlüsselwortes für Dahingabe („paradidonai“) im Neuen Testament: Es wird verwendet im Sinn einer Auslieferung durch die Gegner Jesu, einer Selbsthingabe durch Jesus und einer Hingabe Jesu durch den Vater.

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Auslieferung durch die Gegner Jesu: Jesus wird durch Judas (Mk 14,10.18.42) an die Pharisäer und Schriftgelehrten ausgeliefert (Mt 20,18; Mk 10,33). Und diese liefern ihn den Heiden (Mt 20,19), insbesondere dem Pilatus aus (Mk 15,1), „damit er verspottet, gegeißelt und gekreuzigt wird“ (Mt 20,19).
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Selbsthingabe Jesu: „Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf“ (Joh 19,30). Paulus spricht vom Sohn Gottes, „der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20), und fordert die Christen auf, einander zu lieben, „weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und als Opfer, das Gott gefällt“ (Eph 5,2).
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Hingabe Jesu durch Gott: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32; vgl. 2 Kor 5,21)Der Sinnzusammenhang dieser dreifachen Verwendung des Wortes Dahingabe („paradidonai“) wird im Alten Testament durch das vierte Lied vom Gottesknecht vorbereitet:

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„Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. v4 Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen [Selbsthingabe]. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt [Hingabe durch Gott, – in irrtümlicher Zuschreibung]. v5 Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt [Hingabe durch Verfolger, – als Unheilsgeschehen]. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt [Hingabe dennoch als Heilsgeschehen]. v6 Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen [Hingabe durch Gott]. v7 Er wurde misshandelt und niedergedrückt [Hingabe durch Verfolger], aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf [Selbsthingabe als Duldung]. v8 Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft [Hingabe durch Verfolger], doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen [Hingabe durch Verfolger]. v9 Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war [Hingabe durch Verfolger]. v10 Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen [Gott als Handelnder]. v11 Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die Vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich [Selbsthingabe]. v12 Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen, und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ [Selbsthingabe]. Denn er trug die Sünden von Vielen und trat für die Schuldigen ein [Selbsthingabe].“ (Jes 53,3–12)
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Die drei Bedeutungen von Dahingabe sind hier durch eine komplexe Handlung auf mehreren Ebenen ineinander verzahnt: Die Verfolger des Gottesknechts glauben, er sei von Gott gestraft, und überliefern ihn – vermeintlich als Ausführende von Gottes Willen – dem Tod aus. Der Gottesknecht duldet die ihm zugefügte Gewalt und wird auf diese Weise das Instrument zu einem Heilshandeln Gottes, dessen Plan so gelingt (Vers 10). Die Aussage „Gott hat ihn ausgeliefert“ wird hier auf zwei völlig gegensätzliche Weisen verstanden: als gottgewollte Auslieferung eines Sünders durch Gerechte und als gottfeindliche Auslieferung des Gerechten durch Sünder. Das Erste stellt sich als selbstgerechter Trugschluss heraus – „wir meinten, er sei von Gott geschlagen“ (Vers 4) –, das Zweite als bittere Wahrheit – „er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen“ (Vers 5). Diese Verbrechen werden aber von Gott auf wunderbare Weise verwendet, um das Heil der Vielen zu bewirken: „durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Vers 5). Wie aber Gottes Plan durch ihn gelingen soll und die Menschen durch ihre Bluttat hindurch Heil finden können, das lässt der alttestamentliche Text im Dunkeln.

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Genau dieser komplexe Zusammenhang zwischen menschlichem und göttlichem Handeln sowie zwischen menschlichem Meinen, sündiger Wahrheit und unerwartbar göttlicher Wendung ins Heil trifft auf den Kreuzestod Jesu zu. Auch hier kann die Auslieferung Jesu durch die Menschen in einer völlig falschen und in einer richtigen Weise verstanden werden: als vermeintlich gottgewollte Auslieferung eines Sünders durch Gerechte, und – was sich später als Wahrheit herausstellen wird – als gottfeindliche Auslieferung des Gerechten durch Sünder.

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Der unmittelbar Handelnde bei der Kreuzigung ist jedenfalls weder der Vater (in einer Opferung des Sohnes) noch der Sohn (in Selbstopferung als indirektem Selbstmord, indem er in Jerusalem seinen Tod gesucht hätte; vgl. Joh 8,22); es sind die in Sünde verblendeten Menschen. Gottes Plan, dem Jesus zustimmt (vgl. Mt 26,54), zielt keineswegs direkt auf Jesu Tötung, sondern darauf, dem von den Sündern verübten Verbrechen eine unerwartet heilvolle Wendung zu geben. Dies geschieht dadurch, dass Jesus die ihm zugefügten Gewalttaten in einen Akt liebender Selbsthingabe an den göttlichen Vater für die Vielen verwandelt. Wie dieser Akt einer liebenden Annahme des zugefügten Leids für die Täter erlösend wirken kann, ist im Folgenden zu klären. Zuvor muss aber aufgewiesen werden, wie sich Jesu Leidensbereitschaft von einer pervertierten Leidensspiritualität unterscheidet, welche das Leiden als vermeintliches Erlösungsmittel sucht und so die Unrechtstäter in ihren Übergriffen auch noch unterstützt.

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Jesu aktives Leiden

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Je mehr sich Jesus dem Kreuz näherte, desto weniger war er aktiv tätig, und desto mehr litt er unter dem Handeln der sich gegen ihn formierenden Gegner. Dennoch ließ sich Jesus sein Leidens- und Todesschicksal nicht einfach von den Menschen aufzwingen. Er übernahm das ihm Angetane aktiv, indem er es in eine Tat freiwilliger Selbsthingabe an den göttlichen Vater für die Vielen verwandelte. Dieses Handeln Jesu muss recht verstanden werden, damit es nicht als „lammfromme“ Duldsamkeit erscheint und so eine falsche Leidensspiritualität unterstützt. Wie wir sahen, hat Jesus seinen Widerstand gegen seine Gegner bis zuletzt nicht eingestellt. Dieser Widerstand war ein notwendiger Teil seiner kritischen Solidarität. Jesu Duldsamkeit mit dem ihm angetanen Geschehen begann genau dort, wo er erfuhr, dass dieses Dulden Gottes Willen entspricht. Dieser Gotteswille zielt keineswegs direkt auf Leiden und Tod, sondern darauf, dass Jesus seine Sendung zu den Menschen in kritischer Solidarität bis zuletzt durchhält. Zu diesem Willen Gottes konnte das Erdulden von zugefügtem Leid gehören, wenn sich dies als einzige Möglichkeit erwies, um eine kritische Solidarität noch durchzuhalten. Auch hier bereiten die Gottesknechtlieder ein richtiges Verständnis vor:

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„Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück. Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel. Doch Gott, der Herr, wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden …“ (Jes 50,4–7: Drittes Lied vom Gottesknecht)
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Leitend ist ein solidarisches Verhalten zu den Menschen: „die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort“. Als wahrhaftige, von Gottes Wahrheit geleitete Solidarität gehört dazu unvermeidlich Kritik, und diese wird von einer sündigen Welt zwangsläufig aggressiv beantwortet. Jesus wird von Gott dazu geführt, Schläge und Schmähungen auszuhalten – oder mit den Worten der Bergpredigt „die andere Backe hinzuhalten“ –, weil und insofern es der einzige Weg für Jesus ist, die kritische Solidarität zu den Menschen durchzuhalten: als wahrer Mittler zwischen Mensch und Gott, indem er den Menschen den Zugang zu Gott unter allen Umständen offen hält. Solange es mit dieser göttlichen Sendung vereinbar war, entzog er sich seinen Verfolgern, wenn der Boden zu heiß wurde (Lk 4,30; Joh 10,39). Wenn er das zuletzt in Jerusalem nicht mehr tat, dann deshalb, weil er die Menschen mit ihrer Verstockung sich selbst überlassen hätte, wenn er sich zurückgezogen oder wenn er seine Macht zu gewaltsamem Widerstand gebraucht hätte:

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„Da sagte Jesus zu ihm [Petrus]: Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen. Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte? Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, nach der es so geschehen muss?“ (Mt 26,52–54)
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Jesus duldet das ihm angetane Geschehen, damit die Schrift erfüllt wird und Gottes Heilsplan gelingt. Wie aber soll aus der gegen ihn sich aufbäumenden Sünde Heil und Erlösung entspringen? Zunächst können wir nur so viel feststellen: Für sich und sein Leben konnte Jesus der ihm angetanen Gewalt eine völlig andere Bedeutung geben: eine liebende Selbsthingabe an Gott für die Vielen. Damit aber sind die ihn ausliefernden Menschen nicht schon entschuldigt. Auch wenn Jesus aus ihrer Gewalttat einen Akt der liebenden Selbsthingabe macht, bleibt es von Seiten der Auslieferer noch Gewalttat, und zwar eine, die sie nicht einmal als solche begreifen. Sie sind in genau dem Irrglauben verblendet, den der Anfang des vierten Gottesknechtliedes beschreibt:

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„Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.“ (Jes 53,4)
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Wie Jesu Erlösung uns erreicht – Drei erlösende Werke des Heiligen Geistes

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Durch Jesu Kreuzestod wird unsere Erlösung nicht vollendet, sondern ermöglicht und vorbereitet. Der erlösende Schlüssel des Kreuzes besteht in einer grenzenlosen Solidarität Jesu mit seinen Verfolgern und in einer Selbsthingabe Jesu an den göttlichen Vater für die Vielen. Damit hält Jesus die Verbindung sowohl zu den Menschen als auch zum Vater – in kritischer Solidarität – bis zuletzt durch. Konkret heißt das, dass er die ihm zugefügte Gewalt in eine Tat liebender Selbsthingabe an den göttlichen Vater transformiert. Diese Wandlung ist der Kernvollzug von Erlösung. Aber die Erlösung wird erst wirksam, wenn sie die verblendeten Sünder innerlich – in ihrer gebundenen Freiheit – erreicht.

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Damit das geschieht, braucht es ein eigenes Wirken Gottes. Dieses wird durch den Heiligen Geist vollzogen, den der Auferstandene über seine Jünger ausgießt. In der Bibel stoßen wir auf drei erlösende Werke des Heiligen Geistes:

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1. Der Heilige Geist konfrontiert die Verfolger Jesu mit der Wahrheit ihrer Tat: „Da sagte Petrus zu ihnen, erfüllt vom Heiligen Geist: … im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten auferweckt hat …“ (Apg 4,8–10). Diese Wahrheit konnte die Hörer „mitten ins Herz treffen“ (Apg 2,37) und ein Umdenken bewirken, wie es bereits das vierte Gottesknechtlied bezeugt: „Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt.“ (Jes 53,4f)

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2. Der Heilige Geist führt die Menschen zur Erkenntnis, dass Jesus ihre Tat nicht als Fluch auf sie zurückfallen ließ, sondern in einen liebenden Akt der solidarischen Selbsthingabe transformierte: „Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. … Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,4f; vgl. 1 Petr 2,24)

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3. Der Heilige Geist führt die Menschen dazu, Jesu Transformation ihrer Sünde in Heil reumütig und dankbar zu bejahen. Auf diese Weise können sie dieses Heilsgeschehen als bestimmende Wahrheit für ihr Leben übernehmen. Das Erlösungswerk des dreieinigen Gottes wird so für sie wirksam: „Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot seien für die Sünden und für die Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr geheilt.“ (1 Petr 2,24)

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Mit diesem dreifachen Wirken führt der Heilige Geist das Erlösungswerk Jesu Christi weiter. Er tut dies vermittels erwählter Menschen – seiner Kirche –, die er mit seiner Gegenwart erfüllt, damit sie Christi „Zeugen seien in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8). So stoßen wir auf das dreifache Erlösungswirken des Heiligen Geistes im Wirken der geisterfüllten Jünger, – angefangen mit der Pfingstpredigt des Petrus:

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[1. Werk:] Israeliten, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst – ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde. …
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Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz, und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder?
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[3. Werk:] Petrus antwortete ihnen: Kehrt um, und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung seiner Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen. [2. Werk:] Denn euch und euren Kindern gilt die Verheißung und all denen in der Ferne, die der Herr, unser Gott, herbeirufen wird …
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[3. Werk:] Lasst euch retten aus dieser verdorbenen Generation!
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Die nun, die sein Wort annahmen, ließen sich taufen. An diesem Tag wurden (ihrer Gemeinschaft) etwa dreitausend Menschen hinzugefügt.“ (Apg 2,22–41)
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Taufe auf den Namen Jesu Christi besagt, die liebende Transformation seines Leidens und Todes für sich zu übernehmen, – „mit ihm zu sterben, um mit ihm zu leben“ (vgl. Röm 6,8). Das wird ermöglicht durch Jesu Verwandlung des ihm auferlegten Kreuzesleidens in eine Tat liebender Selbsthingabe. Dass das so ist, klingt in der Formulierung an: „ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde“ (Vers 23).Durch dieses dreifache Werk von Schuldeinsicht, Heilseinsicht und Heilsübernahme bewirkt der Heilige Geist, dass das Erlösungswerk des Gekreuzigten die Menschen erreicht. Durch die Annahme dieser Werke – eine Annahme, die nochmals der Heilige Geist ermöglicht (3. Werk) – werden die Menschen darauf vorbereitet, den Heiligen Geist selber (und nicht nur die von ihm freigesetzte Wahrheit) zu empfangen und nun ihrerseits zu Zeugen Jesu Christi zu werden. So ist der Heilige Geist „der erste Anteil des Erbes, das wir erhalten sollen, der Erlösung, durch die wir Gottes Eigentum werden, zum Lob seiner Herrlichkeit“ (Eph 1,14).

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Wie wir alle durch das Kreuz erlöst sind

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Die Pfingstpredigt des Petrus hatte also eine erlösende Wirkung für die Verfolger Jesu. Ihr heilloses Handeln war durch Jesus verwandelt worden; bewirkt durch den Heiligen Geist und vermittelt durch Petrus konnten sie diese heilvolle Transformation für sich übernehmen. Was aber war mit den vielen anwesenden Juden, die nicht an der Kreuzigung Jesu beteiligt gewesen waren? Was ist mit den vielen anderen Sünden der Verfolger Jesu? Und was haben wir Heutige mit der Verurteilung Jesu, mit seiner erlösenden Transformation dieser Gewalttat und mit der dreifach erlösenden Wirkung des Heiligen Geistes zu tun?

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Hier führt uns die Geschichte von der Bekehrung des Paulus einen Schritt weiter:

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„Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du, Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ (Apg 9,3–5)
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Erst indem er mit der bitteren Wahrheit seiner Taten konfrontiert wird, kann Paulus der von Christus gewirkten Erlösung teilhaftig werden. Paulus hatte nicht Jesus nachgestellt, sondern seinen Anhängern. Dennoch sagte Jesus zu ihm: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ Jesus hat sich mit den um seinetwillen Verfolgten zuinnerst verbunden, aber nicht nur mit ihnen, sondern mit allen Verfolgten und Leidenden: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) Die Aufdeckung dieses Zusammenhangs ist das erste erlösende Werk des Heiligen Geistes. Mit ihm erreicht die Frucht der Erlösung einen jeden von uns dort, wo wir Täter der Sünde sind; – und zwar nicht nur als verblendete Opfer der Sündenmacht, sondern sogar als schwere Sünder, wenn wir in einem wissenden und voll-willentlichen Nein zu Gott „wussten, was wir taten“. Ein solches Nein kann sich in der Verletzung von Mitmenschen, in der Zerstörung von Umwelt oder in einem selbstzerstörerischen Handeln ausdrücken. Seine tiefste Wurzel hat es in einem Nein zu Gott, welches auf eine Mitwirkung an der Kreuzigung Jesu hinausläuft.

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Dieser Zusammenhang muss erst verstanden – und zwar recht verstanden – werden. Was hat zum Beispiel das Leid und der Schaden, den ein Pädophiler einem wehrlosen Kind angetan hat, mit dem Kreuz zu tun? Wie trifft er damit den Gekreuzigten? Und selbst wenn das begriffen ist: Wie lässt sich vermeiden, dass die Schuld gegenüber konkreten Menschen spiritualisierend aufgelöst wird in eine Schuld, die allein Gottes Sohn betrifft und deshalb – an den Opfern vorbei – von ihm vergeben werden kann?

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Eine Antwort ist nur möglich, wenn wir Jesus nicht bloß als einen Menschen sehen, an dem sich das Wesen von Leid und Verfolgung exemplarisch verdichtet, sondern als Gottessohn und Schöpfungsmittler:

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„Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden. Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.“ (Kol 1,14–17)
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Jeder Mensch ist geschaffen als Gottes Bild und Gleichnis (Gen 1,26f), sodass im tiefsten Wurzelgrund seines Seins Gott selber aufleuchtet, „ihm innerlicher als er sich selbst“ (Augustinus). Das geschieht in einer Weise, dass unser Selbstsein dadurch nicht aufgelöst, sondern begründet wird (Sandler 2009, 40–68). Wir sind also Gottes Ebenbild, indem wir seine Herrlichkeit, die am Grund unseres Seins aufleuchtet, durchscheinen lassen, in dankbarem Verweis auf Gott, der zugleich in und über uns ist. Diese unsere Gottebenbildlichkeit wird vom Neuen Testament auf Jesus Christus zurückgeführt. „In Christus“, dem Schöpfungsmittler, spiegeln wir Gottes Herrlichkeit wider. Durch die Sünde hingegen sperren wir Christus aus. Wir tun dies, indem wir zwischen unserer äußeren Erscheinung und unserem tiefsten Seinsgrund eine selbstherrliche Hülle aufbauen, welche diese seine Herrlichkeit verdeckt (Sandler 2009, 174–182). In diesem Sinn sagt Paulus von den Menschen:

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„Doch ihr Denken wurde verhärtet. … Bis heute liegt die Hülle auf ihrem Herzen … Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt. Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit. Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.“ (2 Kor 3,14–18)49
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Sünde ist damit wesentlich eine Verhüllung Jesu Christi, des Schöpfungsmittlers, am Grund des eigenen Seins sowie des Seins von anderen. Christus wird aus dieser Welt – die dem Glanz der Selbstherrlichkeit verfallen ist – ausgetrieben. Diese Austreibung Christi aus der Welt wird im Kreuzesgeschehen konkret. Von daher ist es zutreffend zu sagen: Mit jeder Sünde beteiligen wir uns an der gewaltsamen Austreibung Gottes aus dieser Welt, – an Christi Kreuzigung. Seine Frage „Saul, Saul, warum verfolgst du mich“ trifft jeden Menschen, sofern er irgendwo zum Sünder geworden ist.

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An anderen Stellen macht die Bibel diesen Zusammenhang noch deutlicher. Der Hebräerbrief spricht von abgefallenen Christen, die viel von Gottes Gnade empfangen, viel von seiner Herrlichkeit begriffen und sich dennoch einem sündigen und destruktiven Leben verschrieben haben: „Sie schlagen jetzt den Sohn Gottes noch einmal ans Kreuz und machen ihn zum Gespött.“ (Hebr 6,6) Nach dem Jakobusbrief gilt das auch für Menschen, die einem reichen, ungerechten Lebensstil frönen. Selbst wer kein direktes Unrecht tut, sondern das Gute, das er tun könnte, unterlässt, ist demnach ein Kreuziger Christi:

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„Ihr aber, die ihr sagt: Heute oder morgen werden wir in diese oder jene Stadt reisen, dort werden wir ein Jahr bleiben, Handel treiben und Gewinne machen –, ihr wisst doch nicht, was morgen mit eurem Leben sein wird. Rauch seid ihr, den man eine Weile sieht; dann verschwindet er. Ihr solltet lieber sagen: Wenn der Herr will, werden wir noch leben und dies oder jenes tun. Nun aber prahlt ihr voll Übermut; doch all dieses Prahlen ist schlecht. Wer also das Gute tun kann und es nicht tut, der sündigt. … Die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, dringen zu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere. Ihr habt auf Erden ein üppiges und ausschweifendes Leben geführt, und noch am Schlachttag habt ihr euer Herz gemästet. Ihr habt den Gerechten verurteilt und umgebracht, er aber leistete euch keinen Widerstand.“ (Jak 4,13–5,6)
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Damit erweist sich die vierte Strophe des Passionslieds „O Haupt voll Blut und Wunden“ als tief schriftgemäß:

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„Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last;
ich hab es verschuldet, was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.“ (Gotteslob Nr. 179)
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Die Einsicht, als Armer hier zu stehen und Zorn zu verdienen, entspricht der Einsicht, dass ich durch all meine Sünden – ob entschieden oder ungewollt – an der gewaltsamen Vertreibung des Gottessohns aus dieser Welt mitgewirkt habe. Diese Einsicht entspricht dem ersten erlösenden Werk des Heiligen Geistes. Auch die beiden anderen Elemente, durch die uns Jesu Erlösung am Kreuz erreicht, begegnen uns in dieser Liedstrophe. „Ich hab es verschuldet, was du getragen hast“: Christus hat es getragen, indem er die Gewalt, die ich ihm durch meine Sünde zufügte, in eine liebende Selbsthingabe an den himmlischen Vater verwandelte. Die Einsicht in dieses Wirken Christi bezeichneten wir als zweites Werk des Heiligen Geistes. Und mit der Bitte „Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad“ flehe ich darum, dass diese Wandlung mich erreicht (3. Werk).

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Der vom Heiligen Geist freigelegte Blick auf den Gekreuzigten eröffnet (1.) Sündenbewusstsein, (2.) Erfahrung der Kreuzesgnade und (3.) die Möglichkeit ihrer erlösenden Übernahme. Schieflagen einer Kreuzesfrömmigkeit entstehen durchwegs dadurch, dass eines dieser Momente überbetont und isoliert wird. Wer – in einer Pervertierung des ersten Werks des Heiligen Geistes – das Kreuz missbraucht, um die Menschen moralisierend als Sünder abzustempeln, treibt sie allenfalls dazu, dass sie ihre Unzulänglichkeiten vor sich und anderen besser verschleiern. Wenn wir hingegen – in einer Pervertierung des zweiten und dritten Werks des Heiligen Geistes – das Kreuz als Automatismus der Erlösung missverstehen, laufen wir Gefahr, uns billig unserer Verantwortung für die Opfer, denen gegenüber wir schuldig geworden sind, zu entledigen. Etwa gemäß der Auffassung: Ich hab´s ja gebeichtet, also ist alles in Ordnung.

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Eine solche Pervertierung des Christlichen hat Friedrich Nietzsche dem Christentum als zentrale Lehre unterstellt: „Sünde ist ein Vergehen an ihm [Gott], nicht an der Menschheit! — wem er seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde“ (Nietzsche 1977, 132). Gleichgültig bliebe dabei, „ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes, wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit fasst und würgt“ (ebenda).
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Dagegen gilt: Weil wir im innersten Seinsgrund eines jeden Menschen, dem wir Gewalt antun, Jesus treffen, sind die Sünde gegen ihn und die Schuld gegen unsere Mitmenschen nicht voneinander zu trennen. Im Gekreuzigten, der mich anblickt, spiegelt sich das Leid aller gekreuzigten Menschen und Völker, – auch meine Schuld, die ich anderen angetan habe. Der gekreuzigte Gottessohn begegnet mir in den Opfern meiner Lebensgeschichte, und diese begegnen mir im gekreuzigten Gottessohn. In ihnen und in ihm stoße ich auf den tiefsten Wurzelgrund meiner Sünde. An dieser tiefsten Stelle hat er meine Sünde von innen her aufgebrochen: durch die Kreuzestat einer liebenden Transformation der ihm zugefügten Gewalt. Meine Sünden sind mir vergeben.

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Aber damit ist nicht schon alles erledigt. Vielmehr öffnet sich mir von daher die Möglichkeit und zugleich die Verpflichtung, der Erlösungserfahrung mit meinem ganzen Leben zu entsprechen: in einer liebenden Reue und tätigen Buße meinen Opfern gegenüber. Wie der Zöllner Zachäus, der Jesus freudig bei sich aufnahm und sich in der Folge verpflichtete: „Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück“ (Lk 19,8).

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Jenseitige Erlösung durch das Fegfeuer hindurch

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Auch wenn die vorausgehenden Überlegungen schlüssig sind: Bleibt Erlösung damit nicht beschränkt auf einen minimalen Bruchteil der in der Welt verübten Sünden und auf eine winzige Minderheit der Menschheit, ja sogar der Christenheit? Erlösung würde ja voraussetzen, dass ein Mensch im Anblick des Kreuzes all seine Sünden erkennt und deren erlösende Transformation durch Jesus für sein Leben übernimmt. Und selbst wenn ein Mensch das wahrhaftig vollziehen könnte: Ist er dann wirklich von seinen Sünden befreit, solange es noch Menschen gibt, denen gegenüber er zum Schuldner wurde und die ihm noch nicht vergeben haben? Wie sollen wir damit einholen können, was wir am Anfang des Buchs mit den Worten der Kreuzwegandacht formulierten:

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„Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich. Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“
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Es bleibt dabei, dass Jesus durch seine liebende, mit Gott und den Menschen solidarische Selbsthingabe den Schlüssel zur Erlösung bereitstellte. Von daher ist Erlösung für alle Menschen möglich. Wirklich wird sie allerdings erst durch eine richtende und befreiende Konfrontation, welche Gott durch den Heiligen Geist wirkt. Immer wieder stoßen wir auf solche lebensverändernde Begegnungen: in der Heiligen Schrift, der Geschichte der Heiligen und – ansatzweise – auch in unserer eigenen Lebenserfahrung. Diese Ereignisse einer angenommenen Erlösung sind Zeichen, die unserer Hoffnung auf eine universale Erlösung Grund geben. In den Sakramenten der Kirche werden diese Zeichen symbolisch vollzogen. In der Taufe geschieht dies als ein radikales Der-Sünde-Sterben, das in ein neues Leben mit Christus mündet (Röm 6,4). Die Eucharistie verwandelt und erneuert unser Leben in der Begegnung mit dem Gekreuzigten, der seinen Leib und sein Blut für uns hingegeben hat. Die Sakramente konfrontieren uns mit Jesu Erlösungswerk, das in seinem Kreuzestod bereits vollbracht ist (Joh 19,30). Durch den Heiligen Geist erkennen wir dieses Erlösungswerk und nehmen es für unser Leben an. Das wird in den Sakramenten zeichenhaft ausgedrückt, damit wir es existenziell nachvollziehen. Solange das noch nicht umfassend geschehen ist, sind die Sakramente – gemäß traditioneller kirchlicher Terminologie – zwar wirksam, aber nur begrenzt fruchtbar. Man sieht also nicht, dass die Menschen erlöst sind. Und sie sind auch noch nicht eigentlich erlöst, weil sie den Schlüssel der Erlösung noch nicht für ihr Leben angewandt haben.

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Die meisten Menschen – ausgenommen Heilige – holen die Möglichkeit der Erlösung während ihres Lebens nur ansatzweise ein. Sie sterben in einem Zustand sündiger Verstri-ckung, die ihnen einen direkten Zugang zu Gottes Herrlichkeit – traditionell Himmel genannt – versperrt. Diese göttliche Herrlichkeit im Stand der Vollendung können wir uns nur vorstellen als ein restloses Umfangen- und Durchglühtsein von Gottes Liebe. Für einen Menschen, der vollständig gereinigt ist von aller Sünde, ist das eine unvorstellbare Seligkeit. Für alles, was in einem Menschen noch sündig ist, ist diese ungeminderte Liebe hingegen ein verzehrendes Feuer (Hebr 12,29). Hier gilt: „Kein Mensch kann Gott sehen und am Leben bleiben“ (vgl. Ex 33,20). Dieses alttestamentliche Wort ist durch die Liebesbotschaft des Neuen Testaments nicht außer Kraft gesetzt, sondern sogar noch verschärft. So heißt es im Hebräerbrief:

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„Meint ihr nicht, dass eine noch viel härtere Strafe der verdient, der den Sohn Gottes mit Füßen getreten, das Blut des Bundes, durch das er geheiligt wurde, verachtet und den Geist der Gnade geschmäht hat? Wir kennen doch den, der gesagt hat: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, und ferner: Der Herr wird sein Volk richten. Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebr 10,29–31)
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Das ist eine verschärfte Gerichtsansage an Menschen, die als getaufte und Eucharistie feiernde Christen sich der Wirklichkeit der Erlösung geöffnet haben, ohne daraus die nötigen Konsequenzen für das Leben zu ziehen (vgl. auch 1 Kor 11,29). Wir dürfen uns diese „viel härtere Strafe“ Gottes, seine „Rache“, „Vergeltung“ und sein „Gericht“ nicht als eine willkürlich von Gott verhängte Strafmaßnahme vorstellen. Es ist der unerträgliche Schatten, den das unreine Leben eines Menschen wirft, wenn er „in die Hände des lebendigen Gottes fällt“, der durch und durch Liebe ist. Im Licht dieser alles durchdringenden Liebe muss jeder Schatten von ungesühnter50 Sünde im Leben eines Menschen unsägliche Pein verursachen. Wir müssen uns das konkret vorstellen: Ein Mensch, der ein Kind missbraucht hat, wird in diesem jenseitigen Gericht zuinnerst von Gottes Liebe erfasst und muss im Licht dieser wahrhaftigen Liebe diese furchtbare – und vielleicht zeitlebens verleugnete – Tat als Teil seiner Lebensgeschichte anerkennen. Im Blick auf seine Lebensgeschichte müsste er verzweifeln. Im Blick auf Jesu erlösenden Kreuzestod begegnet er allerdings einer erlösenden Gnade, die ihm aus dem tiefsten Seinsgrund des missbrauchten Kindes entgegenleuchtet. Es ist nicht so, dass dadurch die Pein seiner Liebesreue gelindert würde. Im Gegenteil: Die Liebenswürdigkeit Christi und des Kindes geht ihm in ungekannter Tiefe auf, und das steigert den Schmerz über die von ihm begangene Untat über alle Maßen. Aber das Feuer dieses Schmerzes ist nicht bloß Strafe, es bewirkt die Läuterung des Sünders. So wird in einem Prozess, den die katholische Kirche als Fegfeuer bezeichnet, der Sünder in seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Biografie vollständig rein gemacht. Auf diese Weise – durch und durch Liebe – kann er die himmlische Herrlichkeit Gottes nicht nur ertragen, sondern als höchste Erfüllung genießen.

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Und was ist mit dem missbrauchten Kind? Im Kreuzesgeschehen hat Jesus Christus – der Mittler aller Schöpfung – auch dessen Leid getragen und sich mit ihm in all seinen Qualen identifiziert.51 Es ist dieses Leid, welches er dem Übeltäter vergegenwärtigt. So steht Christus – als Gekreuzigter – zwischen dem Kind und seinem Vergewaltiger. Dem Kind erscheint er in dessen eigenem tiefsten Seinsgrund, als von den Übergriffen des Täters selber zutiefst getroffen. Und er erscheint ihm auch aus dem tiefsten Seinsgrund des Übeltäters, dort wo dessen gottgeschenkte Schönheit und Gutheit noch ungebrochen ist, sowie auch überall dort, wo dieser Mensch selber Opfer von Dritten ist. Verbunden mit dem laufenden Reinigungsprozess des Vergewaltigers und einem ebenso ablaufenden Reinigungsprozess seines Opfers, das ja in anderen Bereichen von eigenen Sünden gereinigt wird, ebnet Christus dem Opfer den Weg, vergeben zu können.

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In diese Richtung müssen wir eine Antwort auf unsere Frage nach einer Erlösung für die ganze Welt suchen. Innerweltlich bleibt solche Erlösung für die meisten Menschen fragmentarisch. Was aber während des Lebens ausfällt, muss nach dem Tod im Jüngsten Gericht eingeholt werden.52

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Und die Hölle?

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Und was ist mit der Hölle? Sie ist die äußerste Möglichkeit einer endgültigen Verweigerung des Menschen, die wir offenhalten müssen, weil Erlösung gegen den Entschluss menschlicher Freiheit unmöglich ist. Wenn wir uns vorstellen, welche Qualen jede an uns entdeckte Lieblosigkeit im ungetrübten Licht von Gottes Wahrheit, Heiligkeit und Liebe hervorruft, dann müssten wir an der Heilsmöglichkeit für so gut wie jeden Menschen und auch für uns selber zweifeln. Der Himmel wäre leer. Wenn wir aber auf Jesus, den Gottessohn und seine grenzenlose Hingabe am Kreuz schauen, dann gibt es den Menschen nicht mehr, für den wir die Heilshoffnung fahren lassen dürften oder gar müssten. Das Kreuz ist das wirksame Zeichen (Realsymbol) dafür, wie weit der dreieine Gott bereit ist, zur Rettung der Sünder zu gehen. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13), – und wie viel mehr noch, wenn er sein Leben für seine Feinde lässt (Röm 5,10). – „Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32). Von daher dürfen, ja müssen wir im Blick auf den Gekreuzigten für das Heil von ausnahmslos jedem Menschen hoffen (Balthasar 2007). Damit rechnen wir nicht mit einer billigen Gnade, denn wir setzen einen höchst dramatischen Prozess der Erlösung voraus, der für Jesus Christus, für alle Menschen und für die Sünder im Besonderen einen ungeheuren Preis hat. „Mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12) hoffen wir auf das Heil eines jeden, denn wir stehen …

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„… vor dem theodramatischen Grundgesetz der Weltgeschichte, dass das Je-mehr der Offenbarung göttlicher Liebe ein neues Je-mehr … menschlichen Hasses hervortreibt. Ein Ende dieser Eskalation ist nicht abzusehen, deshalb muss das Kreuz an ein endloses Ende (da Jesus für jede Sünde gebüßt hat) verlegt werden. Am Ende des Bösen, der Hölle, ist das Kreuz aufgerichtet.“ (Balthasar 1983, 314f)
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In einer solchen Perspektive ist der Ernst unseres Lebens – das Gewicht der Freiheit und der Sünde – nicht verwässert, sondern sogar gesteigert. Die Angst vor einer ungewollt hereinbrechenden ewigen Hölle darf im Blick auf den Erlöser abgelegt werden. Aber es bleibt die Warnung vor einem Fegfeuer, in welchem jede Spur von Lieblosigkeit unerbittlich ausgebrannt wird. Auf diese Weise werden durchschnittlich lieblose Menschen darauf vorbereitet, den Himmel – als ewige Gegenwart einer vollkommen reinen Gottesliebe – nicht nur ertragen, sondern als unvorstellbares Glück genießen zu können. Auch dieses Fegfeuer ist nichts anderes als die Gegenwart von Gottes Liebe,53 die die Menschen unerbittlich durchdringt und alles, was noch Sünde ist, mit dem verzehrenden Feuer der Liebesreue ausbrennt. Für Menschen, die ein liebloses Leben führen – vielleicht nicht einmal durch aktive Missetaten, aber in einer grausamen Ignoranz gegenüber ihren Mitmenschen –, wird dieses Reinigungsfeuer der Liebe qualvoller sein, als sadistische Phantasien über höllische Folterqualen sich ausmalen konnten.

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Dass es die früheren Höllenpredigten, welche unzählige Menschen in furchtbare Ängste stürzten, heute nicht mehr gibt, ist von ganzem Herzen zu begrüßen. Aber ist die heutige Verkündigung nicht ins gegenteilige Extrem geraten, wo die Warnung ausfällt, dass wir Gottes Liebe, für die wir bestimmt sind, nur durch die Qualen eines recht verstandenen Reinigungsfeuers hindurch erreichen werden, in dem wir alles nachholen müssen, was wir in diesem Leben zu lieben versäumten? Nicht, dass man den Menschen Angst machen sollte! Wie die Verkündigung Jesu hat auch die kirchliche Verkündigung mit einer großen Freigabe und Ermutigung anzusetzen, – in der Vergegenwärtigung einer beglückenden Gottesliebe, die bedingungslos auch den Sündern gilt. Wo aber Menschen diese Liebe Gottes erfahren, ohne die Konsequenzen einer Umkehr für ihr Leben zu ziehen, da muss kirchliche Verkündigung warnen, so wie auch Jesus gewarnt hat. Jesus hat auch von der Hölle gesprochen (Mt 5,22; 5,29f; 25,46), und eine solche Warnung kann heute nicht einfach überholt sein. Überholt ist nur die Form früherer Höllenpredigten, wo sie Drohbotschaft ohne vorausgehende Frohbotschaft waren und ausgerechnet den Opfern der Sünde „Lasten auflegten, die sie kaum tragen konnten“ (Lk 11,46). Im Gegensatz dazu haben Jesu Höllenworte einen klaren Kontext: dort, wo Menschen die bedingungslose Zusage von Gottes Liebe erfuhren und auf dem Weg sind, diesen Kairos zu verspielen (S. ).

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Gewiss muss christliche Verkündigung erst noch darin wachsen, die bedingungslose Zusage von Gottes Liebe den heutigen Menschen nahezubringen. Aber wenn solche Gnadenerfahrung heute noch vorkommt (was gewiss der Fall ist), und wenn sie von den Menschen nicht schlechthin angenommen wird (was gewiss auch der Fall ist), dann können und dürfen Jesu Gerichts- und Höllenworte nicht bedeutungslos für die heutige Verkündigung sein. Es muss den Kontext auch geben, wo Prediger dringend warnen müssen vor fahrlässigen Selbstverstri-ckungen in Karriereträume und materielle Begehrlichkeiten, ebenso wie vor den Zerstreuungen einer Freizeit, in der Überfluss und Unterhaltung uns einschläfern angesichts jener Aufgabe, welche zuletzt das Einzige sein wird, was wirklich zählt: wie weit wir in diesem Leben gelernt haben, Liebe zu empfangen und Liebe weiterzugeben.

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Mit alldem lässt sich verdeutlichen: Es gibt eine Möglichkeit, dass wir – im Blick auf das erlösende Kreuz – auf das Heil eines jeden hoffen und dennoch das Gewicht menschlicher Freiheit ebenso wie die Gerichtsworte Jesu ernster nehmen, als es heute durchschnittlich geschieht.

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Aber habe ich Jesu Höllenworte nicht an einem entscheidenden Punkt völlig entschärft? Darf man denn anstelle von der Hölle einfach von einem Fegfeuer sprechen, das zeitlich begrenzt ist und das eindeutige Ziel der liebenden Vollendung in Gottes Gegenwart – also eines Himmels – hat? Jesus warnt doch vor einer ewigen Hölle, „wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt“ (Mk 9,48), und er sagt: „Wer … den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften“ (Mk 3,29). Wir haben hier schon klargestellt, dass die biblischen Jesusworte warnen wollen und keinem Menschen definitiv die Hölle zusprechen. Aber es gibt neutestamentliche Texte, die weiter gehen. Paulus spricht von der zukünftigen göttlichen Vergeltung für jene, „die Gott nicht kennen und dem Evangelium Jesu, unseres Herrn, nicht gehorchen“:

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„Fern vom Angesicht des Herrn und von seiner Macht und Herrlichkeit müssen sie sein, mit ewigem Verderben werden sie bestraft.“ (2 Thess 1,9)
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Ein rechtes Verständnis solcher Texte ist schwierig und würde uns über den Rahmen dieses Buches hinausführen. Hier müssen wir so weit darauf eingehen, dass wir die Hoffnung auf eine Erlösung für alle Menschen (1 Tim 2,4) biblisch verantworten können, – in einer umfassenden Sicht, die auch sperrigen Texten nicht aus dem Weg geht. Entscheidend für die genannten Bibeltexte ist ein rechtes Verständnis von „Ewigkeit“. Wir verstehen Ewigkeit automatisch als chronologische Unendlichkeit. Diese mathematische Vorstellung ist nicht einmal philosophisch zulänglich, und jedenfalls ist sie nicht das Konzept der Bibel. Wenn die Bibel von ewigem Verderben spricht, dann will sie damit weder sagen, dass dieser Prozess chronologisch ohne Ende ist, noch sagt sie, dass er chronologisch an ein Ende kommt. Sie denkt auf einer anderen, nämlich heilsgeschichtlichen und existenziellen Ebene. Es geht ihr um einen unvorstellbar langen Prozess, der für den dem Gericht Unterworfenen ohne absehbares Ende ist. Auch im Versuch eines verstehenden Nachvollzugs lässt sich ein Endpunkt nicht ausmachen. Dennoch kann auch ein solcherart ewiges Geschehen einen Ziel- und Endpunkt haben.

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In diesem Sinn spricht Paulus von der Offenbarung des göttlichen Geheimnisses, „das seit ewigen Zeiten unausgesprochen war, jetzt aber nach dem Willen des ewigen Gottes offenbart und durch prophetische Schriften kundgemacht wurde“ (Röm 16,25f). Mit einer Vorstellung von Ewigkeit als chronologischer Unendlichkeit wird ein solcher Satz sinnlos. Denn wie könnten ewige Zeiten durch ein „jetzt aber“ beendet werden?
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Wenn Paulus also davon spricht, dass die Menschen, die Gott nicht kennen (wollen!), mit ewigem Verderben bestraft werden (2 Thess 1,9), dann müssen wir das verstehen als einen unabsehbar endlosen Prozess, der dennoch auf Rettung hinauslaufen kann, so wie Paulus im ersten Korintherbrief schreibt:

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„Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: das Werk eines jeden wird offenbar werden; jener Tag wird es sichtbar machen, weil es im Feuer offenbart wird. Das Feuer wird prüfen, was das Werk eines jeden taugt. Hält das stand, was er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch.“ (1 Kor 3,11–15)
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Wie ein entschiedener Sünder durch das Kreuz erlöst wird

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Wir haben die Sünde gegen den Heiligen Geist als den schwierigsten Grenzfall für Erlösung beschrieben. Wo ein Mensch aus einer gnadenhaft geschenkten Gotteserkenntnis heraus zu Gott nein sagt, sperrt er sich in ein Gefängnis der Sünde und wirft zugleich den Schlüssel weg. Gott aber hat sich von Schöpfung an darauf festgelegt, die Freiheit des Menschen zu respektieren, selbst wenn dieser sich gegen ihn entscheidet. So kann der Todsünder weder von innen (durch sich selbst) noch von außen (durch Gott)54 aus dem Gefängnis seiner Sünde befreit werden. Wie ist für ihn Erlösung dennoch möglich?

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Als Antwortansatz stellten wir fest: Durch eine vertiefte Selbstoffenbarung schafft Gott eine neue Situation, in der auch noch der Todsünder seine Entscheidung gegen Gott revidieren kann. Jesu Kreuzestod steht für einen äußersten Endpunkt in einer dramatischen Serie vertiefter göttlicher Selbstoffenbarungen gegenüber einem notorischen Sünder, der jede neue Selbstoffenbarung Gottes noch einmal mit einem verschärften Nein beantwortet: Das Kreuz ist am Ende der Hölle aufgerichtet. Und die ultimative Situation von einer solch vertieften göttlichen Selbstoffenbarung für den Sünder ist das Jüngste Gericht.

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Aber wie kann das von innen und außen versperrte Gefängnis des Todsünders durch Jesu Kreuzestod aufgebrochen werden? Das Faktum, dass Jesus sich mit allen Opfern der Geschichte identifizierte und damit das ihnen angetane Leid in eine liebende Hingabe an Gott für die Menschen transformierte, modifiziert die Schuldgeschichte des sündigen Täters. Im Fall des Kinderschänders, für den verschärften Fall, dass er wusste, was er tat: Dass Jesus sich als Gekreuzigter mit dem Kind in allem ihm angetanen Leiden identifizierte, verändert etwas an der „objektiven“ Geschichte des Übeltäters. Auch wenn ihm das subjektiv noch nicht bewusst ist, gilt das Faktum, dass er mit seinem Übergriff nicht nur das Kind und andere betroffene Personen verletzte, sondern auch den Sohn Gottes selber: „Was ihr einem dieser Geringsten angetan habt, das habt ihr mir angetan“ (vgl. Mt 25,40.45).

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Die aufdeckende Wirkung des Heiligen Geistes – in Ansätzen noch während des Lebens und endgültig im Jüngsten Gericht – besteht nun darin, dass der Sünder mit seiner gesamten Lebens- und Schuldgeschichte konfrontiert wird, wie sie in Wahrheit ist. Dazu gehört nun auch das Faktum, dass er in seiner Tat Jesus Christus gewaltsam ausgetrieben hat, und dass Jesus diese ihm angetane Tat zu einer liebenden Selbsthingabe an den göttlichen Vater transformiert hat. Aufgrund des Übergriffs des Sünders gehören diese beiden Fakten zu seiner Schuldgeschichte dazu, und das heißt, dass er mit ihnen als Teil der vollen Wahrheit seiner Geschichte konfrontiert werden muss. Genau darin besteht die vertiefte Selbstoffenbarung Gottes – durch den Heiligen Geist – für den Todsünder. Damit verbunden ist die Einladung an ihn, diese durch Jesus transformierte Bedeutung seiner Übeltat für sich zu übernehmen. Wenn er es tut, ist das Gefängnis seiner schweren Schuld aufgesprengt. Das heißt allerdings nicht, dass damit die erlösende Reinigung von seinen Sünden schon vollzogen wäre. Im Gegenteil: Jetzt erst kann sie beginnen. Nun kann und muss sich der schwere Sünder mit Christi liebend-identifizierender Begleitung auf den Weg einer extrem schmerzhaften Reinigung begeben, – allerdings mit dem heilvollen Ausgang einer vollständigen Erlösung.

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7. „Durch sein Blut reingewaschen“ – Biblische Bilder der Erlösung

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Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben? Was hat sich durch Jesu Kreuzestod für die Menschen verändert? Im vorigen Kapitel haben wir ein Verständnis dafür entwickelt. Wir dachten nach über das Gewicht der menschlichen Freiheit und das Gewicht der Sünde. Wir begriffen die Macht der Sünde als ein Gefängnis, aus welchem weder der Sünder sich selbst noch Gott ihn befreien kann, wenn er nicht die Freiheit des Menschen brechen will. Nur durch eine vertiefte Selbstoffenbarung kann Gott den Menschen in eine Situation bringen, in der dieser neu Gott wählen kann. Wir erkannten das Risiko einer solchen vertieften Selbstoffenbarung – Freisetzung des Sünders zu einer gesteigerten Destruktivität – und verstanden das Kreuz als wirksames Zeichen (Realsymbol), das zeigt, wie Gott noch dem entschiedensten Sünder durch eine nochmals tiefere, sich selbst riskierende Selbstoffenbarung nachgeht und ihn zu neuer Heilsmöglichkeit freisetzt. Wir haben gesehen, wie Jesus sich bis zur Identifizierung auf die Menschen einlässt und die an ihm sich austobende Sünde in eine Tat liebender Hingabe verwandelt. Wir konnten nachvollziehen, wie dieser doppelte Schlüssel der Erlösung die Menschen durch ein dreifaches Wirken des Heiligen Geistes erreicht: in der Aufdeckung der Wahrheit der Sünde als Sünde, in der Bewusstmachung von Jesu liebender Verwandlung dieser Sünde und in der Eröffnung der Möglichkeit für den Sünder, diese wunderbare Verwandlung von Sünde in Heil als versöhnende Wirklichkeit für sein eigenes Leben zu übernehmen. Und wir bekamen eine Idee von der erlösenden Wirkung des Kreuzestodes als Befreiung von der Erpressermacht des Todes.

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Von daher können wir verstehen, dass und wie wir durch sein Blut erlöst sind. Wir können den Sinn der biblischen Rede von Sündenreinigung, Sühneopfer und Loskauf aus der Macht der Sünde nachvollziehen und übersetzen. Solch bildhafte Rede, wie wir sie in Bibel, kirchlicher Tradition und frommen Andachten vorfinden, hat aber einen Mehrwert, der durch theologische Erklärungen nicht eingeholt werden kann. Sie gebraucht Urworte, die tief in menschliche Urerfahrungen hineinreichen. Und so beschreibt die Bibel nicht nur Erlösung, sondern vergegenwärtigt sie und wirkt auf diese Weise selber erlösend. Die Bibel ist lebendiges Gotteswort, nicht nur, indem sie Jesus Christus als das lebendige Wort bezeugt, sondern indem sie zu erlösenden Schlüsselerfahrungen anstößt.

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Wenn wir uns im Folgenden einige biblische Bilder für Erlösung näher anschauen, geht es also nicht nur darum, sie von unserem Verstehensansatz her zu erklären. Wir wollen uns zugleich von der Macht der Bilder in die Tiefe führen lassen, damit das, was wir mit dem Kopf zu erklären vermögen, das Herz erreicht, – das ja biblisch nicht nur der Sitz der Gefühle, sondern eines ganzheitlichen Verstehens und der Willenskraft ist. Den Kopf, das rationale Begreifen, brauchen und dürfen wir dabei nicht vernachlässigen. Bilder können zugleich kraftvoll und missverstanden sein; dann treiben sie Menschen auf gefährliche Abwege. Das war – und ist noch immer – bei den Bildern von Erlösung in hohem Maße der Fall. Es gilt also, im Hören auf die biblischen Bildworte und zugleich in einer scharfsinnigen Unterscheidung unser Erfahren und Verstehen von Erlösung zu vertiefen.

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„Geh weg von mir, ich bin ein unreiner Mensch“

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Reinheit ist ein solches Urwort. Seit jeher haben Religionen Sünde mit Makel, Befleckung und Unreinheit verbunden. Zentral ist die Frage der Reinigung, und dafür gab es immer schon verschiedenste Praktiken und Rituale. Dass das nicht nur archaische Vergangenheit ist, zeigen Zerrformen, die bei Neurotikern spontan auftreten: etwa der Waschzwang. Sigmund Freud hat versucht, Religion insgesamt als kollektive Zwangsneurose zu erklären: menschheitlicher Rückfall in Archaisches, analog zur menschlichen Regression in Frühkindliches. Diese Kritik spricht auch Berechtigtes an. Religiöse Praktiken waren immer schon ambivalent.

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Versuchen wir, den Kern der Erfahrung von Unreinheit freizulegen. Da gibt es zunächst ein Grundgefühl existenzieller Unreinheit und Beschmutzung, die von manchen psychoanalytischen Richtungen als Symptom einer unterdrückenden Gesellschaft eingeschätzt wird. Infolge einer intoleranten Erziehung im Elternhaus sowie durch unterdrückende moralische und religiöse Autoritäten haben Menschen fragwürdige Normen internalisiert. Das hat in ihnen eine verengte „Überich-Instanz“ grundgelegt, die streng darüber wacht, wie man gefälligst zu sein hat und was man keinesfalls tun darf. Diese Normen sind unterdrückend und unerfüllbar. So bleibt nur die Möglichkeit, das Ungehörige vor anderen und vor sich selbst zu verschleiern, es zu verdrängen und abzuspalten. Auf diese Weise mehren sich im Verlauf eines Lebens die „Leichen im Keller“, und man verfängt sich mehr und mehr in ein Doppelleben. Man legt sich auf Masken und Rollen fest und wird sich selbst immer mehr entfremdet. Man kennt sich nicht wirklich und hält das Selbst, das man vor sich und anderen verbirgt, als zutiefst ungenügend und schmutzig.

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In solchen verinnerlichten gesellschaftlichen Einflüssen liegt gewiss ein tiefer Grund für das Gefühl einer existenziellen Unreinheit. Es ist keine oberflächliche Beschmutzung, die einem durch Beleidigung oder Verleumdung zugefügt wurde, oder der man sich selber aussetzt durch eine Peinlichkeit, die einem passiert ist. Durch einen öffentlichen Fehltritt – einen „Fauxpas“ – wird das Gefühl existenzieller Schmutzigkeit nur ausgelöst. Die abgrundtiefe Scham, die dabei aufbrechen kann, verrät, dass es um Wesentlicheres geht. Dieses tiefere Gefühl von Schmutzigkeit ist nicht lokalisierbar. Schon deshalb kann es normalerweise nicht direkt „gereinigt“, sondern nur zugedeckt werden.

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Das Grundgefühl einer existenziellen Schmutzigkeit wird ein Leben lang verstärkt durch ein Förderband, welches das Unzulängliche, das einem Menschen angelastet wird und das ihn innerlich trifft, von außen nach innen befördert, wo es zugedeckt und übertüncht wird. Das eigene Ich ist wie ein dicker Teppich, oder besser: ein Stapel dicker Teppiche, unter denen man im Lauf des Lebens immer mehr Müll anhäuft.

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In meinem vorigen Buch (Sandler 2009, 174f) habe ich den von Gott entfremdeten Menschen als ein Wesen mit drei Schichten beschrieben: Außen umgibt er sich mit einer strahlenden, attraktiven Hülle, mit der er sich und andere zufriedenstellt und blendet. Darunter befindet sich eine dicke Schicht von unschönen und verdrängten Anteilen. Das Bemühen um eine attraktive Außenschicht ist ein Selbstheilungsversuch, der neues Hässliches hervorbringt, das wieder verdrängt werden muss. So wächst die hässliche Innenschicht immer weiter und wird durch immer neue attraktive Außenhüllen übertüncht. Zuinnerst, doppelt verdeckt durch die äußere Glanzhaut und die immer dicker werdende hässliche Zwischenschicht, verbirgt sich die Schönheit einer gottgeschenkten Gottebenbildlichkeit: eine Schönheit, die der Mensch während seines Lebens verstellen und entstellen, aber niemals ganz auslöschen kann. Im Hinblick auf die beiden äußeren Schichten hat Jesus vor allem die etablierten Menschen massiv kritisiert:

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„Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz.“ (Mt 23,27f)
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Kehren wir zurück zum Grundgefühl existenzieller Unreinheit, wie es auch für Nichtchristen zugänglich ist. Im Waschzwang kann sich das Bedürfnis rituell fixieren, diese nichtlokalisierbare, abgründige Unreinheit loszuwerden. Dass dieser Versuch ungenügend ist, zeigt sich schon durch die unablässigen Wiederholungen. Das Ritual des zwanghaften Waschens oder Duschens lässt noch spurenweise die Kraft echter religiöser Rituale erahnen und vermittelt die kurzfristige Illusion existenzieller Reinigung. Aber diese eingebildete Besserung reicht nur zur Erzeugung eines zwanghaften Verhaltens. Religiöse Zwangsneurosen funktionieren ähnlich: Auch sie sind zum Scheitern verurteilte Versuche von Menschen, sich aus eigener Kraft zu reinigen. Endloses Herunterspulen von Gebeten oder mehrfach täglicher Messbesuch können zu Suchtsymptomen werden, deren Ausfall ein unerträgliches Gefühl existenzieller Schmutzigkeit nach sich zieht.

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Zweifellos hat eine gewisse Lehre über Erbsünde und persönliche Sünden dieses Gefühl einer abgründigen Schmutzigkeit bei zahllosen Christen verstärkt. Dies geschah oft in Verbindung mit einer Erlösungslehre, die die Sündenverfallenheit der Menschen dick herausstrich, um dann zu zeigen, dass wir nur durch Christus und allein durch das Kreuz gerettet werden können.

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Aber habe ich in diesem und dem vorhergehenden Buch nicht das Gleiche gemacht? Tatsächlich kehrte ich das Gewicht unserer Sündenverstrickung stark hervor. Und was ich in diesem Kapitel zur verdrängten Erfahrung existenzieller Schmutzigkeit geschrieben habe, deckt sich weitgehend mit meinen früher entwickelten Thesen zur Erbsünde. Wo also liegt der Unterschied zu einer – drastisch formuliert – „Mistkäfer-Theologie und -Verkündigung“, die dem Menschen zuerst seine Schmutzigkeit einredet, um ihm dann das kirchliche Christentum als „Waschmittel“ anzubieten?55

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Erstens sehe ich die Erfahrung existenzieller Schmutzigkeit, wie ich sie oben beschrieben habe, als ein Faktum, das trotz fortgesetzter Versuche ihrer Verdrängung jedem Menschen mehr oder weniger vertraut ist, unabhängig von einer christlichen Sozialisierung. Zweitens unterscheidet sich die spezifisch christliche Erfahrung von Unreinheit grundlegend von diesem allgemeinen Grundgefühl existenzieller Schmutzigkeit, und zwar dadurch, dass sie im Kontext einer den Menschen erhebenden Gotteserfahrung steht. Das wurde bereits mit den drei Elementen der erlösenden Geist-Erfahrung deutlich: Das erste Element – die Aufdeckung der Wahrheit von Jesu Verwerfung als Sünde – ist untrennbar verbunden mit der Erfahrung, dass Jesus Christus diese Tat in einen Akt der Liebe verwandelt hat, und dass wir diese Wandlung für uns übernehmen können. Damit wird drittens eine effektive Befreiung von der existenziellen Unreinheit möglich.

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Jesus hat verbreitete Auffassungen zu kultischer und religiöser Reinheit und Unreinheit massiv kritisiert. „Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein“ (Mt 15,11), hielt er den Schriftgelehrten gegen ihr Insistieren auf rituelle Speisegebote vor. „Damit erklärte Jesus alle Speisen für rein“ (Mk 7,19). Wie schon vor ihm die alttestamentlichen Propheten befreite Jesus religiöse Gebote von traditionellen Überwucherungen und führte sie auf ihren religiösen und ethischen Kern zurück.

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In diesem Kern ist Unreinheit nicht ein Zustand, in den man schicksalhaft hineinrutscht und auf den man von religiösen Institutionen festgelegt wird, sondern eine Erfahrung, die einhergeht mit echter Gotteserfahrung, die somit zugleich beglückend und erschreckend ist. „Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und lebe mitten in einem Volk mit unreinen Lippen, und meine Augen haben den König, den Herrn der Heere, gesehen“ (Jes 6,5), ruft Jesaja aus und erfährt alsbald eine gottgewirkte Reinigung:

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„Da flog einer der Serafim zu mir; er trug in seiner Hand eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. Er berührte damit meinen Mund und sagte: Das hier hat deine Lippen berührt: Deine Schuld ist getilgt, deine Sünde gesühnt.“ (Jes 6,6f)
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Ähnliches finden wir im Neuen Testament: Bei seiner ersten Jesusbegegnung erfährt Petrus Gottes Macht durch einen unvorstellbar erfolgreichen Fischfang. Das war gewiss ein beglückendes Ereignis. Dennoch fällt Petrus vor Jesus auf die Knie und sagt: „Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder“ (Lk 5,8).

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Sündenerkenntnis ist ein wesentlicher Teil in der Erfahrung einer vertieften Selbstoffenbarung Gottes. Wir haben das gesehen an den drei Elementen der erlösenden Geist-Erfahrung. Im Blick auf Erfahrungen aus der Bibel und von Christen bis in die Gegenwart können wir das Dreierschema nun verfeinern, indem wir feststellen: Das erste Element von Aufdeckung und Sündenerkenntnis geht dem zweiten und dritten Element von Gottes Güte und Vergebung nicht einfach voraus, sondern wird durch diese erst freigelegt und vertieft. Erfahrung des Heiligen Geistes ist ein Wechselspiel zwischen Erfahrung von Gottes Reinheit (2. Element) und eigener Unreinheit (1. Element), welches – letztlich durch Christi Hingabe – die Verheißung einer eigenen Reinigung (3. Element) eröffnet. Damit ist gegenüber verbreiteten religiösen Auffassungen zweierlei richtiggestellt:

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1. Worin die sündige Unreinheit besteht, kann überhaupt erst von einer heilvollen Gotteserfahrung her verstanden werden.

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2. Der Aufweis solcher Unreinheit darf in der christlichen Verkündigung niemals von der Erfahrung und Verheißung von Gottes Erbarmen losgelöst werden.

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Werden diese Prinzipien missachtet, dann pervertiert die Unterscheidung von Rein und Unrein zu einem „Identitätsmarker“: Dieser erlaubt eine säuberliche Trennung zwischen den Reinen, die zur erwählten Gemeinschaft gehören, und den Unreinen, die isoliert und ausgeschlossen werden. Die Entlarvung unreiner Menschen wird damit unverzichtbar für die Stabilität von Gemeinschaften: Im Seiten-Blick auf sie wird den Menschen auf trügerische Weise klar, wer sie eigentlich sind und was sie zusammenschweißt. Im Sinne einer solchen Funktionsverschiebung wird die Forderung nach Reinheit – oder auch Heiligkeit – auf eine Anzahl überprüfbarer Kriterien hin verengt. Solche Verengung hat Jesus mit seiner Gesetzeskritik scharf angegriffen.

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Weiters führt eine solche Seitenblick-Mentalität zwangsläufig in die Heuchelei. Der Auftrag, „Stadt auf dem Berg“ zu sein, wird zum systematischen Bemühen pervertiert, alles Unreine zu vertuschen (Sandler 2004). Die jüngsten Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche verweisen damit auch auf eine soteriologische (das Verstehen von Erlösung betreffende) Problematik. Sie sind Symptom einer tiefen Korrekturbedürftigkeit in der Weise, wie Kirche mit eigener Unreinheit umgeht.

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„Sühne, wirksam durch Glauben“

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Wir können uns nicht selber rein machen. Das war eine schmerzhafte Schlüsselerfahrung der Juden im Alten Testament (Jer 13,23). Wer es dennoch versucht, rudert sich nur noch tiefer in den Sumpf der Sünde. Die Erfahrung, dass nur Gott von Sünde reinigen kann, bringt das Alte Testament durch verschiedene Sühnemittel zum Ausdruck, die die Menschen als gottgegeben erfuhren. Leitend war das Prinzip, dass Blut notwendig ist, um Sühne zu vollziehen (Lev 17,11; Hebr 9,22). Die rituelle Opferung von Tieren – insbesondere vom sprichwörtlichen Sündenbock (Lev 16) – auf eine von Gott bestimmte Weise sühnt die Sünden des Gottesvolkes. Das heißt, sie versöhnt die Sünder mit Gott, indem sie sie von der Befleckung der Sünde reinigt. Auf diese jüdische Praxis des Sühneopfers bezieht sich das Neue Testament, um die erlösende Bedeutung von Jesu Kreuzestod anschaulich zu machen.

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„Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch Glauben“ (Röm 3,25), – oder in einer genaueren Übersetzung: „Ihn hat Gott hingestellt als Sühneort („Hilasterion“) in seinem Blut, durch den Glauben.“
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„Hilasterion“ ist ein Fachbegriff für die Deckplatte der Bundeslade, auf der nach alttestamentlichem Ritual die Sühneopfer darzubringen waren (Ex 25,17). Christus selber mit seinem Blut, das er am Kreuz vergoss, wird nun zum eigentlichen Sühneopfer, das die Opferpraxis des Alten Testaments restlos ersetzt, wie vor allem der Hebräerbrief betont (Hebr 10). Damit wird die alttestamentliche „Logik“ des Sühneopfers nicht nur übernommen, sondern entscheidend verschoben: Gemäß Altem Testament hat der Hohepriester dem Opfertier in einem symbolischen Akt die Sünden des Volkes „aufgestemmt“ (Lev 16,21); und durch den rituellen Tod des Tieres wurden diese Sünden „hinweggetragen“. Nach dem Neuen Testament hat Jesus (anstelle des Hohepriesters) sich selber (anstelle eines Opfertiers) hingegeben, um durch sein eigenes Blut jene Sünden hinwegzutragen, die ihm durch das Volk „aufgestemmt“ wurden. Dieses „Aufstemmen“ erfolgte nicht in einem rituellen Akt, sondern vermittels einer ungerechten kollektiven Beschuldigung, in der die Volksvertreter Jesus jene Wurzelsünde unterstellten oder „aufluden“, von der sie selber vom Sündenfall an getrieben waren: nämlich „sich zu Gott zu machen, obwohl man nur ein Mensch ist“ (Joh 10,33; vgl. Gen 3,5).

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Dieses dramatische Geschehen, in dem die sündhafte Auslieferung des Gottessohnes überformt wird durch eine Selbsthingabe Jesu Christi gemäß dem Willen des göttlichen Vaters, haben wir bereits eingehend beschrieben. Von daher wird als Freiheitsprozess nachvollziehbar, was die alttestamentliche Sühne- und Reinigungsmetaphorik nur dinghaft beschreiben konnte: dass Jesus durch sein Blut die Sünde der Menschen gesühnt oder abgewaschen hat.

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Wir können und müssen tatsächlich davon ausgehen, dass die Menschen ihre Sünden auf Jesus abluden, auch wenn wir wissen, dass dies ein Vorgang der Schuldabschiebung war, welcher weder Jesus wirklich schuldig noch die Verfolger Jesu wirklich frei von Sünde machte. Vielmehr handelte es sich um eine gewalttätige und lügnerische Projektion, mit der sie „das Maß ihrer Väter voll machten“ (Mt 23,32). Jesus hat diese ihm aufgelegte Sündenlast tatsächlich getragen und nicht einfach als Zumutung von sich gewiesen. Das heißt nicht, dass er selber wirklich zum Sünder wurde, aber auch nicht, dass er die gewalttätigen Folgen dieser Sünden bloß ertrug. Er ließ sich so tief auf die Menschen ein, dass die Gottferne, in die sie sich verfangen hatten, seine eigene für ihn lebenswichtige Gotteserfahrung verdunkelte. Sein Schrei am Kreuz macht das deutlich:

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„Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34).
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Wir können uns das folgendermaßen vorstellen: Die Sendung von Jesus zu den verlorenen Schafen Israels (Mt 15,24) ging so weit, dass Jesus seine Beziehung zu ihnen (bis zur Identifikation mit ihnen) und seine Beziehung zum himmlischen Vater nicht mehr voneinander zu trennen vermochte. Er konnte die Menschen nur innerhalb seiner Beziehung zum Vater wahrnehmen; und er konnte den himmlischen Vater nicht anders als in seiner Bezogenheit zu den Menschen erfahren. Wenn sich deren Gottesbezug durch Sünde verdunkelte, so konnten sie das in ihrer sündigen Verblendung ertragen: Sie waren Sünder, die die Abgründigkeit ihrer Sünde nicht beunruhigte. Jesus aber war der Sündenlose, der die Last ihrer Sünde in ungeminderter Härte spürte, – und zwar so, als ob es seine eigene Sünde wäre: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

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Von einer etwas anderen Perspektive her lässt sich dieser Zusammenhang vielleicht noch besser nachvollziehen: Jesu Aufgabe, zu der Gott ihn gesandt hatte, bestand darin, Gott zu den Menschen Israels – und dadurch zu allen Menschen – zu bringen. Diese Aufgabe war alles andere als ein bloßer „Job“, den er auch hätte an den Nagel hängen können. Jesus war so sehr mit dieser göttlichen Sendung identifiziert, dass das, was er war, also seine Person, überhaupt nur von dieser Sendung her begriffen werden kann. Jesus Christus ist der, der ganz vom Vater her und auf die Menschen hin ist. Er ist ganz Existenz vom Vater her für die Menschen. Und er ist das nicht, weil er sich eigenwillig darauf fixiert hätte – wie ein Workaholic, der meint, ohne seinen Job nichts zu sein –, sondern weil er wesentlich Sohn des göttlichen Vaters, Gottessohn und Schöpfungsmittler ist.

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Was bedeutet es von daher, wenn die Menschen, zu denen er gesandt ist, sich immer mehr von Gott abwenden? Es ist das offenkundige Scheitern seiner Sendung. Und weil Jesus vollkommen mit seiner Sendung identifiziert ist, bedeutet das das Scheitern seiner Person. Die Menschen, zu denen er sich gesandt weiß – wir alle und ein jeder von uns –, sind ihm nicht bloß nicht egal. Wir sind sein Leben. Wenn wir scheitern, dann ist das sein Scheitern. Wenn sich unsere Beziehung zu Gott in Sünde verdunkelt, so verdunkelt sich dadurch seine Beziehung zum himmlischen Vater. – Bis zum Schrei am Kreuz: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“

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Kehren wir zurück zur Erklärung von Sühne. Wir stellten fest, dass an Jesu Kreuzestod als Freiheitsprozess nachvollziehbar wird, was die alttestamentliche Sühne- und Reinigungsmetaphorik nur dinghaft beschreiben konnte. Wie wir soeben gesehen haben, ist die Schuldabschiebung von den Gegnern Jesu – und von allen Sündern – auf ihn eine Realität von höchstem Gewicht, auch wenn dadurch weder der Sünder frei von seiner Sünde noch Jesus zum Sünder gemacht wird. Der Zweite Korintherbrief drückt das präzise aus: Der, der keine Sünde kannte, wurde für uns „zur Sünde gemacht“ (2 Kor 5,21), – und nicht zum Sünder. Und auch wenn dadurch wir Sünder noch nicht frei von unserer Sünde werden, so hat sich doch etwas an unserer Schuldgeschichte objektiv verändert: Jesus wird zum zentralen „Faktor“ in unserer Schuldgeschichte: ebenso in dem, was er von uns litt, wie auch in dem, was er in seiner Liebe zum Vater und zu uns allen daraus machte. Indem wir durch den Heiligen Geist mit dieser zweifachen Wahrheit unserer Sünde konfrontiert werden, kann die von Jesus gewirkte „Sühne zur Reinigung von den Sünden“ uns erreichen und damit an ihr Ziel kommen: in einem freien Akt von uns, in dem wir die erlösende Modifikation unserer Schuldgeschichte, die von Jesus am Kreuz im Voraus gewirkt wurde (Röm 5,10), für uns übernehmen:

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„Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch Glauben“ (Röm 3,25).
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So finden wir ohne irgendwelche Abstriche an die Vernunft zum schlichten und doch enorm wirkungsvollen christlichen Bekenntnis zurück: „Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen.“ (1 Petr 2,24) – „Durch sein Blut haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade.“ (Eph 1,7) Und wir können einen seit der Aufklärung verbreiteten Einwand gegen das christliche Verständnis von Erlösung entkräften: Schuld sei „keine transmissible Verbindlichkeit, die etwa wie eine Geldschuld … auf einen anderen übertragen werden kann“, kritisierte Immanuel Kant (Kant 1968, 726f) und verpflichtete die Menschen auf eine moralische Selbsterlösung, die ihnen „Lasten auflädt, die sie [als noch nicht von Gott Befreite] kaum tragen können“ (Lk 11,46). Darauf lässt sich antworten: Christi stellvertretende Erlösung besagt auch nicht, dass unsere Schuld auf ihn abgeleitet würde, sondern dass wir von ihm freigesetzt werden, unsere Schuld aus einer Beziehung mit ihm heraus abzutragen (vgl. Mt 11,28).

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Es heißt: „Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben56“ (2 Kor 5,14) und nicht: „… also brauchen wir nicht mehr zu sterben“. In keinem Punkt ersetzt Erlösung das, was wir selber zu tun haben. Vielmehr setzt uns die Erlösung dazu frei, dass wir tun, was an uns ist, was wir aber – in Sünde abgeschnitten von Gottes Herrlichkeit – unmöglich zu tun vermögen.

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„Christus – geopfert, um die Sünden Vieler hinwegzunehmen“

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Sühne und Opfer sind für biblisches Denken voneinander untrennbar. Vom Alten Testament her ist Sühne nur möglich durch Blut, – und zwar durch das Blut eines Opfertiers, vorzugsweise eines Widders oder Lammes (Num 6,14). Gemäß der Bibel ist Jesus das von Gott erwählte Opferlamm, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29), und zwar durch seinen Tod: als „Lamm, … wie geschlachtet“ (Offb 5,6.12), durch dessen Blut die Gewänder der Heiligen gewaschen und weiß gemacht wurden (Offb 7,14). Vor allem nach dem Hebräerbrief läuft die alttestamentliche Opferpraxis – ebenso wie die prophetische Opferkritik! – auf den Kreuzestod Jesu zu und findet in ihm Ziel und Abschluss zugleich:

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„… durch diese [gemäß alttestamentlichem Gesetz dargebrachten] Opfer wird alljährlich nur an die Sünden erinnert, denn das Blut von Stieren und Böcken kann unmöglich Sünden wegnehmen. Darum spricht Christus bei seinem Eintritt in die Welt: Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, doch einen Leib hast du mir geschaffen; an Brand- und Sündopfern hast du kein Gefallen, … obgleich sie doch nach dem Gesetz dargebracht werden; dann aber hat er gesagt: Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun. So hebt Christus das Erste auf, um das Zweite in Kraft zu setzen. Aufgrund dieses Willens sind wir durch die Opfergabe des Leibes Jesu Christi ein für alle Mal geheiligt.“ (Hebr 10,3–10)
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Der alttestamentliche Opferkult, der für uns nicht nachvollziehbar ist und den der Hebräerbrief als wirkungslos bezeichnet (Vers 4), wird durch Jesus in zwei gegensätzliche Richtungen über sich hinausgeführt: Der Opfervollzug wird zugleich vergeistigt – in einen Akt des Gehorsams, der allein Gott gefällt (Vers 9; Ps 51,18) – und „verfleischlicht“ (im wörtlichen Sinn: „inkarniert“), indem er vollends in der brutalen Realität dieser Welt verankert wird. Das Kreuzesopfer wirkt auf nachvollziehbare Weise erlösend, indem es die Opferpraktiken unserer Welt transformiert, – und zwar nicht nur die alttestamentlichen Tieropfer, sondern unsere alltägliche sündige Praxis, Menschen zu Opfern zu machen, um nicht selbst zu Opfern zu werden. Diese für unsere Welt symptomatische Opferlogik läuft durchwegs auf das Kalkül des Kajaphas hinaus, der die Tötung Jesu mit den Worten rechtfertigte:

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„Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.“ (Joh 11,50)
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Für den Evangelisten Johannes hat dieser Satz höchste Bedeutung. Fern davon, Kajaphas Zynismus zu unterstellen, fährt er fort:

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„Das sagte er nicht aus sich selbst; sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das Volk sterben werde.“ (Joh 11,51)
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„Dass Jesus für das Volk sterben werde“, – das war gewiss nicht das, was Kajaphas gemeint hatte. Mit wenigen Worten umreißt Johannes hier eine Transformation des Opfers, durch welche Jesu Kreuzestod erlösend wirkt. Im Blick auf die dreifache Bedeutung des biblischen Wortes für Hingeben („paradidonai“) haben wir diese Transformation bereits ausführlich behandelt (S. ). Die Menschen liefern Jesus aus, und Jesus wandelt diese Auslieferung in einen Akt liebender Selbsthingabe – an den himmlischen Vater für alle Menschen. Er hat sich selbst hingegeben, in freiem Gehorsam gegenüber dem Heilswillen des himmlischen Vaters, wodurch es dem Vater möglich war, den Sohn hinzugeben und so die Menschen aus dem Gefängnis zu erlösen. Hier finden wir den zentralen Vollzug wieder, in den Jesu Selbst-Opfer gemäß dem Hebräerbrief mündet:

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„… dann aber hat er gesagt: Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun. … Aufgrund dieses Willens sind wir durch die Opfergabe des Leibes Jesu Christi ein für alle Mal geheiligt.“ (Hebr 10,9f)
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Und damit vermag Jesus einzuholen, was das vierte Gottesknechtlied verheißt:

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„Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen.“ (Jes 53,10)
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„Reingewaschen durch sein Blut“

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Sühne, Opfer, Blut und Reinigung (von Sünden) sind für die Bibel Vorstellungsfelder, die engstens miteinander zusammenhängen. Ihre Überlappung und Vermischung führt gelegentlich zu kühnen Metaphern, die uns irritieren. So etwa, wenn die Johannesoffenbarung über Märtyrer sagen lässt:

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„Sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht.“ (Offb 7,14)
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Blut vermag von Sünden zu reinigen. Wie dies durch Jesu Transformation unserer Sünden und durch unsere glaubende Übernahme dieser Transformation als personaler Prozess nachvollziehbar ist, haben wir schon mehrfach dargelegt.

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Das soll im Folgenden konkretisiert werden im Blick auf das existenzielle Grundgefühl einer abgründigen Schmutzigkeit, wie wir es zu Beginn dieses Kapitels beschrieben haben. Dort führten wir dieses Grundgefühl zurück auf den „Müll“, den wir im Laufe unseres Lebens unter die „Teppiche“ jener Identitäten kehren, mit denen wir uns anderen gegenüber präsentieren.

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Psychoanalyse versucht, die oft banalen Auslöser eines lähmenden Gefühls von Schmutzigkeit freizulegen. Solche Erkenntnis kann hilfreich sein für eine innere Befreiung, ist aber noch nicht Befreiung. Die Möglichkeiten einer auf solcher Einsicht aufbauenden praktischen Befreiung sind ambivalent: Man kann versuchen, Verantwortliche – Eltern, Autoritätspersonen, „die Gesellschaft“ – dingfest zu machen, und den Müll an den vermeintlichen Absender zurückzuschicken: Sie sind schuld an meinen Schuldgefühlen. Die tiefenpsychologische Einsicht kann aber auch einen Prozess der Vergebung und Versöhnung unterstützen. Oder sie führt dazu, dass man die Maßstäbe heruntersetzt: Man wird zur nüchternen Einsicht angeleitet, dass die Suche nach Wahrheit und Erfüllung nur eine irreführende Illusion war.

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Christen gehen zur Beichte, – zumindest, wenn sie katholisch sind. Und auch dann immer weniger, denn die katholische Beichtpraxis ist in eine Krise geraten. Kann das Sakrament der Beichte von jener abgründigen, nicht lokalisierbaren Schmutzigkeit reinigen, die so viele Menschen tief in sich vorfinden? Vielleicht ein wenig, denn man kann sich Sachen von der Seele reden. Wenn schon nicht Reinigung, dann wenigstens etwas Psychohygiene! Aber geht das in einer professionellen Gesprächstherapie nicht viel effektiver?

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Das eigentliche Fundament des Bußsakraments – wie auch der anderen Sakramente – ist die Erlösung in Jesus Christus. Hier gibt es tatsächlich eine Reinigung von Sünde, die durch sein Blut geschieht. Wie das „funktionieren“ kann, haben wir im 6. Kapitel erklärt. In jedem Akt, mit dem wir einem anderen Menschen, uns selbst oder einem Teil der Schöpfung schaden, treffen wir Jesus Christus, der als Schöpfungsmittler jedem Menschen „innerlicher ist als er sich selbst“. Immer, wenn wir uns vor anderen besser darstellen, als wir sind, verschleiern und verraten wir etwas vom tiefsten Seinsgrund in uns. Und damit schaden wir anderen ebenso wie uns selbst. Denn nur auf diesen – von uns aus Stolz, Angst oder Eitelkeit verborgenen – Seinsgrund hin, wo wir zugleich ganz wir selber und mit Gott verbunden sind, können wir wirklich geliebt, das heißt um unser selbst willen angenommen werden. Ganz anders der Glanz an Schönheit, Besitz, Macht, Talent oder Leistungsfähigkeit, den wir anderen und uns selbst vorspielen, um attraktiv zu sein. Er erzeugt Faszination, Abhängigkeit, Neid und Rivalität. Deren Früchte können mich kurzfristig befriedigen, aber nicht wirklich satt machen. Und langfristig sind es Früchte der Zerstörung und des Todes. Es sind teuflische Früchte, vor denen uns die Bibel warnt, – begonnen mit dem verbotenen Baum in der Schöpfungs- und Sündenfallgeschichte.

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Der Baum des Lebens hingegen wächst mitten in uns. Ebenso wie das Gottesreich: „Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch“ (Lk 17,21), – oder „in euch“. Beides kann der griechische Urtext bedeuten. Der Baum des Lebens, das Reich Gottes, Gott selber, der unser Heil bewirkt: All das ist schon da! Nur wir sind nicht da. Darin liegt das eigentliche Problem. Wir sind nicht bei uns selbst. Aus falscher Scham verbergen wir unser Schönstes – uns selbst – vor anderen und vor uns selber. Und wir sind nicht bei den anderen und nicht bei den Dingen der Welt. Hin und her gerissen von Ängsten und Begierden sind wir immer woanders: bei dem, was unser Nächster hat oder kann und wir nicht; bei vergangenen Erfolgen oder erlittenen Kränkungen; bei zukünftigen Chancen oder Bedrohungen.

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Nicht Gott hat uns aus dem Paradies, dem Gottesreich vertrieben; wir haben das selbst getan, – und tun es immer wieder. Mit jedem Vollzug der Maskierung und Verschleierung vertreiben wir Christus – den Mittler zu Gott und zur Schöpfung – aus uns selber. Und wir vertreiben ihn aus anderen, wenn wir sie durch unser Theater verleiten, es uns gleichzutun. So gibt es zahllose Taten und Verhaltensweisen, in denen wir Christus aus dieser Welt austreiben. Alles was in dieser Welt Sünde ist – längst nicht nur aktives Sündigen im moralischen Sinn, sondern unser alltägliches verblendetes Handeln im Gefängnis der Sünde unter der „Erpressermacht des Todes“ – all das zielt im Tiefsten auf eine Austreibung Christi. Diesen innersten Wurzelgrund der „Sünde der Welt“ (Joh 1,29) – und jeder einzelner Sünde in ihr – hat Jesus durch seinen Kreuzestod verwandelt in einen Akt der liebenden Hingabe an den himmlischen Vater für uns alle. Indem wir durch den Heiligen Geist mit der zerstörerischen und – dank Jesus – erlösenden Wahrheit unserer Christusaustreibungen konfrontiert werden, kann uns das erlösende Werk seines Kreuzestodes erreichen.

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Von daher öffnen sich konkrete Wege, wie wir als Christen das Grundgefühl einer abgründigen Schmutzigkeit von der Wurzel her überwinden können:

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Im Blick auf den Gekreuzigten, der all unsere Leiden getragen hat, kann ich meine Bitterkeit über erlittenes Unrecht auflösen und mich für konkrete Prozesse der Vergebung und Versöhnung öffnen. Denn ich weiß, dass die an mir Schuldigen tiefer noch als mich ihn getroffen haben. Und wenn er, der vollkommen Reine und Schuldlose, die Übeltäter nicht verflucht, sondern ihre Bosheit in Liebe verwandelt hat, dann kann ich „meinen Schuldigern vergeben, wie auch mir vergeben wurde“, wie wir im Vaterunser beten.

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Im Blick auf den Gekreuzigten, der sich von meinem heillosen Tun hat treffen lassen und daraus einen Akt versöhnender Liebe gemacht hat, kann ich frei werden von meinen konkreten und diffusen Schuldgefühlen. Auch wenn Menschen, an denen ich schuldig wurde, sich mir gegenüber unversöhnlich verhalten, weiß ich, dass ich in ihrem tiefsten Seinsgrund, wo sie mit Christus verbunden sind, durch ihn bereits anfänglich mit ihnen versöhnt bin. Gleich ob ich Täter oder Opfer bin, und ohne Notwendigkeit, beides auseinanderzudividieren: Mein dankbarer und reumütiger Blick auf den Gekreuzigten reinigt mich von der Wurzel her von dem Grundgefühl einer existenziellen Schmutzigkeit. Es ist eine Reinigung, die mich wieder durchscheinend macht für Gott, den ich in meinem tiefsten Seinsgrund widerspiegle. Maskierungen und Feigenblätter werden verzichtbar, und ich kann vor mir selbst und vor anderen wieder sein, ohne ihnen und mir ein Theater vorzuspielen. In dieser Einfachheit ist jeder Mensch schön und liebenswert.

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8. Muss Gott Blut sehen? – Die Krise des traditionellen Erlösungsverständnisses und ihre Überwindung

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Die beiden vorausgehenden Kapitel erschlossen ein Verständnis dafür, wie wir durch das Kreuz erlöst und durch Jesu Blut vom Schmutz der Sünde reingewaschen werden. Ein solches Verständnis tut dringend not, denn in der Verkündigung der heutigen Kirche fällt es weithin aus. Welcher Christ versteht heute noch das Eucharistiegebet „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt“? Wer kann erklären, warum wir Kreuze aufstellen und darin ein Zeichen des Heils sehen? Vor fünfzig Jahren hatten die meisten Christen eine klare Antwort:

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Durch sein Leiden und seinen Kreuzestod hat Jesus Genugtuung (Satisfaktion) geleistet für unsere Sünden. Hätte er das nicht getan, dann würden wir die Strafe für die Sünde tragen müssen. Und diese Strafe ist die Hölle.
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Zahllose Predigten und Volksmissionen haben derartige Vorstellungen von Erlösung tief im Kirchenvolk verankert. Das Leid und die Verzweiflung, von dem die Menschen geplagt waren, konnten als vergleichsweise harmloses Vorspiel von dem dargestellt werden, was einen Menschen in der Hölle erwartet. Erschrecken und Angst vor diesen drohenden Konsequenzen trieb die Menschen in die Kirchen: zu den Sakramenten, in Frömmigkeitsübungen und in ein Ringen um ein besseres Leben. Die Nebenwirkungen dieser Art von Verkündigung waren enorm. Drohbotschaft stand vor Frohbotschaft, und die Frohbotschaft beschränkte sich weitgehend auf einen fernen Himmel. Die Menschen meinten, sie müssten erst aus eigener Kraft besser werden, um bei Gott Gefallen zu finden. Und dieser Gott stand ihnen als unerbittlicher Richter vor Augen. Viele stellten sich ihn als zornigen Rächer vor, der noch die geheimsten Sünden sieht und seine Pfeile auf die sündigen Menschen abschießt: Krankheiten und Katastrophen als Strafen Gottes. Auch Christus wurde als strenger Weltenrichter gesehen, und so war es oft nur Maria, der sich verängstigte Katholiken anvertrauten. Sie sollte – wie in manchen Kirchenfresken dargestellt – die von Gott auf die Sünder abgeschossenen Pfeile an ihrem Schutzmantel abprallen lassen.57

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Ein größerer Gegensatz zum Gottesbild Jesu und der Evangelien ist nicht vorstellbar. Und doch geht diese „Gottesvergiftung“ (Tilmann Moser) auf missverstandene biblische Bilder von Erlösung zurück. Den gefährlichen Übergang zwischen beidem markierte eine mittelalterliche Erlösungslehre, die bis ins zwanzigste Jahrhundert auf Katholiken und Protestanten einen ungeheuren Einfluss hatte. Damals verfasste der Abt Anselm von Canterbury ein Werk mit dem Titel „Warum ist Gott Mensch geworden?“ (Anselm 1956). Seine Antwort lautete, auf den Punkt gebracht: damit er am Kreuz für uns sterben konnte. Denn nur so konnte er uns von den höllischen Folgen unserer Sünden retten, gemäß der Logik: „Entweder Strafe oder Genugtuung (Satisfaktion)“. Diese unselige Alternative war den mittelalterlichen Menschen von ihrem Rechtsverständnis her vertraut. Demnach standen Herrscher und Untertanen in einem Verhältnis wechselseitiger Verpflichtung. Der Herrscher schuldete seinen Untertanen Schutz und materielle Absicherung. Dafür schuldeten die Untertanen ihren Herrschern Gefolgschaft und Respekt. Wenn nun ein Untergebener einen König öffentlich beleidigte, so musste er dafür Genugtuung leisten oder die vorgesehene Strafe tragen. Das hatte nichts zu tun mit einer persönlichen Empfindlichkeit des Königs, sondern mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.58

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Das Problem spitzte sich dadurch zu, dass ein einfacher Untertan nicht die Mittel besaß, Genugtuung zu leisten. Eine öffentliche Entschuldigung konnte kein ausreichendes Gegengewicht abgeben für den Schaden, den seine Beleidigung der öffentlichen Ordnung zugefügt hatte. In einem solchen Fall blieb dann nur die Strafe, welche gewöhnlich in einer Verurteilung zum Tod bestand.

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Übertragen auf das Verhältnis zwischen göttlichem Herrscher und menschlichen Untertanen bedeutete dies: Wenn der Mensch sündigt, untergräbt er die Ordnung der Schöpfung. Die dafür angedrohte Strafe lautet Tod (Gen 2,17), und zwar nicht leiblicher, sondern ewiger Tod: Hölle. Und der Mensch hat kein Mittel, um dieser Strafe durch Satisfaktion zu entgehen. Denn er besitzt nichts – auch nicht sein leibliches Leben –, was er nicht ohnehin Gott schuldet und mit dem er folglich Genugtuung leisten könnte. In dieser Notlage tritt nun Jesus Christus als „wahrer Gott und wahrer Mensch“ für uns Sünder ein. Als Mensch ist er einer von uns und kommt deshalb dafür in Frage, für uns ein Mittel zur Satisfaktion bereitzustellen. Und als unsterblicher Gott und Menschgewordener verfügt er über etwas von unendlichem Wert, das er zur Satisfaktion für unsere Sünden einsetzen kann: sein leibliches Leben. Durch seine Lebenshingabe am Kreuz können wir der Höllenstrafe entgehen. Denn wir haben nun etwas, das wir Gott vorlegen können, um für unsere Sünden Satisfaktion zu leisten.

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„… Was könnte barmherziger gedacht werden, als wenn Gott Vater zu dem Sünder, der zu ewigen Peinen verurteilt ist und nicht hat, wodurch er sich daraus befreien könnte, spricht: nimm meinen Eingeborenen und gib ihn für dich; und der Sohn: nimm mich und erlöse dich? So sprechen sie gleichsam, wenn sie uns zum christlichen Glauben rufen und ziehen.“ (Anselm 1956, 153)
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Dieses Zitat ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Es zeigt erstens, dass Gott nach der Sichtweise von Anselms originaler Satisfaktionslehre keineswegs der zornige Beleidigte ist, der die Höllenstrafe der Sünder anzielen oder ersatzweise das Blutopfer seines Sohnes fordern würde. Vielmehr ist er der liebende Vater, der dem Sünder Barmherzigkeit zukommen lassen will, ohne damit allerdings die erforderliche Gerechtigkeit zu vernachlässigen. Zweitens ersetzt nach Anselm das Kreuzesopfer keineswegs die Verpflichtung der Menschen, selber an ihrer Erlösung mitzuwirken. Im Gegenteil: Jesu Kreuzesopfer dient den Menschen als Mittel, damit sie diese Verpflichtung wahrnehmen können: „Nimm mich und erlöse dich.“ Damit wird allerdings auch verständlich, warum die Menschen sich nach Christi Erlösung nicht einfach erlöst zurücklehnen können, sondern sich „mit Furcht und Zittern“ um ihr Heil bemühen müssen (Phil 2,12). Der Kreuzestod Jesu muss erst als Satisfaktionsmittel zur eigenen Erlösung ergriffen werden, und das geschieht durch Glauben, durch den Eintritt in die Kirche und durch ein entsprechendes Leben. Dass die Sünde ohne solche Aneignung von Christi Erlösungswerk die Hölle nach sich zieht, wird selbstverständlich vorausgesetzt.

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Auf diese Weise macht Anselms Satisfaktionslehre deutlich: Wir können leben, weil Christus für uns gestorben ist. So vermag Anselm biblische Aussagen von einem „wunderbaren Tausch“ einzuholen: „Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5,21). Anselms Satisfaktionslehre macht die Logik dieses Tausches nachvollziehbar. Dies aber nur so lange, als das Grundgesetz einleuchtet, welches im Falle einer Verletzung der öffentlichen Ordnung vor die Alternative stellt: entweder Strafe oder Satisfaktion. Das war für die Menschen in mittelalterlichen politischen Systemen plausibel. Es war ihnen sofort klar, dass ein Untertan, der seinen König öffentlich beleidigte, dessen Ehre und die öffentliche Ordnung grob in Mitleidenschaft zog. Das konnte nicht dadurch behoben werden, dass der Untertan später seine Tat bereut und sich beim König entschuldigt. Seine Macht und sein Einfluss würden nicht annähernd ausreichen, um wiedergutzumachen, was er durch seine öffentliche Beleidigung angerichtet hatte. Um die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden, musste der König strafen.

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Dieses mittelalterliche politische System, das von einer gegenseitigen Loyalitätsverpflichtung zwischen Lehnsherr und Vasall ausging, ist heute unwiederbringlich dahin. Inzwischen gibt es andere Methoden – vor allem ein Justizsystem und die Exekutive im Rahmen einer politischen Gewaltenteilung –, um mit Störungen der öffentlichen Ordnung klarzukommen. Damit hat aber auch Anselms Argumentationslogik ihre Einsichtigkeit verloren. Sie wirft nun heikle Fragen auf: Wer hat denn das so festgelegt, dass die Sünde eine schwere Verletzung der göttlichen Ehre und der geschöpflichen Ordnung ist? Und wer hat entschieden, dass die angemessene Strafe für eine solche Ehrverletzung die ewige Höllenqual ist? Wer hat die Regel „entweder Strafe oder Genugtuung“ eingeführt? All diese Fragen fallen nun auf Gottes freien Ratschluss zurück: „Gott hat es nun mal so eingerichtet. Ist Gott als Schöpfer nicht frei, die Regeln für seine Schöpfung festzulegen?“ – Aber was ist das für ein Gott, der solche Regeln einführt?

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Auf diese Weise ist die Satisfaktionslehre, die bis vor wenigen Jahrzehnten die Theologie und Verkündigung weitgehend bestimmte,59 geradezu zwangsläufig mit der Vorstellung von einem schrecklichen, unerbittlichen Gott verbunden, – und zwar durchaus im Gegensatz zur Intention ihres Begründers Anselm von Canterbury.

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Nun kam es in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem beispiellosen Umbruch im dominierenden Gottesverständnis der kirchlichen Theologie und Verkündigung. Innerhalb einer einzigen Generation wurden die angstbesetzten Vorstellungen von einem zornigen Richtergott und von drohender Höllenpein beinahe restlos ersetzt durch das Bild von Gott als einem barmherzigen, alle Sünden vergebenden Vater. Dieser beispiellose Umschlag von einer Drohbotschaft zu einer Frohbotschaft bewirkte zu Recht ein großes Aufatmen.60 Die dominierende kirchliche Verkündigung stand Jesu Gottesreichbotschaft – mit ihrem Ausgangspunkt einer bedingungslosen Zuwendung des liebenden Gottes – wieder näher. Aber zugleich wurde die biblische Rede von Gericht und Gotteszorn unverständlich und deshalb weitgehend ignoriert (Miggelbrink 2002). Und der Satisfaktionslehre – die zur Erklärung von Erlösung beinahe ein Monopol innehatte – war vollständig der Boden entzogen. Wie ließ sich nun noch die Frage beantworten, wozu Jesus Christus am Kreuz gestorben ist?

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Die glückliche Wende im dominierenden Gottesverständnis riss also zugleich das Verständnis von Erlösung in die Krise. Diese Krise wirkt sich in zentralen Bereichen des kirchlichen Lebens aus, – etwa in der Eucharistie. Für viele Kirchgänger wurde das eucharistische Hochgebet mit den Wandlungsworten zu einem fremdartigen Block. Dass genau dieser unverständliche Teil in den – aufgrund des Priestermangels zunehmend verbreiteten – Wortgottesdiensten wegfällt, wird deshalb nicht selten mit Erleichterung aufgenommen.

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Die Krise im Erlösungsverständnis hat auch zu einer verschärften Polarisierung in der Kirche beigetragen. Da gibt es Progressive, welche am liebsten den Ballast einer überholten Kreuzesfrömmigkeit restlos über Bord werfen würden, und es gibt Konservative, die sich verbissen an den traditionellen Kernbeständen festklammern. Sie tun dies aus dem berechtigten Gefühl, dass andernfalls das unterscheidend Christliche verloren ginge. Aber sie sehen nicht ein, dass der Sinn von Erlösung einem heutigen Verstehen neu – mit veränderten Denkansätzen und Ausdrucksmitteln – eröffnet werden muss.

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Und die neuere Theologie? Auf den Umbruch im dominierenden Gottesverständnis hatte sie entscheidenden Einfluss. Gottes Liebe als eigentlicher Grund von Erlösung wurde neu in den Mittelpunkt gerückt. Das ist von unschätzbarer Bedeutung. Zudem arbeiteten Theologinnen und Theologen heraus, dass Erlösung sich nicht nur auf das Kreuz beschränkt. Sie umfasst das gesamte Christusereignis mit Menschwerdung, öffentlichem Wirken, Kreuz und Auferstehung. Und auch die Heilsgeschichte des Alten Testaments darf dabei nicht ausgeblendet werden. Jesu Kreuzestod wird vor allem als Konsequenz von Jesu erlösender Gottesreichverkündigung gesehen, welche die dominierenden Mächte dieser Welt auf gefährliche Weise untergrub. Warum Jesus gekreuzigt wurde – wie es also dazu kam und geradezu kommen musste –, wurde von daher plausibel. Aber die traditionelle Frage, wozu Jesus gestorben ist – wie aus seinem Tod etwas Gutes für unser Heil werden konnte –, blieb demgegenüber oft eingeklammert. Wo diese Frage gestellt wird, versteht man Jesu Tod meist als ein Zeichen, wie weit Gott in seiner Liebe und Solidarität mit den Menschen zu gehen bereit ist. Überdies wird oft darauf hingewiesen, dass nicht Jesu Tod allein, sondern seine Auferstehung erlösende Kraft hat. Wie aber können wir diese Auferstehung verstehen, und welche Bedeutung hat sie für uns?61

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Mit solchen Ansätzen konnte man den Tod und die Auferstehung Christi in den Strom eines verbreiteten Fort-schritts--optimismus einspeisen, – gemäß der Devise: „Das Leben geht weiter, auch durch Scheitern und Untergang hindurch.“ In Verlegenheit bringt hingegen die zunehmend dringlicher werdende Frage nach den Kollateralschäden unserer Fortschritte und vor allem die Frage nach den Opfern, welche diese Entwicklungen zurückließen. Zwischen öffentlichem Wirken Jesu und seiner Auferstehung stellt das Kreuz einen Einschnitt dar, der nicht eingeebnet werden darf. In ihm spiegelt sich das Leid, Unrecht und Scheitern unserer Welt.

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Eine verbreitete Antwort auf die Frage, wozu Jesus gestorben ist, lautet: Das Kreuz ist der Ernstfall, in dem Gott dem Menschen zeigt, wie weit er mit seinem liebenden Einsatz für die Menschen zu gehen bereit ist. Das leuchtet spontan ein, wenn man sich zum Beispiel vorstellt, wie ein Mensch in ein brennendes Haus läuft, um dort unter Einsatz seines Lebens ein Kind aus den Flammen zu holen. „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13), – und gar noch für seine Feinde (vgl. Röm 5,10)! Das Problem an dieser Erklärung ist allerdings, dass beim Menschen, der ein Kind rettet, klar ist, wozu er in die Flammen läuft und sein Leben riskiert. Man stelle sich aber vor, ein Mann läuft grundlos in ein brennendes Haus und setzt so ohne erkennbaren Nutzen sein Leben aufs Spiel, nur um durch diese lebensgefährliche Tat seiner Freundin zu beweisen, wie sehr er sie liebt. Die Freundin wäre wohl nicht beeindruckt von der Größe seiner Liebe, sondern würde ihn begreiflicherweise für verrückt erklären.62 Genau dieses Problem stellt sich für die Erklärung, dass Jesu Kreuzestod ein Zeichen für Gottes große Liebe ist.

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Man verstehe mich nicht falsch. Jesu Kreuzestod ist ein Zeichen für Gottes unerschöpfliche Liebe. Das ist absolut zentral! Aber mit dieser Feststellung haben wir noch keine Antwort auf die Frage gegeben, wozu Jesus am Kreuz gestorben ist und auf welche Weise wir durch diesen furchtbaren Tötungsakt hindurch erlöst wurden. Wir brauchen eine solche Antwort, damit die Feststellung, dass Gott uns aus Liebe erlöst hat, angesichts des Kreuzestodes Jesu nicht nur Behauptung bleibt, sondern nachvollziehbar wird.

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In den vorausgehenden Kapiteln dieses Buches haben wir eine solche Antwort entwickelt. Wir haben gesehen, dass Jesus Christus, der göttliche Schöpfungsmittler und Menschgewordene, von unserem sündenverstrickten, destruktiven Handeln getroffen wird, und es am Kreuz in eine Tat liebender Hingabe an den göttlichen Vater für alle Menschen verwandelt hat. Und wir haben gesehen, dass dieses Erlösungswerk uns erreicht, wenn wir durch das Wirken des Heiligen Geistes mit seiner Wahrheit konfrontiert werden und diese Wahrheit im Glauben an Jesus Christus für unser Leben übernehmen. Wenn wir auf diese Weise begriffen haben, wozu es gut war, dass Jesus am Kreuz starb, dann können wir auch darüber staunen, wie weit Gott geht, um uns zu retten. Dann gleicht Christus wirklich dem Feuerwehrmann, der in das brennende Haus läuft, um Menschen zu retten, und nicht einem Verrückten, der sinnlos in den Tod läuft, um dadurch Liebe zu demonstrieren.

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Genau hier liegt auch das eigentliche Problem der Anselmschen Satisfaktionslehre, und zwar nicht nur in ihren Popularisierungen, sondern bereits in ihrer ursprünglichen Durchführung. Anselm faltet sein Prinzip „Strafe oder Genugtuung“ folgendermaßen aus: Der Mensch hat von sich her nichts, um seine Sünde wiedergutzumachen. Denn alles, was er hat und kann, schuldet er ohnehin schon Gott. Selbst seinen leiblichen Tod, denn dieser ist die Folge seiner Sünde. Jesus Christus aber ist frei von aller Sünde, und deshalb schuldet er niemandem seinen Tod. Und als Gottmensch hat sein Leben unendlichen Wert. Also verfügt er über etwas unendlich Wertvolles, das er für die Sünde der Menschen in die Waagschale legen kann. Jesus gibt sein leibliches Leben hin, dafür gewinnt der Mensch sein ewiges Leben zurück.

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Im Ergebnis holt Anselm damit ein biblisches Bild von Erlösung ein, auf das wir bisher nicht eingegangen sind: nämlich von einem wunderbaren „Platztausch“ zwischen Jesus Christus und den sündigen Menschen:

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„Er [Gott] hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.“ (2 Kor 5,21)
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„Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.“ (2 Kor 8,9)Aber wie hängen Jesu Abstieg und unser Aufstieg miteinander zusammen? Das macht Anselm in seiner Erklärung von Erlösung auf keine Weise deutlich. Es scheint in einer unerklärlichen Gesetzmäßigkeit zu gründen, die letztlich auf einen willkürlichen Ratschluss Gottes zurückfällt. Und damit gerät Gott eben doch wieder ins Zwielicht: Verlangt er den Tod eines Unschuldigen als Preis, damit die Schuldigen frei ausgehen?
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Wie kann dieser Zusammenhang von Jesu Abstieg und unserem Aufstieg erklärt werden? Er gründet nicht in einem Beleidigtsein Gottes, der mit einem Blutzoll zu beschwichtigen wäre, sondern in unserem Unversöhntsein, das Gott überwinden will, ohne unsere Freiheit zu brechen. Nicht wir müssen Gott versöhnen, sondern Gott muss uns versöhnen (Röm 5,10; 2 Kor 5,18)!

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Gott verlangt nicht willkürlich den Tod eines Unschuldigen, sondern er braucht jemanden, der in das Gefängnis der in Sünde verfangenen Menschen einbrechen kann, ohne deren gegen Gott entschiedene Freiheit zu zerbrechen. Dieser Akt der Gewalt – eines Einbruchs in das Gefängnis einer sündigen Selbstisolierung (gegenüber Gott, Mitmenschen und eigener Person) – geht weder vom göttlichen Vater aus noch von Jesus Christus, sondern von uns Menschen. Indem wir Jesus Christus, den Störer und Gefährder unserer sündigen Ordnungen, aus unserem Leben austreiben, holen wir ihn erst wirklich in unser Leben herein. Und zwar dadurch, dass sein Schicksal, das wir ihm zufügen, und das, was er daraus macht, zu einem „objektiven Faktor“ unserer Schuldgeschichte wird. Durch das offenbarende Wirken des Heiligen Geistes werden wir mit der Wahrheit dieser Geschichte konfrontiert: mit der gottfeindlichen Abgründigkeit unseres Tuns und mit Jesu Verwandlung dieses Tuns in einen Akt der Liebe. Wir können dieser von Jesus vollzogenen Verwandlung zustimmen und sie damit für uns zum Teil unserer Geschichte machen.

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So faltet sich der Platztausch zwischen Christus und uns Sündern – der bei Anselm geradezu mechanisch verläuft – in einen personalen Prozess mit Konflikt und Begegnung aus:

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1. In der Menschwerdung steigt Christus herab zu uns Sündern (Phil 2,7). Er wird von den Menschen erniedrigt und zur Sünde gemacht (2 Kor 5,21), während sie immer noch Sünder bleiben.63

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2. Jesus gibt dem ihm gewaltsam auferlegten Schicksal eine völlig andere Bedeutung. Nun ist er es, der sein Leben für die Vielen hingibt. Im Geschehen der Auferstehung wird der von den Menschen Erniedrigte erhoben: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen“ (Phil 2,9), während wir – die ihn erniedrigt haben – zunächst immer noch Sünder bleiben.

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3. Der auferweckte Gekreuzigte sendet den Heiligen Geist, der uns (die Sünder) mit der Wahrheit unserer Verstoßungsgeschichte und ihrer durch Jesus gewirkten Verwandlung konfrontiert. Durch die Übernahme dieser Wahrheit erlangen wir nun die Möglichkeit, zu ihm erhoben zu werden.

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Es handelt sich also nicht um einen äußerlichen Platzwechsel gemäß einer unerfindlichen Mechanik: als ob die Erniedrigung des Gottessohnes automatisch unsere Erhöhung bewirken würde. Vielmehr haben wir es mit einer dramatischen Folge von Begegnungen zu tun, in denen Freiheit, Schuld und Vergebung eine zentrale Rolle spielen. Diese Begegnungen verlaufen zum Teil als gewaltsames Aufeinandertreffen – in unserer Vertreibung Jesu –, zum Teil als geistgewirkte Gottesbegegnung in einer Offenbarung von Wahrheit, die uns zur Umkehr freisetzt. Die entscheidende Schwäche von Anselms Erlösungstheologie besteht darin, dass er das Faktum dieser personalen Begegnungen vernachlässigt. Dadurch berücksichtigt er weder die Schuld der Christusverfolger noch die Auferstehung, noch die Sendung des Heiligen Geistes. Dagegen entspricht die hier vorgestellte Deutung eines erlösenden Platztausches, der Begegnung impliziert, viel besser der biblischen Sichtweise. Nach dieser heißt es:

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„Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also …“ (2 Kor 5,14)
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„… also brauchen wir nicht mehr zu sterben“, müsste man gemäß einem mechanischen Platztauschmodell ergänzen. Im Gegensatz dazu setzt Paulus fort:

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„… also sind alle gestorben. Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde.“ (2 Kor 5,15)
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Und an anderer Stelle betont Paulus den Abstieg Jesu, bis er in allem uns gleich wurde (Phil 2,7) außer der Sünde (Hebr 4,15). Platztausch ist also nur eine stark vereinfachende „Kurzformel“ für ein dramatisches Begegnungsgeschehen: Er stieg zu uns herab, die wir im Gefängnis der Sünde waren, wird von uns noch tiefer hinabgestoßen (am Kreuz), vom Vater erhoben (in der Auferweckung) und ermächtigt uns (vermittelt durch den Heiligen Geist) dazu, dass wir uns von ihm erheben lassen, „damit wir nicht mehr für uns leben, sondern für den, der für uns starb und auferweckt wurde“ (2 Kor 5,15).

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9. „Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“ – Eine Zusammenschau

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„Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich. Denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“
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Mit diesem Vers aus der Kreuzwegandacht haben wir das Buch begonnen. Er bündelt das christliche Erlösungsverständnis in vier erklärungsbedürftige Aussagen:

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dass Erlösung durch Jesus Christus gewirkt wird: „… hast du die Welt erlöst“;

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dass für diese Erlösung der Tod Jesu am Kreuz eine Schlüsselrolle spielt: „durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“;

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dass diese Erlösung durch das Christusereignis im Wesentlichen bereits erfolgt ist: „durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“.

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dass diese Erlösung alle Menschen betrifft: „durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“;

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Zum Abschluss des Buches wollen wir – zurückgreifend auf bisherige Ausführungen – diese vier Aussagen erklären. Das gibt uns zugleich die Gelegenheit, noch einmal die Perspektive zu weiten.

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„… hast du die Welt erlöst“ – Erlösung durch Jesus Christus

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Um zu verstehen, wie wir durch den Gekreuzigten erlöst sind, gingen wir in zwei Schritten vor. Zunächst schauten wir, wie Jesus von Nazaret auf die ihm begegnenden Menschen wirkte. Damit konnten wir begreifen, was der Kreuzestod Jesu und die Konfrontation mit diesem Geschehen durch die geisterfüllten Apostel für seine Verfolger bedeutete: Jesus hat das ihm zugefügte Geschick in eine liebende Selbsthingabe an den göttlichen Vater verwandelt. Vermittelt durch geisterfüllte Zeugen konfrontiert der Heilige Geist die verblendeten Verfolger mit der Wahrheit dieses Geschehens: eine heillose Tat von ihrer Seite und deren heilvolle Transformation von Seiten Jesu. Von daher eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, das erlösende Wirken Christi für ihr Leben zu übernehmen.

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In einem zweiten Schritt fragten wir, was all diese Zusammenhänge für uns bedeuten, die wir – tausende Kilometer und tausende Jahre vom Tatort entfernt – ja nicht ohne weiteres mit den Gegnern Jesu gleichgesetzt werden könnten. Hier war der Gedanke entscheidend, dass Jesus sich mit allen Opfern der Weltgeschichte identifizierte und die Übergriffe aller Täter der Geschichte trug und liebend überwand. Dieser Gedanke wird nahegelegt durch Jesu grenzüberschreitendes solidarisches Handeln, durch biblische Aussagen wie die Weltgerichtsrede – „Was ihr einem meiner geringsten Brüder (und Schwestern) getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) – und vor allem durch die Bedeutung, die Jesus seinem Sterben durch die Abendmahlsworte gab: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ (Mk 14,24).

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Dennoch gelangen wir hier an eine Grenze. Ist ein Mensch zu einer umfassenden Identifizierung mit dem Geschick aller Menschen fähig? Dass jemand das in einer grenzenlosen Liebes- und Aufopferungsbereitschaft will, können wir noch nachvollziehen. Aber ist es effektiv möglich? Ja ist ein solcher Anspruch nicht sogar skandalös? Wenn irgendwo in der Welt jemand von einem anderen niedergeknüppelt wird, – dass da einer beansprucht: Was man diesem angetan angetan hat, das hat man mir angetan?

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Hier kommen wir nur weiter, wenn wir berücksichtigen, dass dieser Jesus von Nazaret zugleich Sohn Gottes und Schöpfungsmittler ist. Bisher folgten wir dem Ansatz einer „Christologie von unten“: Wir gingen aus von Jesus als einem besonderen Menschen, der uns Gott in einer solchen Unmittelbarkeit erschloss, dass ein Ja zu Gott sich an einem Ja zu Jesus entschied.64 So wurde das Bekenntnis des Petrus nachvollziehbar: Dieser Mensch ist „der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!“ Hier lässt sich eine „Christologie von oben“ anschließen, die das Christusereignis von Anfang an als Menschwerdung des göttlichen Wortes begreift, in dem vor aller Zeit alles geschaffen wurde und alles Bestand hat (Kol 1,16f). Das Zweite Vatikanische Konzil bringt auf den Punkt, worauf es uns hier ankommt:

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„Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ (Pastoralkonstitution 22,2)
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Von daher gewinnt alles, was Jesus tat, eine ganz andere Tragweite. Wenn er sich mit Menschen solidarisch verband, dann konkretisierte er damit, was er immer schon war: Mittler aller Schöpfung. „Er kam in sein Eigentum“ (Joh 1,11). Allein von daher wird es nachvollziehbar, dass Jesus am Kreuz die Sünden aller Menschen getragen hat.

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Von daher ergeben sich erstaunliche Konsequenzen für einen Gottesglauben, wie er sich aus alltäglichen Gnadenerfahrungen erschließen lässt: Aus Erfahrungen der Liebe und des Schönen kann eine Dankbarkeit und ein Staunen aufbrechen, deren letztes Ziel zugleich in dieser Welt gegenwärtig ist und diese Welt übersteigt. Dieses Ziel lässt sich als Gott benennen. Von ihm her ergeht zugleich ein Zuspruch und ein Anspruch an mich. In der Begegnung mit einem geliebten Menschen oder einer wahrhaft schönen Wirklichkeit kann ich nicht derselbe bleiben. Ich muss mein Leben ändern. Wer sich diesem Anspruch entzieht, verletzt etwas Heiliges, er versündigt sich. Sünde lässt sich von daher auch als Realität für Menschen erschließen, in deren Leben das Wort Gott nicht vorkommt. Eine tiefe Begegnung mit einer liebenden Person oder einer wahrhaft schönen Wirklichkeit ist nicht exklusiv, sondern inklusiv. Sie eröffnet eine wesentliche Schönheit und Liebenswürdigkeit von allem, was ist, – und zwar zugleich in und über ihm. Von daher lässt sich der Glaube erschließen, dass wir alle – und alles was ist – in einer göttlichen Wirklichkeit verwurzelt sind. Es ist eine Wirklichkeit, die sich uns als personal offenbart: als Woraufhin unserer Dankbarkeit, – denn „Dankbarkeit will du sagen“ (Sandler 2009, 66); und als Wovonher eines an uns ergehenden Anspruchs, dass wir der sich uns offenbarenden Liebe und Schönheit mit unserem Leben entsprechen. Von hier aus erschließt sich auch die schmerzhafte Urerfahrung, dass wir alle hinter diesem Anspruch zurückbleiben: immer wieder, ob bewusst in Kauf genommen oder ungewollt und unvermeidlich. Wir erahnen, dass von daher dieses tiefste (göttliche) Woraufhin und Wovonher für uns verschüttet ist, und dass wir deshalb unseren Nächsten, den Dingen der Welt und uns selber entfremdet sind. Ausgenommen jene glücklichen Ereignisse, in denen dieser verschüttete Grund sich uns – in einer liebenden Person oder einer wahrhaft schönen Wirklichkeit – unvermutet offenbart und uns eine Ahnung von etwas vermittelt, was die Wahrheit von allem ist.

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Stellen wir uns nun vor, dieses für uns weithin verlorene Wovonher und Woraufhin unserer Dankbarkeit und unseres Staunens wendet sich uns mit der äußersten aller Möglichkeiten zu. Und zwar, indem es sich nicht nur in einem besonderen Menschen auf besondere Weise zu erfahren gibt, sondern indem es sich vollkommen und restlos in einem Menschen mitteilen will. Kurz: Stellen wir uns vor, Gott wird Mensch, um die Menschen zu erlösen, – das heißt, um uns, die wir Gott verloren haben, durch seine intime Nähe zurückzuführen zu ihm, und damit zueinander und auch zu uns selbst. Er würde dafür den böse Gewordenen in ihre Verlorenheit nachgehen und ihnen dort auf Augenhöhe begegnen, selbst wenn ihn dies alles kosten würde.

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Christen können sagen: Das ist nicht bloß ein schöner Gedanke – „Ja, wenn Gott so wäre …“ –, sondern offenbarte Wirklichkeit: Gott ist wirklich so. Und deshalb sind wir im Grunde erlöst, frei. Die Gefängnistüren unserer Existenz sind aufgesperrt. Wir müssen uns nur aufraffen, die Türen öffnen und die Freiheit beanspruchen, die für uns bereitliegt.

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Diese christliche Botschaft ist allerdings in hohem Maß herausfordernd – nicht nur für Atheisten und Anhänger anderer Religionen, sondern auch für viele Christen. Ist der Anspruch, dass Gott sich in Jesus Christus vollkommen und restlos mitgeteilt hat, nicht eine exklusivistische Überheblichkeit, welche andere Religionen und Heilswege automatisch entwertet?

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Bevor wir auf diesen Einwand eingehen, sollten wir bedenken, was hier auf dem Spiel steht. Ein christliches Verständnis von Erlösung, wie es in diesem Band entwickelt wurde, ist billiger nicht zu haben. Erst wenn ich davon ausgehe, dass jeder Mensch und überhaupt alles Geschaffene in Jesus Christus geschaffen ist, macht die Aussage Sinn, dass wir alles, was wir an Gutem oder Schlechtem einem Menschen getan haben, zugleich Christus angetan haben. Wir müssen annehmen, dass jeder Mensch im tiefsten Grund seines Seins – in tiefster Bezogenheit und Unterschiedenheit zugleich – an Gott grenzt: und zwar in Gestalt Jesu Christi, des göttlichen Schöpfungsmittlers. Dann erst wird es nachvollziehbar, dass die Vergebung, die wir für unsere Untaten von ihm empfangen haben, real etwas verändert an unseren unerlösten Verhältnissen zu unseren Mitmenschen, denen gegenüber wir schuldig geworden sind, – selbst dann, wenn diese nicht daran denken, uns zu vergeben. Und erst dann, wenn Gott – in Jesus Christus – mir innerlicher ist als ich mir selbst, wird es für mich nachvollziehbar, dass alles, was andere Menschen mir angetan haben, in mir zugleich ihn getroffen hat. Dann wird für mich nachvollziehbar, dass er auch die Verletzungen, die ich empfangen habe, erlitten und liebend vor den himmlischen Vater getragen hat. Und ich erkenne, dass die Vergebung, zu der ich vielleicht noch unfähig bin, im Innersten meiner selbst bereits einen Anfang genommen hat. Dann kann ich mich auf diese von ihm grundgelegte innerweltliche Dynamik von Versöhnung und Erlösung einlassen. Denn ich weiß, dass die Vergebung, die mir von ihm – der all meine eigenen Sünden getragen hat – zugemutet wird, keine billige Vergebung ist, die der Wahrheit nicht gerecht würde. Ich weiß, dass Erlösung ein Prozess ist, in der alle Schuld von den Schuldigen in vollkommener Liebesreue durchlitten werden muss und – mit Christus – auch kann.

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All dies ist nur nachvollziehbar, wenn das Christusbekenntnis aus der Apostelgeschichte ungeschmälert geteilt wird: „Es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen“ (Apg 4,12).65 Die Auffassung „Christus für die Christen und Buddha für die Buddhisten …“ würde nicht ausreichen, da alle Menschen mit allen in Schuldzusammenhängen verstrickt sind. Wenn nicht wir alle in all unserem Tun und Sein mit demselben Erlöser immer schon verbunden sind, dann kann das Gefängnis unserer Schuldverstrickung nicht von innen her – unter Berücksichtigung unserer Freiheit und Verantwortung – überwunden werden.

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Dass es verschiedene Menschen gibt, welche die Liebe und Wahrheit Gottes für viele in einer besonderen Weise repräsentieren, muss damit in keiner Weise bestritten werden. Im Gegenteil: Wir alle sind bestimmt, für andere „in Christus“ Gott zu vergegenwärtigen und so Heilsmittler zu sein. Manche Menschen haben diese Berufung für sehr viele Menschen, ja sogar für ganze Völker und Epochen erhalten und auch eingelöst. Selbstverständlich gilt dies auch für Nichtchristen. Man kann das annehmen, ohne hinter das Bekenntnis zurückzufallen, dass außer „Jesus Christus, der Nazoräer, … gekreuzigt … und … von den Toten auferweckt […] uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben [ist], durch den wir gerettet werden sollen“ (Apg 4,10–12). Das ist möglich, wenn wir annehmen, dass auch die Heilsmittler anderer Religionen als Menschen wirkten, die in Christus geschaffen sind und diesen (mehr oder weniger) vergegenwärtigen. Eine solche Repräsentation „in seinem Namen“ ist auch möglich, wenn sein Name – Jesus von Nazaret – nicht bekannt ist. Diese Möglichkeit wird in der Weltgerichtsrede ausdrücklich benannt:

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„Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,37–40)
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„Durch dein heiliges Kreuz“ – Wie wir durch das Kreuz erlöst sind

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Dass Erlösung ausschließlich durch das Kreuz und eventuell noch durch die Passion Jesu geschieht, ist eine Schlagseite der traditionellen Erlösungstheologie, wie wir sie an der Satisfaktionslehre aufgezeigt haben. Neuere Theologie hat diese Verengung aufgebrochen. Dabei neigt sie aber zum entgegengesetzten Extrem: Demnach sind wir nicht durch das Kreuz erlöst, sondern allenfalls durch das Kreuz hindurch. Die Bedeutung des Kreuzes für die Erlösung besteht danach allein darin, dass es die unglückliche Folge von Jesu erlösendem Wirken und der Durchgang zur erlösenden Auferstehung ist. Eine so verstandene Erlösung könnte nicht die Abgründigkeit des menschlichen Lebens in Leid, Scheitern, Schuld und Tod einholen. In diesen erlösungsbedürftigsten Situationen werden wir dadurch erlöst, dass Jesus sie „ans Kreuz getragen“ (vgl. 1 Petr 2,24), das heißt auf sich genommen und in eine liebende Hingabe an den himmlischen Vater für uns alle verwandelt hat. „Für uns alle“ bedeutet hier: mit dem Ziel, dass wir diese Verwandlung für unser eigenes Leben übernehmen, sobald wir dazu durch ein die Wahrheit aufdeckendes Wirken des Heiligen Geistes befähigt sind.

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Der heikelste Punkt einer solchen Kreuzestheologie ist die positive Einschätzung des Leidens:

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„Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.“ (Jes 53,7)
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„Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter.“ (1 Petr 2,23)Dieses scheinbar duldsame, „lammfromme“ Verhalten Jesu ist den Christen als Norm vorgestellt! Denn Jesus hat das alles stellvertretend für uns getragen, nicht damit wir nun nicht mehr dulden und tragen, leiden und sterben müssten, sondern damit wir „nicht mehr für uns leben, sondern für den, der für uns starb und auferweckt wurde“ (2 Kor 5,15). Das bedeutet für Christen ein Leben, in dem sie ihren Feinden die andere Backe hinhalten (Mt 5,38), ihre Verfolger segnen (Röm 12,14) und sich von übergriffigen Mitchristen lieber ausrauben lassen, als sie vor Gericht zu bringen (1 Kor 6,7).
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Werden Christen durch das Kreuz zu Duckmäusern und wehrlosen Schafen verzogen? Dieser Verdacht hat die Kreuzestheologie und -spiritualität weithin kompromittiert. Eine solche Ideologie der Duldsamkeit kommt allerdings nur heraus, wenn wir das Kreuz aus dem Gesamtzusammenhang von Jesu erlösendem Wirken isolieren. Wie wir ausführlich darlegten, war Jesu öffentliches Wirken von den Anfängen bis zu Passion und Kreuz an von einer kritischen Solidarität getragen, welche das Unrecht an der Wurzel aufdeckte und die Täter mit der bitteren Wahrheit ihrer Schuldgeschichte konfrontierte. Mit dieser kritischen Solidarität ist Jesus Vorbild für ein Leben in seiner Nachfolge. Dasselbe gilt nicht nur für sein öffentliches Wirken, sondern auch für seinen Kreuzweg. Jesu duldsame Übernahme und liebende Transformation des ihm zugefügten Leides kann die Menschen erst erreichen durch eine geistgewirkte Konfrontation, die sie mit der bitteren Wahrheit ihrer Übergriffe konfrontiert. Die Übeltäter müssen diese Wahrheit anerkennen. Sie müssen zu ihrer Schuld stehen. Und Jesu liebende Transformation dieser Schuld, die sie damit zugleich übernehmen können, dispensiert sie nicht von ihrer innerweltlichen Verantwortung, sondern ermächtigt sie dazu, diese Verantwortung in echter Liebesreue und in Bereitschaft zur Wiedergutmachung zu übernehmen (vgl. Lk 19,8f).

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Wenn wir das Kreuz im Gesamtzusammenhang von Jesu erlösendem Wirken sehen, dann ist das Christentum kein „Opium des Volkes“, welches die Christen innerweltlich ruhigstellt, sondern ein unübertreffbares Ferment für eine Verwandlung der Menschen und ihrer Gesellschaft.

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„… hast du die Welt erlöst“ – Schon oder noch nicht erlöst?

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Sind wir bereits in Jesus Christus erlöst oder werden wir erst erlöst werden? Von der Bibel an hat der christliche Glaube durchwegs betont, dass wir durch Jesus Christus bereits erlöst sind. „Durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst“, heißt es in der Kreuzwegandacht. Und die Johannesoffenbarung setzt ein mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus, „der uns liebt und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut“ (Offb 1,5). Auf der anderen Seite setzt die Johannesapokalypse fort mit prophetischen Schilderungen furchtbarer Verfolgungen und Qualen, die die Welt und die Menschen heimsuchen werden, bis sie in einer neuen Schöpfung als wirklich Erlöste aufstrahlen. Darin besteht ja auch der Skandal des christlichen Erlösungsglaubens für unsere Gegenwart: „Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!“, ätzte Nietzsche (ders. 1973a, 350). Und gar eine „erlöste Welt“? Ist solche Rede nicht hoffnungslos naiv oder gar zynisch angesichts der fortdauernden Kriege, Ausbeutungen und ökologischen Katastrophen?

549
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Die Bibel versteht Erlösung nicht als ein Ereignis, das an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit ein für alle Mal abgeschlossen ist, sondern als einen Prozess. Das war schon mit der Gottesreichverkündigung Jesu so: „Das Reich Gottes ist nahe gekommen“ (Mk 1,15). Es ist bereits gegenwärtig, aber in Ansätzen, potenziell – das heißt der Kraft nach – wie ein Samenkorn, das die Potenz in sich hat, unerhört Neues zu schaffen. Aber doch ist es nur ein kleines, verletzliches Samenkorn. Es hat sich abhängig gemacht66 von der Aufnahme, welche dieses Samenkorn bei den Menschen findet, ob es zu einem mächtigen, für alle sichtbaren Baum heranwächst oder ob es erstickt. Die Evangelien berichten, dass dieses Samenkorn des Gottesreichs, der Erlösung – vergegenwärtigt durch Jesus Christus – keine Aufnahme fand (Joh 1,11), sondern verworfen wurde. Aber sie zeigen auch, wie durch diese Verwerfung hindurch dieses Samenkorn der Erlösung nicht zerstört, sondern noch tiefer in den fruchtlosen Boden menschlicher Erlösungsbedürftigkeit eingesenkt wurde. Die Verwerfung des Gottessohns und Schöpfungsmittlers und der Akt der Liebe, in den dieser die ihm angetane Gewalt transformiert hat, wurde zu einem objektiven Faktor in der Geschichte von uns sündigen Menschen. Früher oder später werden wir mit der Wahrheit dieser Geschichte konfrontiert, und von daher wird Umkehr und Versöhnung möglich: spätestens im Jüngsten Gericht, aber – in Ansätzen – auch schon mitten in dieser Welt.

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Die Geschichte der Verwerfung Jesu zeigt uns somit nicht das Scheitern von Erlösung, sondern im Gegenteil ihre Unbesiegbarkeit: weil der Same des Gottesreichs selbst durch die brutalste Zurückweisung nicht zerstört, sondern nur noch tiefer in die erlösungsbedürftige Menschheit eingesenkt wird, – nicht als Erlösungsautomatik, sondern als Faktum der eigenen Geschichte, mit dem sich der Sünder zu gegebener Zeit auseinandersetzen muss. Auf diese Weise ist das Kreuz – paradoxerweise – das Zeichen für die am weitesten reichende Hoffnung. Es zeigt, wie weit Gott noch dem verstocktesten Sünder nachzugehen bereit ist.

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Auf diese Weise ist durch das Kreuz Erlösung weder vereitelt noch einfach vollendet, sondern neu auf den Weg gebracht. Das Kreuz „garantiert“ den Erfolg von Erlösung (Jes 52,13; Jes 49,6) und ist doch nicht ihr Ende, sondern ihr Anfang. Wo ein Mensch – konfrontiert mit der Wahrheit seiner je eigenen Christusverfolgung und dem, was Jesus daraus gemacht hat – die ihm dadurch eröffnete Erlösung für sein Leben annimmt, ist seine Versöhnung nicht vollendet, sondern auf den Weg gebracht: als ein Prozess, den er nun in eigener freigesetzter Freiheit mit Christus zu vollziehen imstande ist.

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Die Bibel macht dieses Zugleich von bereits geschehener und erst anbrechender Erlösung immer wieder deutlich, besonders mit dem Begriff Versöhnung. Einerseits sind wir durch den Kreuzestod Christi bereits mit Gott versöhnt:

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„Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch (Gottes) Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben. Mehr noch, wir rühmen uns Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn, durch den wir jetzt schon die Versöhnung empfangen haben.“ (Röm 5,10f)
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Diese Versöhnung mit Gott erfolgte zur Zeit, als wir noch seine Feinde waren, durch die Weise, wie Jesus das ihm zugefügte Geschick in einen Akt der liebenden Selbsthingabe an den himmlischen Vater für alle Menschen verwandelte. Diese Versöhnung muss aber von den Menschen erst angenommen werden. Diese Annahme wird ermöglicht durch die Aufdeckung der Wahrheit des Geschehens im Heiligen Geist. Und sie wird symbolisch vollzogen in der Taufe, die ein geistgewirkter Akt der Glaubensannahme ist. Durch die Taufe sind wir „reingewaschen, … geheiligt, … gerecht geworden im Namen Jesu Christi, des Herrn, und im Geist unseres Gottes“ (1 Kor 6,11). Und dennoch ist auch durch diesen Empfang der am Kreuz bewirkten Versöhnung unsere Versöhnung noch nicht abgeschlossen, sondern beginnt erst als innerweltliche Wirklichkeit. Als mit Christus Versöhnte können und müssen wir in dieser Welt Versöhnung vollziehen:

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„Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat. Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,17–20)
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Erlösung ist Befreiung zur Freiheit (Gal 5,1) und kommt deshalb erst dadurch ans Ziel, dass die erlösten Menschen selber an der Erlösung mitwirken, – an ihrer Erlösung und an der Erlösung anderer. Menschen, die vom Heiligen Geist mit der zweifachen Wahrheit67 ihres eigenen sündigen Tuns konfrontiert wurden und dieses Erlösungsangebot für sich angenommen haben, werden selber zu Zeugen und Instrumenten des Heiligen Geistes. So eröffnen sie auch anderen Menschen die Wahrheit ihrer Erlösung, – in ihrem Opfersein und in ihrem schuldverstrickten Tätersein. Wer die Erlösung in Christus annimmt, wird eben dadurch zum Glied von Kirche. Denn Kirche ist wesentlich die Gemeinschaft der mit Gott Versöhnten und zur Versöhnung Berufenen. Als solche ist sie dazu berufen, die Botschaft vom Gottesreich und der – im Kreuz bereits grundgelegten – Versöhnung aller Menschen in Christus zu bezeugen. Mit den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils:

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„Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (Lumen Gentium 1,1)
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Solange dieser Dienst der Vereinigung oder Versöhnung noch nicht alle Menschen erreicht hat, ist Erlösung nicht vollendet. Für das Neue Testament leben wir – ebenso wie die frühkirchlichen Gemeinden – in einer Übergangszeit zwischen der Himmelfahrt Christi und seiner Wiederkunft in Herrlichkeit (Mt 25,31). Wann diese Wiederkunft Christi sein wird und wie wir sie uns vorstellen können, ist uns verborgen. Entscheidend für sie wird nur sein, dass die Erkenntnis der Wahrheit Christi, die bis dahin einzelne Menschen mehr oder weniger tief erreicht, „wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt“ (Mt 24,27). Bis dahin ist Erlösung unterwegs, aber noch nicht vollendet. Weil dank des Kreuzes jeder Widerstand gegen die Kraft der Erlösung diese noch tiefer wirksam macht, können wir sagen: Erlösung ist bereits geschehen.

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Ein Vergleich aus der Kriegstheorie kann das Gemeinte veranschaulichen. Es gibt Entscheidungsschlachten, die den Ausgang eines Krieges definitiv festlegen, auch wenn die Kämpfe noch lange weitergehen. In diesem Sinn kann ein Tag der Entscheidung (D-Day = day of decision) weit vor dem Tag des endgültigen Sieges (V-Day = day of victory) liegen. Von daher lässt sich – in der Weise einer vom Kreuz her verantwortbaren Hoffnung – sagen: Jesu Tod am Kreuz ist der „D-Day“, von dem her Erlösung unverlierbar geglückt ist, auch wenn der konkrete Kampf um sie bis zum „V-Day“ – dem Tag der Wiederkunft Christi – weitergeht (Cullmann 1948, 72f).

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„… hast du die Welt erlöst“ – Erlösung für alle Menschen?

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Wie sich das Unheil der Sünde über alle menschlichen Grundbezüge – zu Gott, Mitmenschen, Welt und sich selbst – auf die ganze Welt ausgedehnt hat, so zielt Erlösung auf eine umfassende Wiederherstellung und Vollendung der gesamten Wirklichkeit. Der ganze Kosmos ist nicht nur von Jesus Christus her, sondern auch auf ihn hin geschaffen. Und die Erlösung durch Christus ist nicht nur einigen Heiligen oder den Christen allein zugedacht, sondern der gesamten Menschheit.

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„Gott, unser Retter … will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn: Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle, ein Zeugnis zur vorherbestimmten Zeit …“ (1 Tim 2,3–6)
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Eine Erlösung für alle Menschen ist dadurch grundgelegt, dass jeder Mensch „in Christus“ als Gottes Ebenbild geschaffen ist. Sünde bedeutet, dass er die ihm sich offenbarende Schönheit, Würde und Wahrheit im Anderen, in der Natur oder in sich selber missachtet (Röm 1,20). Dies gilt auch für Menschen, die – mit oder ohne Schuld – „nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind“ (2. Vatikanum, Lumen Gentium Nr. 16). Ohne es zu ahnen, treffen sie in solch sündiger Missachtung Jesus Christus, den Mittler aller Schöpfung. Dass Jesus das ihm – in seiner geschändeten Schöpfung – angetane Unrecht in eine Tat liebender Hingabe verwandelt, eröffnet somit für alle Menschen und nicht nur für Christen eine Möglichkeit der Erlösung von ihrer Schuld.

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„Er ist die Sühne für unsere Sünden, aber nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt.“ (1 Joh 2,2)
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Durch ein bereits innerweltliches Wirken des Heiligen Geistes kann auch Ungläubigen die Wahrheit ihres Tuns und seiner in Christus bereits vorweg vollzogenen Versöhnung aufgehen. Das ist auch dort möglich, wo das Wort Gott nicht vorkommt. Was an versöhnender Freilegung des Verschuldeten in diesem Leben nicht geschieht, wird nach christlicher Auffassung jenseits der Todesschwelle in einer ultimativen Begegnung mit der Wahrheit und ihrem Grund – Jesus Christus – im Jüngsten Gericht erfolgen. Dies ist eine Situation, wo sowohl Christen wie Nichtchristen den ungekannten Christus in ihrer Lebensgeschichte entdecken werden: als gesuchten und gefundenen, als geliebten und geschändeten. Wie es die Weltgerichtsrede beschreibt:
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„Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (Mt 25,44f)Diese Entdeckung wird für Christen nicht weniger erstaunlich sein wie für Nichtchristen. Das ist der entscheidende Grund, warum die „Christozentrik“ im christlichen Erlösungsverständnis keine Überheblichkeit gegenüber Nichtchristen und Angehörigen anderer Religionen darstellt. Wir Christen können nicht beanspruchen, dass wir im Unterschied zu den anderen Christus ‚hätten‘, – dass es mithin unser Christus wäre und nicht der Christus der anderen (Sandler 2006). Als Gottes Sohn und Schöpfungsmittler kann dieser Christus in keine Formulierung und keinen Ritus restlos eingefangen werden. Nicht wir ‚haben‘ ihn, sondern er ‚hat‘ uns (vgl. Joh 15,16).

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Literatur

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Um den Text nicht unnötig mit Endnoten zu belasten, wird die Literatur im Haupttext laufend nach englischem Muster zitiert: Autorname mit Publikationsjahr und wenn nötig Seitenangaben. Bibelstellen sind nach der Einheitsübersetzung zitiert.

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Anselm von Canterbury (1956): Warum Gott Mensch geworden. Darm-stadt.

570
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Augustinus, Aurelius (1987): Bekenntnisse. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Lateinischen von Josef Bernhart. Frankfurt.

571
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Balthasar, Hans Urs von (1983): Theodramatik. Band IV: Das Endspiel. Einsiedeln.

572
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— (31990): Verbum Caro (Skizzen zur Theologie, Bd. 1). Einsiedeln.

573
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— (22007): Kleiner Diskurs über die Hölle. Einsiedeln.

574
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Bonhoeffer, Dietrich (31966): Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. München–Hamburg.

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Cullmann, Oscar (21948): Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung. Tübingen.

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Dostojewskij, Fjodor (82000): Verbrechen und Strafe. Neu übersetzt von Swetlana Geier. Zürich.

577
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Ebertz, Michael (2004): Die Zivilisierung Gottes. Der Wandel von Jenseitsvorstellungen in Theologie und Verkündigung. Ostfildern.

578
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Greshake, Gisbert (1983): Erlösung und Freiheit. Eine Neuinterpretation der Erlösungslehre Anselms von Canterbury. In: Gottes Heil – Glück des Menschen. Freiburg, 80–104.

579
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Haag, Herbert (1966): Biblische Schöpfungslehre und kirchliche Erbsündenlehre. Stuttgart.

580
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Kant, Immanuel (1968): Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Werke in 10 Bänden, Hg. W. Weischedel, Bd. 7). Darmstadt.

581
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Lapide, Pinchas / Luz, Ulrich (21980): Der Jude Jesus. Thesen eines Juden, Antwort eines Christen. Einsie-deln–-Zürich–-Köln.

582
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Levinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg.

583
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Lohfink, Norbert (2004): Gewalt und Monotheismus – Beispiel Altes Testament, in: Monotheismus – eine Quelle der Gewalt? (Arnoldshainer Texte 125). Hg. H. Düringer. Frankfurt, 60–78.

584
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Lubac, Henri de (1984): Über Gott hinaus. Tragödie des atheistischen Humanismus. Einsiedeln.

585
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Miggelbrink, Ralf (2002): Der zornige Gott. Die Bedeutung einer an-stößigen biblischen Tradition. Darmstadt.

586
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Nietzsche, Friedrich (71973): Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke in drei Bänden. Hg. K. Schlechta, Darmstadt, Band 2, 7–274.

587
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Nietzsche, Friedrich (71973a): Also sprach Zarathustra, in: ders., Werke in drei Bänden. Hg. K. Schlechta, Darmstadt, Band 2, 275–561.

588
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Rahner, Karl (1976): Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg.

589
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Rilke, Rainer Maria (1955): Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt.

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Russell, Bertrand (1968): Warum ich kein Christ bin. Reinbek.

591
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Sandler, Willibald (1998): Was ist dramatische Theologie? In: P. Tschuggnall (Hg.), Religion – Literatur – Künste. Aspekte eines Vergleichs. Anif/Salzburg, 41–57; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/156.html

592
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— (2002): „Schrecklich ist´s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“. Gratwanderungen zwischen dem liebenden und dem zornigen Gott im Licht einer Erzählung von Dostojewskij. In: W. Sandler, N. Wandinger (Hrsg.): Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001 (theologische trends 11). Thaur, 47–84; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/264.html

593
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— (2003): Das Friedensgebet der Religionen in Assisi. In: R. Schwager, J. Niewiadomski (Hrsg.): Religion erzeugt Gewalt – Einspruch! Innsbrucker Forschungsprojekt „Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung“ (Beiträge zur mimetischen Theorie 15). Münster 78–97; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/597.html

594
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— (2004): Stadt auf dem Berg? Kirche in der Spannung von Vorbild-Auftrag, Solidarisierung mit Sündern und eigener Schuld. In: W. Sandler, A. Vonach (Hrsg.): Kirche: Zeichen des Heils – Stein des Anstoßes (theologische trends 13). Vorträge der vierten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2003. Frankfurt, 97–133; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/496.html

595
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— (2006): Außerhalb der Kirche kein Heil? Sind Heilsnotwendigkeit der Kirche und Heilsmöglichkeit für alle Menschen miteinander vereinbar? In: W. Guggenberger, P. Steinmair-Pösel (Hrsg.): Religionen – Miteinander oder Gegeneinander? Vorträge der sechsten Innsbrucker Theologischen Sommertage (theologische trends 15). Frankfurt a. M., 121–139; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/805.html

596
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— (2007): Hat Gott dem Menschen eine Falle gestellt? Theologie des Sündenfalls und Sündenfall der Theologie. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 129, 437–458, im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/700.html

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— (2008): Gottes Handeln unterscheiden in Theologie und Erfahrung. Auf dem Weg zu einer theologischen Kriteriologie für unterscheidbare Zuordnungen von Gottes Handelns. In: http://theol.uibk.ac.at/itl/707.html

598
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— (2009): Der verbotene Baum im Paradies. Was es mit dem Sündenfall auf sich hat. Kevelaer; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/800.html

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— (2009a): Jesus Christus, Sieger über Teufel und Dämonen. Biblische Perspektiven für einen effektiven Widerstand gegen den Sog des Bösen. In: Chr. Amor, G. Ladner (Hrsg.): Die Macht des Bösen (theologische trends 18). Vorträge der neunten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2008. Innsbruck, 205–236; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/801.html

600
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— (2009b): Warum es heute keine Totenerweckungen mehr gibt. Im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/816.html

601
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— (2010): Wozu ist Jesus gestorben? Versuch einer vernünftigen, bibelgemäßen und eingängigen Antwort aus der Perspektive der dramatischen Theologie. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 131 (2010), 409–429; ungekürzte Fassung im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/850.html

602
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— (2010a): Der Preis der Erlösung. Skizze einer dramatischen Soteriologie. Deutsche Fassung ungekürzt publiziert im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/820.html

603
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— (2010b): Kreuz-Weg zwischen Aggression und Resigna-tion. Jesu Tod als Paradigma für ein christliches Martyriumsverständnis. In: J. Niewiadomski / R. Siebenrock (Hg.), Opfer – Helden – Märtyrer: Das Martyrium als religionspolitologische Herausforderung (ITS 83). Innsbruck, 311–319.

604
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— (2011): Skizzen zur dramatischen Theologie. Erkundungen und Bewährungsproben; Buchpublikation in Vorbereitung.

605
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Schott (1983): Schott-Messbuch für die Sonn- und Festtage des Lesejahres A, Freiburg.

606
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Schwager, Raymund (21996): Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (Innsbrucker Theologische Studien 29). Innsbruck, Wien.

607
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Slump, Franz (2000): Gottes Zorn – Marias Schutz. Pestbilder und verwandte Darstellungen als ikonographischer Ausdruck spätmittelalterlicher Frömmigkeit und als theologisches Problem. Im Internet: http://www.slump.de (letzter Zugriff: 29. 11. 2010).

608
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Tück, Jan Heiner (2007): Memoriale passionis. Die Selbstgabe Jesu Christi ,für alle‘ als Anstoß zu einer eucharistischen Erinnerungssolidarität. In: Gestorben für wen? Zur Diskussion um das „pro multis“. Freiburg 2007, 93–110.

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Verweyen, Hansjürgen (1969): Ontologische Voraussetzungen des Glaubensaktes. Zum Problem einer transzendentalphilosophischen Begründung der Fundamentaltheologie. Düsseldorf.

610
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611
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Anmerkungen

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1 Vgl. Gotteslob Nr. 775. In den Beispielen und Konkretisierungen bezieht sich das vorliegende Buch vor allem auf die Theologie und Glaubenspraxis der katholischen Kirche. Die aufgeworfenen Fragen – wie auch die entwickelten Antworten – zur Erlösung durch das Kreuz betreffen aber den christlichen Glauben in allen Konfessionen.

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2 Ich bin überzeugt, dass zwischen zwei Menschen, die sich mit kompromissloser Entschiedenheit auf die Wurzeln ihrer je eigenen Religion oder Spiritualität einlassen, über alle Differenzen hinweg eine tiefe Begegnung möglich ist, die von interreligiösen Konsensgesprächen bei all ihrer Bedeutung kaum erreicht wird. Ein historisches Beispiel ist für mich die Begegnung des heiligen Franziskus mit dem Sultan Malik al-Kamil. Dieser im Krieg mit den Christen befindliche Herrscher hatte über den islamischen Sufismus eine Ahnung von mystischen Armutsbewegungen. Das trug wohl dazu bei, dass ihn das christliche Zeugnis des Franziskus als Moslem tief berühren konnte. Für die Gegenwart lässt sich auf die Praxis von Friedensgebeten der Religionen verweisen, vor allem in Assisi 1996 und 2002 (vgl. Sandler 2003).

614
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3 Ich teile das Anliegen einer gendergerechten Sprache, will aber nicht die Sätze durch eine durchgängige Berücksichtigung von Mann und Frau überfrachten. Deshalb schreibe ich manchmal von Lesern und manchmal von Leserinnen, wobei ich mich jedes Mal – inklusiv – auf Männer und Frauen beziehe.

615
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4 Methodischer Hintergrund ist die dramatische Theologie, wie sie in Innsbruck betrieben wird. Vgl. dazu Sandler (1998) und (2011).

616
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5 Im Vergleich zu dieser katholischen Auffassung wirkt das protestantische Sündenverständnis pessimistischer. Wie diese Auffassung einer bleibenden, wurzelhaften Gutheit auch der gefallenen Schöpfung in ihrem Verhältnis zu Gott recht zu verstehen ist, wird im Folgenden am Gleichnis vom verlorenen Sohn verdeutlicht. Zu einer grundsätzlichen Verträglichkeit zwischen protestantischem und katholischem Verständnis vgl. unten, Anmerkung .

617
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6 Mit dem Wort „gnostisch“ beziehe ich mich auf die Eigenart von Gnosis (griechisch wörtlich für: Erkenntnis) als einer durch intellektuelle Einsicht erschlossenen Erlösung. Symptomatisch dafür ist die Annahme eines „Immer schon“, das für seine Wirksamkeit nur durchschaut werden muss. Dass der Mensch immer schon gut ist, ist natürlich nicht die ganze Lehre von gnostischen Systemen. Entsprechend ihrer dualistischen Ausrichtung neigen sie auch dazu, andere Seinsbereiche als immer schon böse zu identifizieren. Im Gegensatz zu diesem gnostischen „Immer schon“ rechnet christliches Heilsverständnis mit einem heilsgeschichtlichen Handeln Gottes, das seine Zeit, seinen Kairós (vgl. S. ) hat. Danach müssen sich die Menschen in ihrem Heilsstreben richten.

618
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7 Beispiele für antike Erlösungsreligionen sind die Verehrung der ägyptischen Göttin Isis, der römische Mithraskult und verschiedene gnostische Religionsformen. Letztere sind dualistisch ausgerichtet, in der Weise, wie im Folgenden besprochen wird.

619
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8 Vieles, was im Folgenden entfaltet wird, trifft – über die gemeinsame alttestamentliche Grundlage – auch auf das Judentum zu. Auf diese Bezüge kann hier allerdings nicht eigens eingegangen werden.

620
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9 Dies gilt auch dann, wenn dieser erlösende Prozess – wie in der Apokalypse – von dramatischen Kämpfen, Kriegen und Katastrophen begleitet wird.

621
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10 Was Gnade ist, lässt sich durch den gerade beschriebenen Zusammenhang erklären: Sie ist die von Gott gewirkte Befähigung des Menschen, das Gute – welches sein Heil und das Heil der anderen bedeutet – aus sich selber zu tun.

622
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11 Tun wollen, was einem selber als gut erscheint: Diese Haltung wird biblisch symbolisiert durch das Essen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Das Problem des Sündenfalls besteht nicht darin, dass der Mensch etwas selber tun will. Denn genau dazu ist er von Schöpfung an befähigt und auch beauftragt. Das Problem der Sünde besteht vielmehr in einem von Gott abgelösten, „unverdankten“ Selber. Vgl. Sandler (2009) 88.

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12 Wir können aus diesem Zusammenhang heraus Glaube – in einer ersten Näherung – definieren als Bereitschaft, sich von Gott helfen zu lassen.

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13 Eine Antwort auf die hier aufgeworfenen Fragen gibt das 6. Kapitel, vor allem ab S. .

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14 Vgl. Schott (1983) 393.

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15 In diese Richtung ging vor allem Herbert Haag (1966).

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16 Nach Martin Luther ist der Mensch durch die Sünde total verdorben. Das heißt, es gibt nichts Positives an der menschlichen Natur, mit dem der Mensch vor Gott einen Anspruch auf Heil erheben könnte. Alle menschliche Gerechtigkeit gründet allein darin, dass der Mensch von Gott als gerecht angesehen wird. – Dieser Sichtweise haben wir uns oben am Gleichnis vom verlorenen Sohn bereits angenähert. Es ist tatsächlich der liebende Blick des Vaters, von welchem die erlösende Wirkung auf den Sohn ausgeht. Aber diesem Blick entspricht eine Wirklichkeit. Der Vater tut nicht nur so als ob sein Sohn liebenswert wäre. Indem wir – glaubend – Gottes liebenden Blick auf die gefallene Schöpfung nachvollziehen, dürfen wir deren wurzelhafte Gutheit behaupten. Losgelöst von Gottes vergebender Zuwendung wäre uns diese wurzelhafte Gutheit überhaupt nicht zugänglich. Und deshalb gilt für eine existenzielle Perspektive tatsächlich: Der von Gott entfremdete Mensch ist zutiefst unheil. Die katholisch – vom Trienter Konzil gegen Luther – behauptete ontologische Gutheit der gefallenen Schöpfung ist zwar „an sich“ gegeben, aber existenziell unzugänglich. Und um diese existenzielle Perspektive ging es Luther.

628
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17 Zur Verträglichkeit mit der anders ausgerichteten protestantischen Lehre vgl. die vorige Anmerkung.

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18 Eine eingehende Antwort auf diese Frage werde ich im geplanten Folgeband – mit dem Arbeitstitel „Leben aus der Kraft der Erlösung“ – geben.

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19 Vgl. Lapide/Luz (1980) 54–56.

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20 Eine solche durchgängig positive Deutung findet sich auch in einigen exegetischen Kommentaren.

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21 Wer diese dramatische Interpretation nicht teilen will, hat im Grunde noch zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder er versteht – wie manche Exegeten – Lk 4,22 insgesamt eher als positive Reaktion. Dann wird allerdings die kritische Erwiderung Jesu unverständlich. Oder er interpretiert – wie andere Exegeten – alle drei Reaktionen als negativ. Eine solche Deutung wird aber der erstgenannten Formulierung („sie stellten ihm ein Zeugnis aus“) nicht gerecht. Die meisten Kommentatoren neigen dazu, die drei in Lk 4,22 genannten Reaktionen (in positiver oder negativer Richtung) gleichsinnig zu verstehen, und geraten damit in Schwierigkeiten. Überdies stehen sie zueinander in Widerspruch. Diese harmonisierende Neigung ist wohl weniger auf exegetische Sachgründe zurückzuführen als auf eine noch zu wenig etablierte dramatische Denkform, die mit der Möglichkeit radikaler Umschwünge innerhalb kürzester Zeit rechnet. Und dies, obwohl die Evangelien öfters von der Wankelmut der Volksmenge schreiben.

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22 Dass Gott sich an solche menschliche Regeln nicht hält, belegt das Alte Testament immer wieder. Mit einer notorischen Vorliebe bevorzugt Gott den Jüngeren und damit Nachrangigen gegenüber dem Älteren: Abel gegenüber Kain, Jakob gegenüber Esau, Josef gegenüber seinen Brüdern, David gegenüber seinen Brüdern. Fast immer resultieren daraus Geschichten von Eifersucht und Gewalt.

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23 Hat Gott wirklich Abel bevorzugt und so Kain in die Katastrophe getrieben? Vgl. dazu Sandler 2009, 139.

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24 Diese Vorstellung eines selbstgenügsamen Gottes wird überwunden durch ein trinitarisches Gottesverständnis. Vgl. Sandler (2009) 103–104 sowie vor allem 201 Anm. 83.

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25 Wir müssen hier nicht notwendig voraussetzen, dass dieser Text historisch ist. Lukas hat hier auf erzählende Weise die zentrale Problematik der Annahme und Ablehnung von Jesu Gottesreichbotschaft thematisiert. Auch wenn diese Begegnung nicht genau so abgelaufen ist, hat Lukas damit exemplarisch herausgearbeitet, was die Menschen, die Jesus in Nazaret und sonst in Israel begegneten, in eine Ablehnung gegen ihn trieb.

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26 Genauer müsste man sagen: Der Blick auf Gott geht nicht am Anderen vorbei, sondern erreicht ihn – als Blick der Liebe – in dessen Selbstsein. Hingegen bleibt der prüfende Seitenblick am Anderen in dessen äußeren Erscheinungsformen und Erwartungen hängen.

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27
Zu 1.: Man kann Jesu Verhalten in Bezug auf die jüdischen religiösen Gesetze als eine radikale Rückführung auf ihre entscheidende Mitte (Gottesliebe und Nächstenliebe) verstehen. Damit stellt sich Jesus nicht einfach außerhalb des Judentums, sondern knüpft an eine jüdische Tradition prophetischer Gesetzeskritik an.

Zu 2.: Zeichen und Wunder geben dem Glauben Halt, können ihn aber nicht herbeizwingen. Die Möglichkeit einer kritischen Zurückweisung muss deshalb offenbleiben. Damit der biblische Anspruch eines Glaubens aufgrund von Zeichen und Wundern auch den heutigen Glauben stützt, müssen sie auch heute erfahren werden. In weiten Kreisen des – vor allem europäischen – Christentums sind solche Erfahrungen durch eine generelle Skepsis gegen die Möglichkeit von Wundern verstellt. Diese grundsätzliche Ablehnung lässt sich als ein szientistisches – die Reichweite naturwissenschaftlicher Methoden überschätzendes – Vorurteil entkräften (Sandler 2009b).

Zu 3.: Die Grenzen zwischen Aufzeigen, Freilegen, Provozieren und Bewirken von Aggressionen sind fließend. Dass ein Mensch ohne persönliche Schuld verborgene Destruktivität freilegen kann, ist ebenso unabweisbar wie die Möglichkeit, dass es sich beim biblisch beschriebenen Jesus so verhielt. Jesus als Stein des Anstoßes, an dem viele zu Fall kommen, ist zumindest ebenso eine diskutierbare Möglichkeit wie Russells „Jesus mit einem schlechten Charakter“. Welche der beiden Positionen glaubwürdiger ist, muss sich an einer Gesamtdeutung entscheiden, die alle verfügbaren Fakten über Jesus berücksichtigt. Relevant dafür sind auch Erfahrungen in der Jesusnachfolge.

Zu 4.: Jesus hat die Menschen nicht nur in die Folgen ihrer Sünden hineingetrieben, sondern sie dort in liebevoller Selbsthingabe aufgefangen. Wie das durch das Kreuz geschah, wird in diesem Buch noch ausführlich entfaltet (6. Kapitel).

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28 Der Anspruch, dass es keinen Namen außer Christus gibt, in dem Rettung und Erlösung ist, muss christlich gleichwohl für alle Menschen erhoben werden. Diese Aussage setzt aber eine gegenüber Apg 4,12 extrem geweitete Perspektive voraus, die das Jüngste Gericht mit einbegreift. Von daher kann gesagt werden: Letztlich wird jeder Mensch „mit seinen existenziellen Fragen vom Christusereignis getroffen werden“ (vgl. Fortsetzung im Haupttext), sodass sein Heil tatsächlich von seiner Entscheidung Jesus Christus gegenüber abhängt. Gemäß der Weltgerichtsrede (Mt 25,31–46) wird diese endgültige Entscheidung für oder gegen Christus in diesem Leben grundgelegt, und zwar selbst für Christen in Situationen, in denen sie Jesus nicht erkennen. Vgl. dazu S. – sowie –.

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29 Eine dramatische Schriftdeutung liest biblische Texte im Zusammenhang einer dramatischen Freiheitsgeschichte, welche die Antwort der Menschen auf Gottes Offenbarung mit berücksichtigt, – und zwar nicht nur bei den Menschen, von denen die biblischen Texte berichten, sondern auch für mich als den aktuell Auslegenden. Es gibt also keine Theologie in unbeteiligter „Zuschauerperspektive“. Vgl. dazu Sandler (1998) sowie in Sandler (2011) vor allem die Einleitung.

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30 Für uns, die wir keine Zeitgenossen Jesu sind, vollziehen sich solche direkte Begegnungen mit ihm, wenn wir mit Jesu Anspruch in Verbindung mit seinem Namen konfrontiert werden.

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31 Das Volk war über Jesu Lehre bestürzt (Mt 22,33: exeplēssonto). Als die Jünger Jesus über den See kommen sahen, erschraken sie (etharáchthēsan) und schrien vor Angst (Mt 14,26). Ebenso waren sie bestürzt (tetaragménoi), als der Auferstandene ihnen erschien (Lk 24,38). Alle waren angesichts seiner Wunder außer sich (Mt 12,23: exístanto) oder „außer sich vor Staunen“ (Mk 7,37: hyperperissōs exeplēssonto) und gerieten angesichts der Totenerweckung eines Mädchens „außer sich vor Entsetzen“ (exéstēsan ekstásei magálē).

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32 Als älterer Sohn repräsentiert der zu Hause Gebliebene auch das etablierte Judentum.

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33 Das gilt für alle Evangelienstellen, wo Jesus auf die Empörung von Menschen über seinen Umgang mit Sündern durch Lehre antwortet. Die Reaktion der Menschen bleibt immer offen. Vgl. Mt 9,11; Mt 11,19; Lk 5,30; Lk 7,34; Lk 7,39; Lk 15,2; Lk 18,9–14; Lk 19,7.

645
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34 Als Kinder haben wir genau das auch öfters gemacht und auf diese Weise eine Erlösung erschwindelt.

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35 Heißt das, dass nur explizite Christen effektive Friedensarbeit leisten können? Es gibt nur einen Weg, dieser geschichtlich absurden Annahme zu entkommen, ohne die hier beschriebenen Einsichten in die Ambivalenzen des Friedens und in unsere Angewiesenheit auf einen durch Christus vermittelten Gottesfrieden aufzugeben: die Annahme, dass Menschen – durch den Heiligen Geist, der weht, wo er will – im Namen Christi agieren können, ohne seinen Namen zu kennen. Auf diese Möglichkeit eines „anonymen Christseins“ weist die Bibel in der Weltgerichtsrede hin: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben? … – Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,38–40) Vgl. dazu S. –; –.

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36 Vgl. die vorige Anmerkung.

648
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37 Eine Gemeinschaft oder Gesellschaft, die ihre Einheit durch Ausgrenzung bestimmter anderer sicherstellt, versieht die Zugehörigkeit zu ihr mit einem Vorbehalt. Jedes Mitglied weiß: Ich bin nur so lange toleriert, als ich nicht so bin wie diese Ausgegrenzten. Liebe – im Sinn einer bedingungslosen Annahme von Menschen um ihrer selbst willen – ist in einer solchen Gemeinschaft nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich. Das ist ein Fluch, den sich eine Gemeinschaft oder Gesellschaft auflädt, wenn sie ihren Zusammenhalt auf Kosten gemeinsam Ausgegrenzter sicherstellt.

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38 Was diese konsequente Orientierung am göttlichen Willen innerweltlich bedeutet, zeigt die Fortsetzung des Textes: „Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel“ (Jes 50,6).

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39 Vgl. die Worte Jesu gegen den für ihn kämpfenden Petrus Mt 26,52–54: „Steck dein Schwert in die Scheide; denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen. Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte? Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, nach der es so geschehen muss?“

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40 Das wird deutlich herausgearbeitet von Schwager (1996) 203–248.

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41 Das Gebet steht in einem alternativen Jugendgebetbuch der siebziger Jahre. Ich konnte die Quelle nicht mehr ausfindig machen.

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42 Die biblische Verwendung des Begriffs Sünde unterscheidet sich von unserem meist moralisierenden Gebrauch des Wortes. Als Sünde bezeichnet die Bibel nicht nur einen Akt der Verweigerung Gott gegenüber, sondern auch den Zustand der Abgeschnittenheit von Gottes Willen. Dieser Zustand spiegelt sich in einer Entfremdung längs aller menschlichen Grundbezüge: also auch zu Mitmenschen, zu den Dingen der Welt und zu sich selbst.

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43 Das Johannesevangelium misst dieser Aussage des Kajaphas allerdings eine andere, positive Bedeutung zu. Vgl. dazu unten, S. .

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44 „Freiheit ist die Freiheit des Subjekts zu sich selbst in seiner Endgültigkeit und so Freiheit zu Gott“ (Rahner 1976, 107).

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45 Um eine Vorstellung vom Gewicht der Sünde und der Schwierigkeit von Erlösung zu erschließen, ist es wichtig, diese Frage in aller Schärfe herauszuarbeiten, auch wenn sie schlussendlich in zweifacher Richtung zu verneinen ist: erstens im Hinweis darauf, dass die Sünde gegen den Heiligen Geist einen faktisch nicht vorkommenden Grenzfall anvisiert, der eine vollkommene Gotteserkenntnis voraussetzt. In dieser Richtung argumentiere ich im nachfolgenden Haupttext. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der biblische Begriff für Ewigkeit (z. B. in Mk 3,29) keine Endlosigkeit im chronologischen Sinn meint. Vgl. dazu unten, S. .

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46 Berühmt ist die Antwort des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury auf die Frage, ob Gott den Menschen ihre Sünden nicht allein aus Barmherzigkeit vergeben könnte. In seinem Werk „Warum Gott Mensch geworden ist“ antwortet er seinem fiktiven Gesprächspartner Boso: „Du hast noch nicht das Gewicht der Sünde bedacht“ (Cur Deus Homo 1,21 = Anselm von Canterbury 1956, 75). Zur Erlösungslehre des Anselm von Canterbury vgl. unten S. .

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47 Ein solches Beispiel bringt Dostojewskij in seinem Roman Die Brüder Karamasoff. Vgl. dazu Sandler 2010a: http://theol.uibk.ac.at/itl/820.html#77

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48 Bei Matthäus (Mt 21,40f) gibt nicht Jesus diese irritierende Antwort, sondern – auf Jesu Frage hin – das anwesende Volk.

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49 Paulus spricht hier von den Juden, indem er diese Hülle mit dem – sündig pervertierten – Alten Bund in Verbindung bringt. Seine Aussage betrifft aber alle Menschen und Kulturen, auch Christen, soweit sie versuchen, allein aus eigener Kraft Gott wohlgefällig zu sein. Zu dieser Hülle vgl. Sandler (2009) 174–182.

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50 Für ein rechtes Verständnis von Sühne vgl. unten, S. .

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51 Nach Jan Heiner Tück kann „dem Leidenden durch die rückhaltlose Zuwendung Jesu Christi ein Ausweg aus seiner Entwürdigung gewiesen werden, wenn er durch die vorbehaltlose Identifikation Christi in seiner Würde bestärkt wird und ein neues Verhältnis zu seinem Leben gewinnt. Gleichzeitig kann er durch die Gemeinschaft mit Christus, der noch sterbend für seine Peiniger gebetet hat, befähigt werden, in die Haltung der Versöhnungsbereitschaft einzustimmen und in seinem Schuldiger den vergebungsbedürftigen Nächsten sehen zu lernen.“ (Tück 2007, 104)

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Mit Bedacht schreibe ich „eingeholt“ und nicht „nachgeholt“. Wir stoßen hier an eine Grenze unserer Möglichkeiten, uns ein Leben nach dem Tod vorzustellen: Einerseits müssen wir den Tod als Ende unserer Freiheitsgeschichte begreifen. Was wir in diesem Leben versäumt haben, können wir nicht einfach in einem jenseitigen Leben nachholen. Anderseits ist unsere letzte Einstellung gegenüber Gott in diesem Leben in eine Vielzahl gegensätzlicher Optionen zerstreut, und zwar in den meisten Fällen bis an die Schwelle des Todes. Wenn wir berücksichtigen wollen, dass Gott nicht einfach willkürlich von außen über die solcherart unentschiedenen Menschen ein Urteil verhängt, sondern im Jüngsten Gericht ihrer Freiheitsgeschichte wirklich gerecht wird, dann müssen wir – mit der Lehre der katholischen Kirche – die Möglichkeit eines Reinigungsfeuers („Purgatorium“, Fegfeuer) annehmen, in dem eine verborgene Grundentscheidung für Gott ausreift, – sodass alles Entgegenstehende in einem Prozess der Reue ausgebrannt wird. Diese positive Grundentscheidung für Gott muss aber schon in diesem Leben zumindest vorbereitet sein. Können wir ein solches wenigstens ansatzweises Ja zu Gott wirklich für jeden Menschen annehmen? Solange ein allem Anschein nach böser Mensch nicht zu absolut jeder Vergegenständlichung von Gottes Liebe in seinem Leben nein gesagt hat, dürfen wir hoffen, dass die minimalen Spuren seiner Gottesannahme zu einem endgültigen Ja ausreifen können, wenn er der Liebe Christi begegnet als einer Tiefendimension seiner Lebensgeschichte, die für ihn während seines Lebens weitestgehend verstellt geblieben ist.

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53 „Gott ist das ‚letzte Ding‘ des Geschöpfs. Er ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Feuer. Er ist … in seinem Sohn Jesus Christus … der Inbegriff der ‚letzten Dinge’.“ (Balthasar 1990, 282)

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54 Aber ist Gott überhaupt „außen“? Ist er uns nicht innerlicher als wir uns selbst? Das ist richtig. Aber dennoch hat der Mensch die Möglichkeit, sich in Freiheit von diesem Grund loszusagen. Die Aussperrung Gottes schafft eine Realität der Entfremdung zwischen dem Sünder und Gott, sodass dieser dem Sünder als „außen“ vorkommt. Dennoch bleibt Gott auch dem Sünder innerlicher als er sich selbst. Daher ist Sünde im Grunde der qualvolle Selbstwiderspruch, dass man seinen innersten Seinsgrund hasst, ohne ihn jemals loswerden zu können. Dieser komplexe Zusammenhang wird mit der Metapher vom außenstehenden (weil ausgetriebenen) Gott nur angedeutet. Präziser müsste man sagen: Gott bleibt im Innersten eines jeden Menschen (und trägt dort jede seiner Taten), sodass der Sünder nicht Gott, sondern sich selbst austreibt. Erlösung kann von daher mit einem Bild des heiligen Augustinus folgendermaßen beschrieben werden: „Du holtest hinter meinem Rücken mich hervor, wo ich mich eingerichtet hatte …“ (Augustinus 1987, 393).

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55 In dieselbe Richtung zielt Dietrich Bonhoeffers Kritik an einem „Lückenbüßergott“. Er meint damit einen geistlichen Missbrauch, der dort vorliegt, wo christliche Verkündiger und Theologen ‚Lücken‘ von Sinnlosigkeit und Verzweiflung im Leben von Menschen ‚aufreißen‘, um ihnen an diesen Stellen den christlichen Gott als Lösung anzubieten: „Sollen wir ein paar Unglückliche in ihrer schwachen Stunde überfallen und sie sozusagen religiös vergewaltigen? Wenn wir das alles nicht wollen …, was für eine Situation entsteht dann für uns, für die Kirche?“ (Bonhoeffer 1966, 133).

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56 „Gestorben“ bedeutet hier: bis zur Kreuzesnachfolge hineingenommen in Jesu Selbsthingabe an Gott.

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57 Derartige Pestbilder gibt es in der Schlosskapelle von Schloss Bruck in Lienz / Osttirol und in der Kirche St. Prokulus in Naturns. Vgl. Slump 2000. Abbildungen im Internet: http://www.slump.de/l3.htm (Schloss Bruck) und http://www.slump.de/l5.htm (St. Prokulus).

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58 Eine ähnliche Problematik zeigt sich heute noch für Lehrpersonen im Unterricht, wenn Schüler die Autorität des Lehrers durch Störaktionen untergraben.

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59 Genauer muss man sagen: Nicht die Satisfaktionslehre, wie sie von Anselm entwickelt wurde, sondern verschiedene problematische Varianten von ihr waren bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierend für ein katholisches und auch evangelisches Verständnis von Erlösung. Vgl. Greshake (1983).

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60 Zentral für diesen Umbruch war eine völlig veränderte Sichtweise von der Hölle in der neueren Verkündigung. Im Gegensatz zur früheren Höllenangst wird nun weitgehend selbstverständlich mit einer vergebenden Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Verstorbenen gerechnet. Michael Ebertz hat in einer breit angelegten Studie von Predigten diese Entwicklung dokumentiert (Ebertz 2004). Er zeigte, dass in der katholischen Verkündigung die aus dem Mittelalter überkommene Teufels- und Höllenangst sich immer mehr in einen Jenseits-Optimismus wandelte: Wichtig dafür war eine Fegfeuerlehre, die das ehemalige Straffeuer zunehmend als Möglichkeit zu einer Reinigung – in Vorbereitung auf den Himmel – ausfaltete. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts brach dann auf breitester Basis ein Heilsoptimismus durch, der sich bereits seit der Theologie des Barock vorbereitet hatte. Man kann nach Ebertz also nicht sagen, dass in der früheren katholischen Verkündigung nur die Drohbotschaft dominierte. Aber eine so restlose Durchsetzung einer Frohbotschaft – mit einem zunehmenden Verschweigen der traditionellen eschatologischen Themen Hölle und Gericht – war vordem unvorstellbar.

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61 Eine etwas flache Antwort, die in den sechziger Jahren populär wurde, lautete: Jesu Auferstehung zeigte den Jüngern und zeigt auch uns, dass die „Sache Jesu“ weitergeht. Weiter führt dieser Ansatz, wenn hinzugefügt wird: Diese Sache Jesu ist untrennbar mit seiner Person verbunden.

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62 Allerdings haben derartige Liebesbeweise eine Tradition, von der her sie geschätzt und sogar gefordert werden. So etwa beim sprichwörtlichen Älpler, der sein Leben riskierte, um seiner Angebeteten einen Strauß Edelweiß aus der Felswand zu pflücken.

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63 Die Abschiebung der Sünde ist zunächst Tat der Menschen und nicht des Vaters oder des Sohnes. Diese Tat macht die Menschen keineswegs frei von Sünde, sondern vielmehr „das Maß ihrer Sünden voll“ (1 Thess 2,16).

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64 Vgl. das Kapitel: Warum „Ohne Christus kein Heil“ nicht intolerant ist (S. ).

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65 Zu einer angemessenen Deutung dieser Stelle, die zunächst nicht alle Menschen, sondern „uns“ betrifft, vgl. oben S. sowie Anm. .

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66 Das Samenkorn ist Gott selbst, der sich – begonnen mit der Menschwerdung – in Jesus Christus klein und abhängig gemacht hat von der Zustimmung der Menschen, um ihre Freiheit durch seine göttliche Präsenz nicht zu erdrücken, sondern freizusetzen.

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67 Die zweifache Wahrheit besteht in der Faktizität einer eigenen Unheilstat und der Tatsache, dass Christus diese Unheilstat in einen versöhnenden Akt der Liebe verwandelt hat.

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