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'Weltethos' - Zustimmendes und Kritisches zum Projekt von Hans Küng und Karl-Joseph Kuschel

Autor:Schwager Raymund
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Der Vortrag (16.Óktober 2002) antwortet auf einen Vortrag von Prof. Dr. Karl-Joseph Kuschel, den dieser im Rahmer einer Ausstellung zum 'Weltethos' an der Theologischen Fakultät Innsbruck gehalten hat.
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2002-10-17

Inhalt

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1) Am 1. Oktober hat Prof. Kuschel, Mitarbeiter von Hans Küng in einem beeindruckenden Vortrag die Anliegen des Projektes Weltethos vorgestellt. Zentralen Gedanken seiner Ausführungen kann ich nur zustimmen. Besonders erwähnen möchte ich folgende Punkte:

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  • Im Unterschied zur Säkularisierungsthese, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das kulturelle und gesellschaftliche Leben weitgehend beherrscht hat, sind die Religionen nicht am Aussterben. Sie spielen vielmehr weltweit eine wichtige Rolle, und dies nicht bloß im privaten, sondern auch im öffentlichen Leben.
  • Die Religionen sind nicht für alles zuständig. Sie sollen sich begrenzen. Ihnen kommt aber vor allem bei den Fragen nach einer weltweiten Gerechtigkeits- und Friedensordnung eine wichtige Rolle zu.
  • Alle Religionen kennen gewisse ethische Grundprinzipien, wie etwa die goldene Regel, die einander ähnlich sind: 'Was du nicht willst, das man dir zufügt, das füge auch keinem anderen zu.' Diese und ähnliche Grundprinzipien sind stärker aufzuzeigen, damit daraus ein gemeinsames Weltethos, das den Frieden fördert, entstehen kann.
  • Die Betonung des gemeinsamen Ethos zielt nicht auf die Schaffung einer weltweiten Einheitsreligion. Im Gegenteil; die heutige Globalisierung weckt notwendigerweise auch Gegenkräfte, denn die Menschen brauchen Heimat und Identität. Im Suchen nach dieser Beheimatung spielen die verschiedenen Religionen eine große Rolle, weil sie die Menschen in ihrer tiefsten Emotionalität ansprechen.
  • Gerade wegen der bleibenden Unterschiede zwischen den Religionen ist der Dialog zwischen ihnen wichtig. Er soll dazu führen, dass Menschen trotz bleibender Unterschiede einander besser verstehen und achten und so dem Frieden dienen. Durch den Dialog sollen negative Folgen der Religionen - wie etwa Fanatismus und Streitsucht - schrittweise abgebaut wer
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2) Kritische Rückfragen

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Obwohl alle diese Punkte nur bejaht werden können, stellen sich dennoch kritische Frage.

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  • Stimmt es, dass Menschen, die einander näher kommen, automatisch auch friedlicher werden? Kann nicht durch die Nähe zwischen Menschen das Konfliktive zwischen ihnen ebenfalls wachsen? In der Bibel und in anderen religiösen Traditionen gibt es das große Thema der feindlichen Brüder (Kain und Abel, Esau und Jakob, Joseph und seine Brüder). Es scheint anzuzeigen, dass Menschen, die einander besonders nahe sind, auch um so leichter zu Rivalen werden. (1) In die gleiche Richtung weisen Bürgerkriege, die meist mit besonderer Grausamkeit ausgefochten werden, und die Erfahrung, dass die meisten einzelnen Mordtaten sich innerhalb naher Beziehungen oder in der Verwandtschaft ereignen. Die Theorie von René Girard gibt für dieses seltsame und beunruhigende Faktum eine einsichtige Erklärung. (2)
  • Allgemeinen ethischen Grundprinzipien stimmen die Menschen zwar leicht zu. Alle wollen zum Beispiel einen gerechten Frieden. Was aber gerecht ist, darüber gehen die Meinungen in konkreten Konfliktfällen leicht meilenweit auseinander. Ein besonders dramatisches und tragisches Beispiel liefert heute dazu der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Beide Seiten wollen mehrheitlich eine gerechte Lösung, aber selbst die Dialogfähigsten auf beiden Seiten können sich vorläufig nicht voll darauf einigen, was gerecht ist, und die Mehrheitsmeinungen stehen einander diametral entgegen. Unterschiedliche Geschichten lassen sich nur schwer überspringen.
  • Eine allgemeine Erfahrung zeigt, dass sich Menschen am leichtesten gegen einen gemeinsamen Feind einigen können. (3) Ist dieser Feind weit weg und wenig bedrohlich, ist auch die einigende Kraft, die von ihm ausgeht, schwach. Je näher er kommt und je bedrohlicher er wird, desto stärker schweißt er ein Kollektiv zusammen (vgl. Israel). In bedrohlichen Situationen entsteht deshalb nicht das spontane Bedürfnis nach Verständigung und Ausgleich, sondern eher das Suchen nach einem klaren Feind, dem die Krise angelastet werden kann.
  • Religionen werden oft missbraucht und für politische Ziele instrumentalisiert, wie Prof. Kuschel betont hat. Können die Religionen aber nicht auch für ein Friedensprojekt instrumentalisiert werden? - Das Projekt Weltethos stammt aus der westlichen Welt, und diese hat ein besonderes Interesse an einem weltweiten Frieden. Sie ist vorläufig der erfolgreiche Teil der Menschheit. Sie ist sehr reich im Vergleich zu anderen Ländern und möchte ihren Wohlstand erhalten und mehren. Dazu braucht sie eine weltweite stabile Friedensordnung. Sie hat aus Eigennutz heraus ein Interesse am Frieden. Viele Menschen, denen es schlecht geht, die im Elend leben oder sich unterdrückt und gedemütigt fühlen, haben eher ein gegenteiliges Interesse: sie wollen eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Wem dient das Projekt Weltethos?
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Diese kritischen Rückfragen an das Projekt Weltethos, nötigen uns, nochmals etwas tiefer zu graben.

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3) Apokalyptik

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a) Entstehung und heutige Aktualität

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Zunächst ist ein Blick auf jene Erfahrungen zu werfen, wie sie in der normativen religiösen Tradition Israels - in unserem Alten Testament - festgehalten sind. Die Propheten haben immer wieder ein Ethos gepredigt; sie traten für Gerechtigkeit ein und forderten, dass man den Armen, Witwen und Waisen und den Fremdlingen beistehen soll. Diese Ermahnungen und Aufrufe haben aber nie durchschlagenden Erfolg gehabt. Die Könige, die Priesterschaft und das Volk blieben hartherzig. Die Propheten klagten deshalb Israel an, dass es Leidenschaften und Begierden verfallen sei und nicht auf das Wort Gottes und das Wort der Gerechtigkeit höre. Die Menschen wollen zwar gut sein, de facto überlassen sie sich aber immer wieder anderen Kräften. Der Prophet Jeremia fragt verzweifelnd: Kann ein Leopard die Flecken auf seinem Fell ändern? Wenn er es könnte, dann könnte auch Israel sich bekehren (Jer 13.23). Doch dies ist unmöglich. Der Aufruf zur Bekehrung und der Ruf nach einem neuen Ethos hat in der Geschichte Israels immer wieder Schiffbruch erlitten. Dieses Scheitern illustriert das, was man als 'Katastrophe der Ethik' umschreiben kann.

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Die Propheten reagierten auf diese Erfahrung einerseits mit der Gerichtspredigt und anderseits mit der Ankündigung eines neuen Eingreifens Gottes in die Geschichte, die eine innere Veränderung des Menschen bringen soll (Gesetz im Herzen, Ausgießung des Geistes Gottes, neuer Bund). So entstand aus der Katastrophe der Ethik die messianische Erwartung, die das Judentum und das Christentum zu tiefst geprägt hat. Man sah nicht mehr in der Vergangenheit das Heil, sondern erwartete es durch neue Taten in der Zukunft.

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Das erwartete messianische Heil zögerte sich aber wiederum heraus. Dies führte zu einer Verschärfung der messianischen Erwartung in der Apokalyptik. Nach ihr wird ein großer Teil der Menschheit dem Gericht verfallen, und nur ein Rest der Gerechten wird gerettet werden. Die Apokalyptik prägte das Judentum zur Zeit Jesu Christi, und in transformierter Weise ist sie auch ins Christentum eingegangen. Transformiert hat sich auch der Gedanke des Gerichts, und zwar anfänglich bereits im Alten Testament. Das Neue Testament setzte diese Umdeutung fort, und es deutet das Gericht, sofern man die entsprechenden Texte ganz aus der Perspektive des Geschickes Jesu liest, als Selbstgericht. (4)

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Über das neue Testament hinaus hat die Apokalyptik in der christlichen Ära immer wieder intensive Erwartungen geweckt. Sie hat die abendländische Geschichte - trotz dauernder Enttäuschungen - wesentlich mitgeprägt, und sie spielt bis heute eine wichtige Rolle. Dies gilt sogar für die aktuellste Politik. In Israel vertritt die National religious party und ein Großteil der Siedler eine messianisch-apokalyptische Theologie. Nach ihr hat mit der Errichtung des Staates Israel und mit dem Erfolg im 6-Tage Krieg 1967 die Erlösung bereits begonnen. Israel kehrt aus dem Exil in sein verheißenes Land zurück. Es sei deshalb, so wird von manchen theologisch gefolgert, Aufgabe des ganzen Volkes, die begonnene Erlösung zu fördern, mit Jerusalem das ganze Land in Besitz zu nehmen und keine eroberten Gebiete an die Palästinenser zurückzugeben. Diese messianisch-apokalyptische Theologie ist einer der Gründe, weshalb ein Friede zwischen Israel und den Palästinensern heute so aussichtslos ist. Die apokalyptische Theologie lässt keine politischen Kompromisse zu.

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Eine ähnliche Theologie gibt es auch auf christlicher Seite, und zwar vor allem in den Freikirchen Nordamerikas. Nach ihr müssen die Juden vor der Wiederkunft Christi nach Jerusalem zurückkehren. Ist dies geschehen und haben sie sich dort bekehrt, dann wird Christus auf die Erde zurückkehren und von Jerusalem aus ein tausendjähriges Friedensreich errichten. Der erste Teil dieser Erwartung sei durch die Gründung des Staates Israel erfüllt; nun gelte es, Israel zu unterstützen und für die Bekehrung der Juden zu beten, damit Christus bald als Friedensfürst wiederkomme. Die Erwartung eines baldigen Friedensreiches verschärft so den gegenwärtigen Konflikt.

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b) Fortschrittsglaube als säkularisierte Apokalyptik und die biblische Apokalyptik als Selbstgericht

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Die Apokalyptik bleibt nicht bloß durch extreme religiöse Gruppen in der heutigen Welt bedenklich aktuell. Im Laufe der abendländischen Geschichte hat die Zukunftserwartung sich säkularisiert. Daraus entstand als Reaktion gegen den christlichen Glauben der Fortschrittsglaube, der eine einmalige Dynamik in die Weltgeschichte gebracht hat. Keine andere Kultur und keine andere Religion hat eine ähnliche Dynamik gekannt. Die Zukunftserwartung führte im christlichen Abendland zunächst zu geistigen und dann zu naturwissenschaftlichen und technischen Revolutionen. Es ergab sich eine einmalige Erfolgsgeschichte Doch diese ist zugleich sehr zweideutig. Spätestens mit der Schaffung der atomaren Waffen ist es den Menschen bewusst geworden, dass sie mit den neuen Möglichkeiten auch sich selber im unvorstellbaren Masse schädigen, ja vernichten können. Seither ist die säkulare Welt, die sich lange Zeit über die Apokalyptik lustig gemacht hat, in neuer Weise selber apokalyptisch geworden. Sie steht seit Jahrzehnten unter der ständigen Drohung eines mögliches Selbstgerichts. Solange man um diese Drohung nur wusste, die Katastrophe aber nicht selber konkret erfahren hat, blieb ihre Wirkung begrenzt. Vor allem die USA, die Speerspitze der westlichen Welt, blieb auf ihrem eigenen Gebiet von größeren Erfahrungen der Vernichtung lange Zeit ganz verschont. Mit dem 11. Sept. 2001 hat sich die Situation aber zu ändern begonnen. Obwohl diese Terrortaten verglichen mit dem, was noch kommen kann, wohl nur Bienenstiche waren, wurde doch hautnah und brutal erlebt, wie man mit westlichen Errungenschaft zentrale Symbole der westlichen Welt treffen kann. Selbst ein so säkularer Denker wie Jürgen Habermas sprach deshalb nach dem 11. Sept. davon, dass die Welt apokalyptisch geworden ist. Seither greifen auch sehr nüchterne politikwissenschaftliche und wirtschaftstheoretische Schriften auf die Thematik des Apokalyptischen zurück.(5) In der breitenVolksseele dürfte die Aufwühlung noch weit tiefer gehen. So feiert z. B. seit neuestem in den USA eine auf 10 Bände angelegte Saga, eine Mischung aus romanhafter Phantasie, Science fiction, Erweckungspredigt und vor allem biblischer Prophetie bisher ungekannte Verkaufserfolge (6). Es stellt sich die bedrängende Frage: was geht in den Herzen der Menschen vor, dass solche Werke derartige Erfolge haben?

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c) Zerstörung fremder Kulturen und das Ressentiment

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Der Erfolg des Fortschrittsglaubens hat noch eine andere Kehrseite. Die westliche Welt macht sich mit schnellen Tempo auf der ganzen Welt breit. Sie untergräbt fremde Kulturen und betreibt durch ihr unwiderstehliches Vordringen massive Zerstörungsarbeit, denn überlieferte Lebensformen halten der Konfrontation mit den neuen Herausforderungen nicht stand. Die moderne westliche Rede vom Multikulturalismus ist deshalb weitgehend eine ideologische Verschleierung dieses harten Vorganges. Elemente anderer Kulturen werden ja nur insofern akzeptiert, als sie sich als harmlose Versatzstücke, als Zier- und Dekorationselemente in die Grundstrukturen unserer Gesellschaft integrieren lassen. Zentrale Strukturen anderer Gesellschaften werden hingegen entschieden negiert und in Frage gestellt. So steht das islamische Verständnis von Religion und Öffentlichkeit unserer Trennung von Kirche und Staat scharf entgegen und findet keine Akzeptanz. Ähnliches gilt für das hinduistische Kastensystem oder die afrikanische Stammesethik, die, wenn sie auf die Ebene des Staates übertragen wird, nur hoch als staatliche Korruption verstanden werden kann. Ob man es wahrhaben will oder nicht, ein Kampf der Kulturen findet tagtäglich statt, und westliche Vorstellungen und Strukturen breiten sich ständig weiter aus (7) und verdrängen und zerstören besehende Traditionen.

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Dieses fundamentale Faktum wird deshalb meistens übersehen, weil die westliche Welt normalerweise gar nicht besonders aggressiv vorgehen muss. Es sind ihre Produkte, die eine ungeheure verführerische Wirkung haben und überall wie trojanische Pferde eindringen und willkommen geheißen werden. Für Menschen, die ihre Kultur und Religion bewahren wollen, wird deshalb die Situation sehr schwierig. Sie sehen den Vormarsch der westlichen Zivilisation, leiden darunter, fühlen sich gedemütigt und sind dennoch von den Produkten des Westens selber fasziniert. So sammelt sich in weiten Teilen der Welt eine widersprüchliche und explosive Stimmung. Eine Faszination für Amerika und heftigster Antiamerikanismus gehen Hand in Hand. Diese widersprüchliche Gefühlslage erzeugt das, was Nietzsche Ressentiment genannt hat, und was sich heute weltweit gegen den Westen und seine äußere Überlegenheit ausbreitet. Durch die Berufung auf ein gemeinsames Ethos wird diese explosive Mischung und das tiefsitzende Ressentiment kaum entschärft.

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4) Weiterführung des Projektes 'Weltethos'

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  • Zunächst ist es wichtig, die Grenzen unserer Möglichkeiten klar zu erkennen, um nicht Utopien zu verfallen, die zwar gut gemeint, längerfristig aber kontraproduktiv sind. Wir haben keine Rezepte, durch die wir die kommende Geschichte in den Griff bekommen könnten. (8) Die Zukunft ist uns entzogen. (9) Christlich gesprochen steht sie unter Gottes Führung und unter Zulassung menschlichen Selbstgerichts. Säkular gesprochen stehen wir unter der Drohung wechselseitiger Selbstzerstörung. Diese kann zwar, wie der Untergang der zwei großen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt, brutalere oder erträglichere Formen annehmen. Bei der Vernichtung des Nationalsozialismus wurde im Zweiten Weltkrieg wurden zugleich viele Millionen Menschen getötet, und die Sieger schufen sich gleichzeitig das Problem der atomaren Waffen. Die Selbstauflösung des sowjetischen Kommunismus geschah demgegenüber weit friedlicher, brachte aber dennoch vielen Menschen neues Leid. Die eine oder andere Form des Untergangs werden auch wir in Zukunft zu erwarten haben, und wir haben damit zu rechnen, dass auch die vorläufig siegreiche westliche Zivilisation selber getroffen wird. Im besten Fall erlebt sie eine Serie von Krisen, durch die sie sich freiwillig tiefgehend verändert und 'bekehrt'.
  • In einer unsicheren Welt ist es eine erste Aufgabe der Religionen, den Menschen einen inneren Frieden zu schenken. Nur wo dieser wächst, kann auch der äußere Friede größer werden. Wird die Religion nur im Blick auf den äußeren Frieden gesehen, wird sie leicht instrumentalisiert, was auf Dauer ihr selber und dem äußeren Frieden schadet. Vor allem die Reinigung und Klärung so komplexer Gefühle wie das Ressentiment, kann nur durch einen wahren inneren Frieden erfolgen. Glaubenshaltungen und spirituelle Einstellungen, die diesen Frieden fördern, haben deshalb Vorrang vor einem Ethos. Um den inneren Frieden zu finden, sind die Religionen zugleich herausgefordert, besser mit äußeren Niederlagen umgehen zu lernen. Wer von einer Wahrheit überzeugt ist, meint instinktiv, diese müsse sich in der Welt auch überall siegreich durchsetzen. Doch gerade diese Annahme schafft Streit. Nicht das Eintreten für Wahrheitsüberzeugungen schafft Krieg, wie oft behauptet wird, wohl aber kann die Annahme, die eigene Überzeugung müsse sich rasch siegreich ausbreiten, leicht zu Gewaltakten verführen. Deshalb ist die christliche Botschaft vom Kreuz für den wahren Frieden zentral. Sie lehrt ja, dass die göttliche Wahrheit in der Welt Niederlagen erleidet und erst im Leben bei Gott letztlich siegreich sein wird. Ins Gespräch über das Weltethos ist diese Dimension mit Nachdruck einzubringen, und sie ist besonders im Dialog mit dem Islam, der sich weitgehend als irdische Siegesreligion versteht, mit Nachdruck zu betonen.
  • Das Rechnen mit Niederlagen darf nicht im Sinne der Passivität oder gar des Defätismus verstanden werden. Die Überzeugung, in der Wahrheit zu stehen und trotzdem einer mächtigen Gegnerschaft zu begegnen, sollte vielmehr die Haltung einer aktiven Gewaltfreiheit (vgl. Gandhi) fördern. Eine solche Einladung wird oft als unrealistische Zumutung abgewiesen. Gerade neuere Erfahrungen können uns aber vom Gegenteil überzeugen. Die Palästinenser versuchen seit langem, sich mit Gewalt gegen die übermächtige Herrschaft der Israelis zu wehren und viele berufen sich dabei auf ihre Religion. Sie haben damit aber letztlich nur ihrem eigenen Volk und der eigenen Religion geschadet. Die Wunden, die sie ihrem Gegner zugefügt haben, bewirkten bei diesem nur, dass die Mehrheit für ein immer härteres Vorgehen bereit wurde und dabei auch internationales Verständnis fand. Die Situation der Palästinenser wurde so von Jahrzehnt zu Jahrzehnt - gerade wegen des gewaltsamen Widerstandes - immer schlechter. Gleichzeitig wird durch religiös motivierte Terrorattentate der Islam weltweit in Verruf gebracht. - Würden die Palästinenser hingegen durch große gewaltfreie Aktionen gegen Israel auftreten, hätten sie rasch die ganze internationale Welt auf ihrer Seite, und dies würde auch in der Mehrheit der israelischen Bevölkerung Veränderungen bewirken, die einem Frieden sehr förderlich wären. Zum Gespräch über das Weltethos gehört deshalb, dass die trügerische Faszination der Gewalt und ihre selbstzerstörerische Logik deutlich aufgedeckt und die realistischen Möglichkeiten gewaltfreier Strategien klar ausgelotet werden.
  • Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zeigt ferner, dass beide Seite den Eindruck haben, sie seien die eigentlichen Opfer. Einerseits sehen die Israelis die Geschichte ihres Staates ständig im Licht der Judenvernichtung durch Nazi-Deutschland und des jahrhundertealten, hartnäckigen Antisemitismus. Anderseits gehen die Palästinenser immer von der Tatsache aus, dass ihnen ihr eigenes Land weggenommen wurde. Beide Völker übersehen dabei, dass sie inzwischen eine gemeinsame mehr als fünfzigjährige Geschichte haben, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und von der her sie ihre Zukunft zu gestalten haben. Solche gemeinsame und tiefsitzende Konflikte lassen sich nur lösen, wenn man nicht ständig nur auf die eigenen Sorgen und Leiden fixiert bleibt und von ihnen her unbedingte Gerechtigkeit fordert, bezüglich derer man sich nie einigen kann. Es bedarf vielmehr einer Haltung des Glaubens und Vertrauens, die mutig einen Schritt in die Zukunft tut, vergangenes Unrecht stehen lassen und verzeihen kann. Ohne die Bereitschaft zu verzeihen, wird die Forderung nach Gerechtigkeit, über die man sich kaum je ganz einigen kann, zu einer tödlichen Waffe. Sie schafft nicht Friede, sondern gebiert stets neues Unheil.
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Anmerkungen:  

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 1. näher Beziehungen zwischen menschlichen Gruppierungen sind, desto feindseliger werden sie voraussichtlich miteinander sein. Es sind die Gemeinsamkeiten, die Menschen dazu bringen, einander zu bekämpfen. Nicht die Unterschiede." Arno Gruen. Der Fremde. Das innere Opfer und die Bedrohung der Demokratie. In: H. Hoffmann u.a. (Hg.), Wendepunkt 11 September 2001. Köln: DuMont Literatur 2001, 65 - 79, hier 69; - "Was wird geschehen, wenn eines Tages überall auf der Welt Demokratien bestehen und es keine Tyrannei und keine Unterdrückung mehr gibt, gegen die es sich zu kämpfen lohnen würde? Die Erfahrung lehrt, dass Menschen, die für die gerechte Sache nicht mehr kämpfen können, weil diese bereits in einer früheren Generation gesiegt hat, gegen die gerecht Sache kämpfen. Sie kämpfen um des Kampfes willen. Mit anderen Worten: Sie kämpfen aus einer gewissen Langeweile heraus, denn sie können sich nicht vorstellen, in einer Welt ohne Kampf zu leben." (F. Fukuyama, Ende der Geschichte, 435).

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2. Girard, Die Figuren des Begehrens. Thaur: Kulturverlag 1999; ders., Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1992.

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3. R. Girard, Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks Frankfurt a.m.: Fischer Taschenbuch 1992.

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4. R. Schwager, Jesus im Heilsdrama; N.T. Wright, Jesus and the Victory of God.

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5. Dupuy, Pour un catastrophisme éclairé. Paris 2002

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6. LaHaye, Jerry Jenkins, Left Behind (Tyndale House Publishers). Vgl. 'Es steht geschrieben'. Eine Billigvariante der Apokalypse macht in Amerika Furore. In: NZZ 1. Okt. 2002, 27.

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7. ist die ausdrückliche politische Absicht der USA. Der früher Außenminister Henry A. Kissinger fasst Reden der Präsidenten Bush sen. und Clinton vor der UNO auf folgende Weise zusammen: "Zum dritten Mal in diesem Jahrhundert verkündete Amerika seine Absicht durch Übertragung seiner Werte auf die Welt als Ganze eine neue Weltordnung zu schaffen." Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik, Berlin 1994, 894. Noch deutlicher wird dieser Wille, die eigenen Vorstellung universal zu machen, bei Bush jun.

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8. großen Erfolge in der technischen Beherrschung mancher Naturprozesse verführen ständig zur Annahme, auch die menschliche Gesellschaft könne auf ähnliche Weise technisch beherrscht werden.

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9. gibt auch Hinweise, dass eine zu starke Moralisierung der Politik zu einer totalen moralischen Verurteilung der Gegner und damit zu einer Steigerung der Gewalt beitragen kann; vgl. Ch. Taylor, Gewalt und Moderne. In: Transit - Europäische Revue, Nr. 23 /2002.

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