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Ein Netz, das trägt: Was Kirche und Internet einander "zu sagen" haben

Autor:Böhm Thomas
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Medien sind nicht einfach nur Werkzeuge. Sie verändern Strukturen. Sich mit ihnen zu beschäftigen birgt Chancen: für das Selbstbild der Kirche und für die Medien!
Publiziert in:Katechetische Blätter 126 (2001) 167–172
Datum:2001-10-03

Inhalt

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»Sind Sie schon vernetzt?« - »Klar«, habe ich geantwortet, als meine Gesprächspartnerin am Telefon diese Frage stellte. »Was brauchen Sie? E-Mail? Homepage?« Die Sache war schnell erledigt. Aber die Formulierung ließ mich nicht mehr los. Diese Frage hätte so vor wenigen Jahren wohl keiner gestellt. Und trotzdem beinhaltet sie für mich mehr; als sich mit dem Hinweis auf die neuen elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten erledigen lässt. Im Beantworten kommt Grundsätzlicheres zum Ausdruck. Ich lebe - nicht nur über den Computer - in einer Welt der Beziehungen und auch gegenseitigen Abhängigkeiten. Ich bin getragen und gehalten, brauche Kontakte zu Mitmenschen und biete selbst einen Bezugspunkt für andere. Die Partnerschaft, Familie, das berufliche Umfeld, die Kolleginnen und Kollegen, meine Gemeinde, in der ich wohne und lebe Dies alles bildet ein großes »Netzwerk« mit verschiedenen Bezugspunkten und Perspektiven.

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Nicht der Inhalt ist die erste »Botschaft«

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Doch zunächst einige Worte zum formalen Ansatz des folgenden Beitrags. »The medium is the message« - »Das Medium ist die Botschaft«, sagt der kanadische Medien- und Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan (1911-1980). Er meint damit, »dass die persönlichen und sozialen Auswirkungen eines jeden Mediums (...) sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird« (McLuhan 1995, 21). Kommunikationsmedien sind keine neutralen »Transportgefäße« für Inhalte aller Art. Die Mittel, mit denen Menschen kommunizieren, beeinflussen ihr Denken, ihr Reden und ihre Beziehungen. »Ja, ich bin vernetzt: auf unterschiedliche und vielfältige Weise« - diese Einsicht wäre mir persönlich, ohne mit den Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation konfrontiert zu sein, nicht -

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oder zumindest nicht so klar und einprägsam - gekommen.

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Lassen wir im Folgenden die bei McLuhan nicht näher ausgefaltete Anfrage beiseite, inwieweit auch die jeweilige Ausformung der Kultur die vorherrschenden Kommunikationsformen bedingt. Widmen wir uns vielmehr der Frage, welche Konsequenzen sich für Sprechen und Denken ergeben, wenn Menschen mit Hilfe elektronischer Medien miteinander kommunizieren. Fragen wir uns, welche neuen oder aktualisierten »Denkmodelle« entstehen und welche Auswirkungen das Internet als »Leitmedium« für die Welt- und Menschensicht hat.

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»Das Medium ist die Botschaft.« Wer von Kirchen- oder Theologen-/Theologinnenseite diesen Ansatz McLuhans ernst nimmt, kann nicht mehr beim Bild der »sozialen Kommunikationsmittel« als »Instrumente« im Dienst der christlichen Verkündigung stehen bleiben - auch wenn lehramtuche Texte tendenziell diesen stark am Bild vom »Werkzeug« ausgerichteten Ansatz vermitteln (vgl. z. B. Inter mirifica 1, Communio et progressio 12). Kirche und Theologie sollten sich vielmehr fragen, welche Impulse für theologisches Denken und kirchliches Handeln aus den neuen Kommunikationstechnologien entstehen, wenn sie diese selbst als »Botschaft« und als »Symbol« verstehen. Und dieses Fragen soll uns nicht nur unserer Rolle und unseres Handelns als Christinnen und Christen vergewissern. Ein ernsthaftes Auseinandersetzen ermöglicht es zugleich, angesichts der Medien-Botschaften den »Mehrwert« der Froh-Botschaft ins Spiel zu bringen und dem Mediensystem innewohnende »Kurzschlüsse« aufzubrechen.

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Ich fasse das bisher Gesagte nochmals in zwei Fragen zusammen: Was ist (von Marshall McLuhan ausgehend) die »Botschaft« der neuen elektronischen Kommunikationstechnologien - insbesondere des Internets? Welche Bedeutung haben diese Technologien für theologisches Denken und kirchliches Handeln - im Sinne von Rezeption und Kritik? Um diese beiden inhaltlich relevanten Themen soll es im Folgenden gehen.

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Das Ende der »Gutenberg-Galaxis«?

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Die Geschichte der menschlichen Kommunikation lässt sich nach McLuhan in vier Epochen einteilen: Nach dem Wechsel von der Oralen Stammeskultur zur literalen Manuskript-Kultur und von dort zur Gutenberg-Galaxis steht der Mensch heute wieder mitten in einem Paradigmenwechsel der Kommunikations- und damit Denkformen. Das elektronische Zeitalter löst die seit Entstehen des Buchdrucks vorherrschenden linearen Strukturen auf, denn es fördert mosaikartige Denk-Gebilde.

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Das syntaktische Hintereinander-Reihen von Information im Buchdruck - wie es z. B. auch dieser Artikel noch in guter »Gutenberg-Tradition« tut - reduziert komplexe Zusammenhänge auf drucktechnisch festhaltbare Linearität. Aber »gerade die lineare Ordnung, in welcher die Wörter verwendet werden müssen, hat zur Folge, dass auch die Eigenschaften in einer syntaktischen Zeitordnung untersucht werden, die in Wirklichkeit gleichzeitig sind« (McLuhan 1968, 101f).

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Die elektronischen Kommunikationsmittel brechen dieses Dilemma auf. Sie liefern neue »Formen und Strukturen der menschlichen Interdependenz und der Ausdrucksweise, die in der Form >oral< sind, auch wenn die Situationselemente nicht-verbaler Natur sind« (McLuhan 1968, 7f). Die modernen Medien - diesen Begriff versteht McLuhan sehr weit - ermöglichen gewissermaßen eine »Rückkehr« aus der Individualisierung in die »mündliche« Stammeskultur. Sie lösen das starre lineare Denken zugunsten vielfältigerer; beziehungsbezogener Strukturen auf.

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Die Frage, ob die elektronischen Kommunikationsmittel tatsächlich die moderne Individualisierung aufheben - oder ob sie nicht die letzte Konsequenz einer Anything-goes-

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Mentalität und damit Fragmentisierung des Menschen sind -, werde ich weiter unten kurz anschneiden. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang zunächst die Tatsache, dass die modernen Medien die »Botschaft« eines gleichwertigen Netzes von Zusammenhängen und Abhängigkeiten zum Ausdruck bringen, in dem der persönliche Ort über Aussichten und Perspektiven entscheidet:

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»Die elektrische Energie (...) macht es möglich, dass jeder Ort zum Zentrum wird, und verlangt keine massiven Anhäufungen« (McLuhan 1995, 66).

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Eine solche dezentrale Denk- und Wissensstruktur erfordert, dass Menschen aus ihrer Konsumenten-Haltung ausbrechen und sie sich selbst in den - immer wieder neu zu leistenden - Orientierungsprozess einbringen: »Das >Simultanfeld< elektrischer Informationsstrukturen stellt heute die Bedingungen und das Bedürfnis nach Dialog und Teilnahme wieder her« (McLuhan 1968, 193). Das Erkenntnis-Gewinnen ist für den einzelnen Menschen innerhalb dieses »Mosaiks« oder »Netzes« nicht mehr aus einer zentralen Perspektive heraus leistbar. Denken und Erkenntnis geschehen im durchschreitenden Verbinden einzelner Knoten und Teilbereiche - und dies immer wieder neu und auf u. U. anderen »Wegen«: »Heute streben unsere Wissenschaften und Denkmethoden nicht auf einen Standpunkt zu, sondern sie suchen zu entdecken, wie man einen Standpunkt umgehen kann; nicht die ausschließende und perspektivische Methode, sondern die Methode des offenen >Feldes< und des schwebenden Urteils wird angestrebt« (McLuhan 1968, 370).

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Der Beginn des »Hypertext-Zeitalters«

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Die beiden hier in der deutschen Übersetzung zitierten, maßgeblichen Werke Marshall McLuhans »The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man« und »Unterstanding Media: The Extensions of Man« sind im englischen Original 1962 bzw. 1964 erschienen. McLuhan bezieht sich auf die zu seiner Zeit gebräuchlichen elektronischen Medien wie Fernsehen, Kino, Radio oder Telefon. Umso interessanter ist, dass die eben geschilderten Ideen des kanadischen Medienwissenschaftlers gerade in der Konfrontation mit dem World Wide Web an Brisanz gewinnen.

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Eines der entscheidenden Kennzeichen des »Netzes der Netze« ist seine Hypertextualität, deren Kennzeichen und Auswirkungen eine verblüffende Analogie zum Mosaik- und Feld-Denken des elektronischen Zeitalters bei McLuhan aufweisen. Nicht nur das Internet als Zusammenschluss einzelner Computernetze, sondern auch die im World Wide Web publizierten Dokumente zeigen über ihre zahlreichen Text- und Bildanker -in der verwendeten Programmiersprache »HyperText Markup Language« (HTML) Hyperlinks oder kurz Links genannt - eine vielfältig verknüpfte Struktur: ein »Netz von Affinitäten und gegenseitiger Abhängigkeit«, wie McLuhan sagt. Indem der/die Nutzer/in - je nach individueller Interessenslage und intuitivem Vorgehen - von Dokument zu Dokument surft, erschafft er/sie sich die Struktur und Zusammenhänge der Teile selbst. Im Falle des Hypertextes »wird der Text in einem Umsetzungsprozess zwischen dem Leser und dem oder den (abwesenden) Autor/en, welche die entsprechenden Links in den Text eingebaut haben, erst hergestellt« (Bolder 43). Die lineare »Einbahnstraßen-Kommunikation" der Gutenberg-Galaxis wird von einem - in gewisser Weise - „dialogischen" Prozess des Strukturschaffens abgelöst. »Lesen ist nicht länger nur der Vorgang der Rezeption einer fixen, linear abzuarbeitenden Sequenz, sondern wird zu einem Prozess der mehrdimensionalen kreativen Interaktion zwischen Leser, Autor und Text« (Sandbothe 72).

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In den verschiedenen Formen der internet-gestützten Kommunikation kommen - in der Formulierung McLuhans - »Bedingungen und das Bedürfnis nach Dialog und Teilnahme« zum Ausdruck. Diese vorhandenen und zu schaffenden Verknüpfungen umfas-

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sen nicht nur die virtuelle Realität, sondern sie verbinden in vielfältiger Weise auch mit der realen Realität außerhalb des Netzes. Das kooperative Erschaffen virtueller Strukturen und Welten hängt von den realen Lebensräumen und Erfahrungen der Teilnehmenden ab - und wirkt auf diese zurück.

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Der Hypertext befähigt zur »Methode des offenen Feldes« - d.h. zur Möglichkeit, Perspektiven zu wechseln oder nebeneinander stehen zu lassen. Er »erscheint als geeignetes Medium, ein Argument als eine Folge von Bedingungen und möglichen Konsequenzen darzustellen. Die Konsequenzen können sich sogar gegenseitig widersprechen« (Bolter 41). Die bei McLuhan genannte Verbindung von oralen und nicht-verbalen Elementen zeigen Untersuchungen, die u. a. beim simultanen schriftlichen Kommunizieren im Chat eine »Versprachlichung« der Schrift feststellen. Man könnte hier auch von einer »Hypertextualität« zwischen Schrift und Sprache reden. »In der >Computer Mediated Communication< verflechten sich (...) Merkmale, die bisher als Differenz-kriterien zur Unterscheidung von Sprache und Schrift dienten. (...) Die Übergänge zwischen Sprache und Schrift werden fließend. (Sandbothe 71).

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Kirche - Das wahre »Netz der Netze«?

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Wir verstehen - so der Ansatz dieses Artikels - das »Medium als Botschaft«, das (auch) unabhängig von konkreten Inhalten etwas »zu sagen« hat. Deshalb möchte ich in einem nächsten Schritt der Frage nachgehen, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn wir die Kirche und ihr Handeln mit dem Internet konfrontieren. Dieses Gegenüberstellen ist selbst ein dialogischer Prozess, der alle beteiligten Partner betrifft.

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Zum einen lohnt es sich, die Frage nach der »Einheit in der Vielheit« (vgl. LG 23), die Verbindung zwischen Welt- und Ortskirche, mit dem Blick auf das World Wide Web neu aufzugreifen. Mit dem »Netzparadigma« konfrontiert, ist die Kirche ein »Netz der Netze«, die eigene Perspektiven in unterschiedlichen Umfeldern nicht nur ermöglicht, sondern - will sie die jeweiligen »Zeichen der Zeit« (und des Ortes!) wirklich ernst nehmen - zwingend fordern muss. Dabei gibt sie sich nicht der Beliebigkeit preis, sondern bindet sich theoretisch und praktisch an Schrift und Tradition als Prinzipien der Einheit zurück - was sich ganz konkret in ihrem Handeln und in ihrer eigenen Kommunikation zeigen soll.

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Legt man umgekehrt dieses »Kirchenparadigma« an das Internet an, so stellt sich die Frage, inwieweit die neue Form der Gemeinschaft im Internet tragfähig sind. Denn »die Kommunikation im Netzwerk definiert einen neuen sozialen Raum, in dem der Prozess der Fragmentierung manifest wird. Das Internet trägt zur Fragmentierung des Individuums auch dadurch bei, dass es einen neuen Begriff von Gemeinschaft zu entwickeln hilft« (Bolder 50). Dieser Ansatz, der jeden und jede zum ipsistischen Bezugspunkt der ihn betreffenden virtuellen und realen »Verlinkungen« macht, potenziert nicht nur die Individualisierung des bzw. der Einzelnen, sondern lässt verschärft die Frage nach dem Marginalisieren von Personen oder Gruppen stellen. Brisanz erhält dieses Ausgrenzen, weil das Internet dieses Ausgrenzen tendenziell verschleiert, indem es auf seine neu geschaffene - aber nur vordergründige! - Gemeinschaft hinweist.

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Das Auseinandersetzen mit dem »Kirchenparadigma«, das die Gemeinschaft aller in der Eucharistie - das vom Ausgestoßenen selbst begründete Mahl, das keinen ausschließt -zum Zentrum ihres Lebens macht, vermag die gefährlichen Potenzierungen des Netzes zu verwandeln und ermöglicht echte Gemeinschaft. Denn »im Unterschied zur electronica et oeconomica religio durchbricht und transformiert das eucharistische Geschehen das ausgrenzende Verhalten in den menschlichen Gesellschaften. Die Menschen einigen sich nicht in der Benennung, Verurteilung oder aber auch Beseitigung von Dritten. Sie versammeln sich um einen Ausgestoßenen

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selbst« (Niewiadomski 329). Gegen die Globalisierung des Netzes, die viele »außerhalb« zurücklässt, stellt die Kirche - nicht zuletzt aus ihrer Tradition als weltumspannende, nicht-kommerzielle Organisation - eine Globalisierung ohne Opfer. Diese will nicht vereinnahmen, sondern kann befreien.

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Will die Kirche diesen Mehrwert ihrer Botschaft heute vermitteln, so muss sie diese neue Art der Vernetzung - die umfeldabhängige Perspektiven zulässt, aber auch unbegrenzte Gemeinschaft ermöglicht - nach außen hin transparent machen. Dies ist für sie im Internet besonders wichtig, weil es - so haben wir eben festgestellt - bis zu einem gewissen Grad ekklesiologische Relevanz besitzt. Dass der grafisch und technisch beeindruckende Internetauftritt des Vatikans unter www.vatican.va nur innerhalb seiner eigenen Seiten verlinkt und keine Verknüpfungen zur »Welt« bzw. zu den Ortskirchen aufweist, mag Zufall sein - dieser Umstand ließe sich aber auch nach zugrunde liegenden Einstellungen und »Theologien« hinterfragen.

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Leben und Glauben miteinander »verlinken«

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Die Konfrontation mit der »Botschaft« elektronischer Kommunikation hat auch Folgen für das kirchliche Handeln in Gemeinde und Schule. Es geht dann nicht mehr um das »schlüssige« Aufzeigen und Erlernen von Glaubensinhalten - um die Textproduktion und -rezeption als linearen Vorgang. Pastoral und Katechese, die sich von den modernen Kommunikationsprozessen inspirieren lassen, stellen Räume und Milieus zur Verfügung, in denen persönliche Such- (!) und Glaubenserfahrungen im dialogischen Miteinander möglich sind. Sie sorgen dafür, dass Leben und Glauben auf unterschiedliche und vielfältige Weise - situativ und persönlich - miteinander »verlinkt« werden können. Damit verhindern sie, dass der Glaubensakt zur bloßen Textrezeption degradiert wird, und nehmen die verschiedenen Komponenten des »Ich glaube« in den Blick. Sie lassen den Eigenwert unterschiedlicher persönlicher Perspektiven und Erfahrungen zu - wie etwa die »lebensgeschichtlichen Wahrheiten« bei Ida Friederike Görres (vgl. Findl-Ludescher 315) -, schaffen aber gerade so den Raum für existenzielle Erfahrungen.

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Ein in unserem Zusammenhang erwähnenswertes Modell, das die »Monolog-Predigt« zugunsten eines dialogisch-offenen Vorbereitungs- und Rezeptionsprozesses aufbricht, thematisiert Gerhard Marcel Martin mit seinem Vorschlag, die Predigt als »offenes Kunstwerk« zu betrachten. Dieser Ansatz »räumte den Hörern selbst die Gelegenheit ein, ihre Situation in das Predigtgeschehen einzubringen. Es wäre dann nicht mehr primär die Aufgabe des Predigers, die Situation anderer und für andere zu klären« (Martin 49). Eine solche Predigt »könnte verschiedene Lesarten der Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung neben- und ineinanderstellen; der Hörer fände Anschluss an wirkliche und mögliche Erfahrung« (Martin 53). Zwischenfragen, Pausen, Imaginationsanleitungen, Meditationen, anschauliche Rede, Symbole, Erzählen fördern dabei die persönlichen Assoziationen und das Aneignen. Martin lässt sich zwar von Umberto Eco inspirieren, sein Vorschlag zeigt aber Berührungspunkte

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zum Ansatz Marshall McLuhans. Dieser spricht dem Künstler und seinem Schaffen die Fähigkeit zu, die Veränderungen der jeweiligen Zeit zu erfassen und darauf angemessen zu reagieren. Der Künstler ist für ihn »ein Mensch mit vollem und ganzen Bewusstsein« (McLuhan 1995, 109). Seine Werke lassen - wie die elektronischen Kommunikationsstrukturen - mehrere individuelle Interpretationen zu. Der gemeinsame Mittelpunkt, um dessen »Verstehen« es geht, »eint« diese verschiedenen Perspektiven.

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Hier wie auch in anderen Formen des pastoralen und katechetischen Handelns bleibt die individuell mögliche, ja erforderliche Such- und Glaubensbewegung nicht unverbindlich, sondern stellt sich unter den Horizont des angebrochenen Reiches Gottes, dessen erfolgter Beginn und ausstehende Vollendung in der Feier des Herrenmahls präsent sind. Diese umfassende Perspektive vermag die vielen Einzelperspektiven zusammenzufassen und zu verwandeln. »>Reich Gottes<, das in Anknüpfung und Widerspruch zu dieser Welt angesagt wird, ist ja nicht ein geschlossenes System gegen ein anderes, sondern ermöglicht Transzendierung der vorhandenen Welt« (Martin 5 if). Diese Aussicht heißt es auch im pastoralen und katechetischen Initiativen in den neuen Medien - die durch ihren meist assoziativen und »niederschwelligen« Charakter neue Chancen eröffnen, auf die Menschen zuzugehen - im Auge zu behalten und in die je persönliche Situation hinein einzufordern.

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 Inspiration und Kommunion

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»Sind Sie schon vernetzt?" - Diese Frage verstehe ich auch als Anfrage, die Herausforderungen der neuen Medien mit ihrer enormen Wirkungsmacht in der modernen Welt für Theologie und kirchliches Handeln anzunehmen. Dies entspricht meiner Meinung nach auch der Intention McLuhans, der davor warnt, sich - durch die Inhalte abgelenkt - unbewusst die »Botschaft« des jeweiligen Mediums aufzwingen zu lassen. Erst das Wahrnehmen und Reflektieren der medieneigenen »Botschaft« eröffnet Freiräume.

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Das »Inspirationspotenzial«, das in den neuen elektronischen Kommunikationsformen steckt, kann - wird es freigesetzt - einen wesentlichen Beitrag zur Standortbestimmung der Kirche »in der Welt von heute« leisten. Lässt sie sich wirklich darauf ein, dann kann sie - in einem nächsten und notwendigen Schritt - zum Sauerteig (vgl. GS 40) werden, der Welt und Menschen verwandelt. Diese Aussicht ist wesentlicher Auftrag, Motor und Ziel christlichen Handeln. Am Ende aller Zeiten - daran glauben wir Christen - werden wir »vernetzt« sein: nicht bruchstückhaft und fragmentarisch, nicht einsam, weil individualistisch; nein, im vollen und umfassenden Sinn - mit Gott und der Welt -, weil dies ein Gott, der sich den Letzten und Allerletzten zuwendet, ermöglicht.

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LITERATUR

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Bolter, Jay D., Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Mythos Internet, Frankfurt a.M. 1997, 37-55.

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Findl-Ludescher, Anna, Stützen kann nur, was widersteht. Ida Friederike Görres - Ihr Leben und ihre Kirchenschriften (Salzburger theologische Studien 9), Innsbruck 1999.

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McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle -Understanding media, Dresden 21995.

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McLuhan, Marshall, Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968.

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Gerhard Marcel Martin, Predigt als »offenes Kunstwerk«? Zum Dialog zwischen Predigt und Rezeptionsästhetik, in: EvTh 44 (1984) 46-58.

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 Niewiadomski, Jozef, Global village und Weltkirche, in: ThPQ 148 (2000) 25-32.

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Sandbothe, Mike, Interaktivität - Hypertextualität - Transversalität. Eine medienphilosophische Analyse des Internets, in: Stefan Münker / Alexander Roesler (Hg.), Mythos Internet, Frankfurt a.M. 1997, S.56-82.

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