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Wertarbeit

Wie die aktuelle Lyrikkritik poetische Qualität bemisst. Von Christian Metz

 

Wer den Status quo der Lyrikkritik beschreiben möchte, steht einer dreistelligen Ausgangskonstellation gegenüber. Erstens leben wir derzeit in einer Hochzeit der Lyrikkritik. Bereits im Frühjahr 2016 hat der Lyriker Jan Kuhlbrodt gemutmaßt: „Wahrscheinlich gab es noch nie so viel Lyrikkritik wie heute.“ Man kann dieser Einschätzung nur zustimmen, denn zum einen ist die Anzahl von Lyrikrezension in den analogen Medien über die Jahre konstant gebliebenen. Von einer Krise der Lyrikkritik in den Zeitungsfeuilletons kann nachgewiesener Weise keine Rede sein. Und zum anderen sind zu dieser lyrikkritischen Basis über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg jene Lyrikkritiken hinzugekommen, die tagtäglich auf digitalen Plattformen wie fixpoetry.com oder signaturen-magazin.de erscheinen. Das auffälligste Merkmal der neuen Lyrikkritik im Netz ist ihre durchaus heftige Streitkultur. Eines ihrer Lieblingsthemen ist: der vermeintliche Verfall der Lyrikkritik in den renommierten Zeitungsfeuilletons.[1] Meist werden diese Diskussionen mit großzügigem Verzicht auf gesichertes Wissen geführt. Was schwer zu ändern ist. Denn zur Ausgangskonstellation gehört zweitens: dass die wissenschaftliche Forschung zur Lyrikkritik bislang eine Randerscheinung ist. Man erkennt diesen Status quo pointiert an den einschlägigen Hand- und Grundlagen-Büchern zur Literaturkritik: Dort geht es zwar ab und an um die Kritik von Gedichten.[2] Aber der Begriff „Lyrikkritik“ selbst kommt nirgendwo vor. Geschweige denn, dass die Lyrikkritik als eigener, untersuchungswürdiger Gegenstand gehandelt würde. Wissenschaftler nehmen an den Debatten über den Zustand der Lyrikkritik nicht teil. Der Diskurs wird von Lyrikern, Journalisten und Kritikern selbst geführt. Von einer systematischen Forschung zur Lyrikkritik kann keine Rede sein.[3]

Aus der Diskrepanz von hart geführter Debatte und mauerblümchenzartem Dasein der Lyrikkritik-Forschung ergibt sich drittens ein Auftrag: Die wissenschaftlichen Untersuchungen zur Literaturvermittlung systematisch auf das Gebiet der Lyrikkritik im Allgemeinen und besonders auf ihren aktuellen Zustand zu erweitern, und zwar im Rückgriff auf die unterschiedlichsten, der Literaturwissenschaft zu Verfügung stehenden Methoden, die notwendig sind, um das unübersichtliche Dickicht Schritt für Schritt zu kartieren. Wenn die Wissenschaft bislang hinnimmt, „angesichts fehlender empirischer Daten“ nur „vorläufige Überlegungen zum heutigen Stand der Literaturkritik anstellen zu können,“[4] dann gilt es jetzt mit Hilfe des Innsbrucker Zeitungsarchivs, genau diese empirischen Daten zu  erheben und die eigenen Aussagen mit Zahlen zu untermauern.

Der vorliegende Beitrag selbst stellt zum einen grundsätzliche methodische Überlegungen an, wie sich das Feld der Lyrikkritik in Zukunft erschließen lassen könnte. Insofern bietet er Prolegomena zu einer künftigen Wissenschaft. Und er zielt zum anderen – gleichsam als erster Schritt in diese Zukunft – ins Zentrum der lyrikkritischen Arbeit. Denn es gibt keine Lyrikkritik, die ohne Wertung und damit ohne Wertarbeit auskommt. Die Lyrikkritik besteht im Kern aus einem Akt der Valorisierung oder Devalorisierung. Der Begriff „Wertarbeit“ bezeichnet demnach, was die Kulturökonomie – jüngst vor allem durch Reckwitz, zuvor unter anderem durch Karpik – zu verstehen gelehrt hat: dass im kulturellen Arbeiten (hier der Praxis des Kritisierens) sowohl eine ideelle als auch eine materiale Wertschöpfung (oder Entwertung) stattfindet.[5] Zwar legt die Kritik nicht den Kaufpreis des einzelnen Buches fest. Aber sie bestimmt, in welcher Höhe dessen symbolischer Wert festzulegen ist. Ob der Band unter der Masse der Neuerscheinungen als Besonderheit, als Singularität gehandelt wird. Und sie beeinflusst mit ihrem Urteil, welche Anzahl der vermeintlich herausragenden Bücher verkauft wird. Um die aktuellen Praktiken dieser Wertarbeit soll es im Folgenden gehen.

Um sowohl die methodischen Überlegungen anzustellen als auch herauszuarbeiten, wie die „aktuelle Lyrikkritik poetische Qualität bemisst“ ist der Untersuchungsgegenstand in diesem Fall eng abgesteckt: Der Fokus liegt ausschließlich auf Kritiken, die einzelne Gedichtbände besprechen.[6] Er beschränkt sich auf die Feuilletons von 21 überregionalen deutschsprachigen Zeitungen, und somit auf den Bereich „Print“, an dem sich weiterhin auch das Digitale orientiert, wenn auch mitunter nur, um sich davon abzusetzen.[7] Es wurden nur Besprechungen erfasst, die mehr als 500 Wörter umfassen. Und zwar, um sicher zu stellen, dass dort die Qualität der besprochenen Bände in einer Auseinandersetzung mit dem Buch bemessen und nicht nur behauptet wird. Die Beschränkung der Auswahl geht aus heuristischen Gründen noch weiter: Gegenstand der Untersuchung ist der Jahrgang 2016. Erstens, weil er der momentan aktuellste ist, der im Archiv als geschlossene Folge verfügbar ist. Zweitens, da 2016 für die Lyrikkritik ein besonders preis- und prestigeträchtiges Jahr war: In diesem Jahr erhielt Marcel Beyer den Georg Büchner Preis, nicht nur, aber vor allem auch wegen seiner Lyrik. Mit Marion Poschmanns Gedichtband „Geliehene Landschaften“ stand zum zweiten Mal – nach Jan Wagners Band „Regentonnenvariationen“ im Vorjahr – ein Gedichtband auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse. Und mit Nico Bleutge erhielt ein Lyriker und ausgewiesener Spezialist für Lyrikkritik den renommierten Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. Man kann an diesem Jahrgang daher neben den Routinen der Lyrikkritik auch ablesen, inwiefern Preise die literaturkritische Wertung von Lyrik beeinflussen. 108 Artikel umfasst dieses Korpus an Lyrikkritiken.[8]

Die folgende Argumentation vermisst das lyrikkritische Neuland in vier Schritten: Die Wertung von Lyrik im Feuilleton vollzieht sich, das ist mein erster Punkt, durch das schiere Faktum der Selektion: Wem wird zugesprochen, überhaupt besprechungswürdig zu sein? Man kann die Antwort auf diese Frage gewissermaßen abzählen. Zweitens stelle ich die lyrikkritische Maßarbeit anhand der exakten Lektüre und Analyse eines ausgewählten Beispiels vor. Drittens schließe ich dann von diesem Einzelfall auf die beiden maßgeblichen Verfahren, mit denen die lyrikkritischen Texte heute poetische Qualität bemessen. Viertens ziehe ich in ein knappes Fazit. 

 

I.

Im Fokus steht zuerst die Wertarbeit per Selektion. Das heißt: Alleine schon das Auszählen der Lyrikkritiken von 2016 eröffnet den Blick auf die Grundzüge der Qualitätsarbeit. Es zeigt, wo eine Kritik der Kritik tatsächlich anzusetzen hat. Drei wesentliche Aspekte stelle ich vor: Zuerst: Wo findet die Wertarbeit statt? Wo nicht? Dann: Wer bestimmt was wann besprochen wird? Es geht um den Einfluss von Verlagen, den Markenwert von Autoren sowie die Wirkung von Preisvergaben. Und drittens: Wer unter den Kritikern besitzt die Diskurshoheit? 

Wo lässt sich also die lyrikkritische Wertarbeit verorten? Die meisten Lyrikbesprechungen finden sich im Jahr 2016 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: nämlich 22. Dicht gefolgt von der „Neue Zürcher Zeitung“ mit 20. An dritter Stelle liegt die „Süddeutsche Zeitung“ mit 19 Kritiken. Bereits deutlich abgeschlagen dahinter folgt „Die Welt“ mit 12 Rezensionen, vor dem in Berlin ansässigen „Neuen Deutschland“ mit 10 Besprechungen. „Die Zeit“ rangiert mit 4 Besprechungen knapp über dem Niveau des österreichischen „Standard“, der „taz“, des „Freitag“ oder der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ – die alle 3 Besprechungen aufweisen.

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Abb. 1: Anzahl der Lyrikkritiken pro Zeitung 2016

Das heißt: die vier quantitativ führenden Feuilletons (FAZ, NZZ, SZ und „Die Welt“) machen mit 73 von 108 Rezensionen leicht mehr als zwei Drittel der Gesamtzahl von Kritiken aus:

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Abb. 2: Anteil am Gesamtvolumen der Lyrikkritiken 2016 

Dort findet ein lyrikkritischer Diskurs und damit Wertarbeit statt. Bei allen anderen bleibt es, zumindest was ausführliche Besprechungen angeht, bei Einzelfällen. Wer drei Gedichtbände pro Jahr bespricht, muss sich fragen lassen, ob er Lyrikvermittlung auf Sparflamme betreibt. Denn die implizite Wertung lautet ja: Lyrik interessiert uns und unsere Leser*innen nur in Ausnahmefällen. Die Folge dieser Zählung für eine Kritik der Kritik lautet: Wer – wie das neu gegründete „Netzwerk Lyrik e.V.“, eine Art Interessenvertretung der deutschsprachigen Lyrik, – die Situation verändern will, müsste, statt über die großen Vier zu klagen, bei den mittleren Zeitungen von der „Frankfurter Rundschau“ bis zur Funke Gruppe ansetzen. (Ein extrem schwieriges Unterfangen, dessen Schwierigkeiten schon alleine dann vor Augen tritt, wenn man sich den begrenzten Raum vor Augen führt, den diese Zeitungen der Literaturkritik insgesamt einräumen und wohl auch aus ökonomischen Gründen einräumen können.)

Schauen wir zweitens darauf, wer bestimmt, was besprochen wird, und damit auf den Einfluss von Verlag, Autor*innen-Renommee und Preisen: Tatsächlich dominiert 2016 ein Verlag das Feld der Lyrikbesprechungen. Von den 108 Kritiken befassen sich 33 mit Büchern von Suhrkamp. 17 Besprechungen beschäftigen sich mit Bänden, die beim Münchner Carl Hanser Verlag und seinen Töchtern erschienen sind: 50 von 108 Titel stammen aus diesen beiden Verlagen. (Sieben weitere Rezensionen fallen auf Rowohlt, vier auf Kiepenheuer & Witsch). Alle anderen, vor allem die zahlreichen Independent Verlage, gemeinhin gelobt für ihre hochwertige Lyrik,  kommen auf nicht mehr als zwei besprochene Bände. Sie sind also in aller Munde, finden auch Anerkennung in Feuilletons, aber mit dem Blick auf den Rezensions-Anteil bleibt ihnen weiterhin eine Nebenrolle vorbehalten.

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Abb. 3: Anzahl der Lyrikkritiken 2016 nach Verlagen

Es gibt zwei Möglichkeiten dieses Phänomen zu deuten: Zum einen könnte man auf eine Expertise-Delegation schließen. Die Lyrikkritik vertraut darauf, dass bei den renommierten Verlagshäusern auch die herausragende Qualität zuhause sei. Sie delegiert die Entscheidung über Qualität und Wertarbeit an die (großen) Verlage. Zum anderen muss man aber anerkennen: z.B. bei Suhrkamp tummeln sich 2016 mit Marion Poschmann (7 Besprechungen), Ann Cotten (6), Friederike Mayröcker (5), Zbigniew Herbert (3) oder Michael Krüger (3) starke, als Marken fest etablierte Autor*innen, an denen eine Feuilleton-Redaktion verlagsunabhängig kaum vorbei käme. Da hat Suhrkamp offenbar ein paar Dinge richtig gemacht. Und da entsteht eine nicht zu lösende Verflechtung: starke Autor*innen wollen zu einem Verlag, weil dieser so stark ist, dass ihre Qualität jedes Zweifels enthoben ist, sobald sie dort publizieren.[9]

Dieser Eindruck überlagert sich 2016 mit dem Kamin-Effekt des Leipziger-Buchpreises: Am häufigsten wurde in diesem Jahr nämlich Marion Poschmanns Gedichtband „Geliehene Landschaften“ besprochen. Ihr Buch stand als einziger Lyrikband auf der Shortlist für den Leipziger Preis. (Erneut kann man fragen: Weil er bei Suhrkamp erschien? Oder weil er von so großer Qualität war, dass er bei Suhrkamp erschien?) Halten wir jenseits der Verflechtung fest: nur ein Gedichtband kam in die engere Auswahl. Was suggeriert, dies sei der beste Lyrikband des Jahres.[10] Man sieht, wie öffentliche Aufmerksamkeit und Wertung in positiver Rückkopplung erneute Aufmerksamkeit erzeugt.[11] Zugleich erkennt man, wie diese Aufmerksamkeit zeitlich gebündelt wird. Alle Besprechungen zu Poschmann erscheinen zwischen dem 20. Februar und dem 14. März, direkt vor der Bekanntgabe der Preisträger. Direkt danach ist das Interesse an dem Band zwar komplett verpufft, aber immerhin wurde – zum zweiten Mal nach Jan Wagner im Vorjahr – wieder ein Lyrikbuch in allen Feuilletons zur gleichen Zeit diskutiert. Diese Aktualität und Punktualität steht im Kontrast zur Zeitstruktur, die bei allen anderen Gedichtbänden vorherrscht. Dort ziehen sich die Besprechungen über das gesamte Jahr hinweg. Dringlich ist die Wertarbeit der Lyrikkritik nur bei extremen äußeren Einflüssen (Leipzig eben). Sonst herrscht das Prinzip: Verschieben statt akut Diskutieren. Das Vorgehen lässt sich allerdings auch in konträrer Weise deuten: Andreas Reckwitz unterscheidet jüngst zwischen zwei Formen „sozialer Zertifizierung“ in der Ästhetisierungsgesellschaft: Zum einen eine kurzfristige impulsive, mitunter sogar unbewusste Form, mit der bemerkenswerte Ereignisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Übertragen auf die Lyrikkritik: Marion Poschmann kommt auf die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse. Auf einmal lesen alle Literaturkritiker*innen ihren Gedichtband und weil sie gleichzeitig auch noch ihren Essay „Mondbetrachtungen“ veröffentlicht, erhält auch dieser einen hohen Grad der Aufmerksamkeit, die kurz darauf aber wieder verpufft. (Bei Jan Wagner fiel diese plötzliche Dringlichkeit noch deutlicher ins Auge, weil sein Band bereits ein halbes Jahr auf dem Markt war, bevor er den Leipziger Buchpreis bekam. Aber erst dann dessen Lektüre akut wurde). Und zweitens die langfristige Valorisierung, mit der das kulturell Wertvolle festgelegt wird. Diese zweite Form ist, gemessen daran, dass in der Lyrikkritik sogar Bände aus dem vergangenen oder vorvergangenen Verlagsprogramm besprochen werden können, der Normalmodus der Lyrikkritik. Sie korreliert mit der topischen Warnung vor sogenannten „‚Unisono-Rezensionen’ (alle erscheinen am Tag vor Ablauf der Sperrfrist), was die Lebenszeit von Büchern verkürzt, weil Bücher nur solange als rezensierbar und damit im öffentlichen Diskurs als existent gelten, bis sie das neue Saisonprogramm ihrer Aktualität beraubt.“[12] Man könnte also argumentieren: im Gegensatz zum sensationsheischenden Besprechungshype bei Romanen großer Autor*innen – meist noch getriggert durch große Preisverleihungen – herrscht in der Lyrikkritik eine auf langfristige Expertenbewertung beruhende Wertarbeit. Allerdings müsste es für diese Einschätzung dann auch so eine Art langfristige Debattenkultur geben, und von der ist momentan nicht viel zu erkennen. Zumal die überregionalen Tageszeitungen die Lyrikkritiken meist überhaupt nicht einmal ins Netz einstellen, die Besprechungen also mit der Streitkultur, die im Digitalen herrscht, nicht vernetzt werden. Das deutet dann doch auf eine Diskussions-Unlust hin, die ihrerseits mit einer weiteren Beobachtung im Einklang steht: Verrisse sind unter den 108 Artikeln des Jahres 2016 eine Rarität. (Ich habe viereinhalb gezählt.)[13] Die großen Feuilletons halten sich auch in diesem Sinne aus der Streitkultur heraus, die im Digitalen herrscht. Was friedlich klingt, gefährdet aber die Debatten-Kultur. Es würde die Feuilleton-Kritik beleben und die Streitkultur im Netz sicher nicht verschlechtern, wenn beide in direkten Kontakt kämen. Wie erfolgreich sich die Lyrikkritik wider das Dringliche, Akute imprägniert hat, sieht man auch mit Blick auf Debüts. Sonst als das Neuste vom Neuen eine verlässlich heiße Währung des Feuilletons, erfahren Lyrikdebüts kaum Wertschätzung. Zum Debüt des Jahres avanciert man schon (oder auch gerade nicht?), wenn man wie Maren Kames 2016 zwei Besprechungen auf sich vereint.

Noch ein Blick auf die Wertarbeiter*innen selbst. Wer hat dort die Diskurshoheit? Die Spannbreite der unterschiedlichen Kritiker*innen ist groß. In der FAZ, in der NZZ und in der „Welt“ hat kein Kritiker mehr als zwei Lyrikrezensionen veröffentlicht. Es gibt dort also keine Monopolisten. Eine Ausnahmerolle kommt im Jahr 2016 allerdings Nico Bleutge zu: Er schreibt sowohl für die NZZ als auch für die SZ. Und bei letzterer prägt er mit 6 Rezensionen das Lyrikkritikprofil deutlich. Es gibt also doch einen starken Mann der Lyrikkritik.

Wenn ich das so sage, ist schon klar, dass ich auf die Genderkomponente in der feuilletonistischen Qualitätsarbeit hinaus will: 66 besprochene Arbeiten stammen von Dichtern, 42 von Dichterinnen. Nur die FAZ hat mit 12 Gedichtbänden, die von Autorinnen stammen, gegenüber zehn, die von Lyrikern verfasst wurden, tatsächlich eine Balance etabliert. Bei allen anderen dominieren klar die besprochenen männlichen Autoren. Noch gravierender klafft die Genderlücke auf der Seite der Kritiker*innen auseinander: 87 Besprechungen von männlichen Kritikern stehen nur 21 Rezensionen von Kritikerinnen gegenüber.

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Abb. 4: Anteil der von Kritikerinnen bzw. Kritikern verfassten Lyrikrezensionen 2016

Diese Verteilung deckt sich mit den Erkenntnissen, welche jüngst Veronika Schuchter im Blick auf die Literaturkritik im Allgemeinen vorgestellt hat.[14] Ob Frauen, tatsächlich nur weil sie Frauen sind, anders werten als Männer, sei dahingestellt. Aus der Analyse der Lyrikkritik 2016 ließ sich kein Aspekt ausmachen, mit dem weibliche Rezensenten werten, während er den männlichen Kollegen fremd sei. Spezifika einer dezidiert weiblichen oder männlichen Wertarbeit müssten erst noch erarbeitet werden. In jedem Fall ist die Diskrepanz zwischen der Anzahl der Lyrikkritikerinnen und Lyrikkritiker erheblich. Und so gravierend, dass man um eine möglichst große Vielfalt kritischer Stimmen zu erhalten, zum Beispiel in der Ausbildung darauf achten sollte, wen man vor allem für die Zukunft der Lyrikkritik ausbilden wird.


II.

Verlassen wir den Zahlenparcours. Schauen wir im zweiten Schritt, wie die Wertarbeit am konkreten Beispiel aussieht. Vielleicht kennen einige von Ihnen die Lyrikerin Birgit Kreipe. Eine großartige Autorin. Aber gemeinerweise stelle ich Ihnen hier nur wenige Zeilen aus ihrem 2016 erschienenen Band „SOMA“ vor:

„hallo, wir haben ein kind, das zieht den herbst an einer kordel
hinter sich her, geschundenes tiefdruckgebiet. ständiges schniefen
eine monstererkältung, wird er nie los. da wohnen unsichtbare
und schießen. sind seine freunde, unterhält er sich mit. immer
ist er in seinem nebelquadranten, als liefe der magische fernseher
der ihn verzaubert hat.“[15]

Starkes Kindheits-Porträt! Aber um was es hier geht, ist nicht das Gedicht selbst. Höchstens die Spannung, in die das Gedicht gerät, wenn es von einem renommierten Kritiker besprochen wird. Nico Bleutge, der Alfred Kerr-Preisträger des Jahres 2016, nimmt sich den Gedichtband vor und schreibt seinerseits:

„Birgit Kreipe tastet in ihrem zweiten Gedichtband der Erinnerung nach. So dicht schieben sich bisweilen die Bilder übereinander, dass man als Leser nur staunend zusehen kann, wie die Kinder vor ihrem „magischen Fernseher“.[16]

Was macht Bleutge hier? Man sieht am „magischen Fernseher“, dass die zuvor zitierte Kreipe-Passage als Material seiner Wertarbeit dient. Bleutge aber löst die Metapher als einziges Element aus Kreipes Kindheits-Szenario, setzt sie in einen vollkommen neuen Zusammenhang und nutzt sie dort für seinen eigenen Vergleich: Kreipe lesen sei, als sitze man als Leser vor dem „magischen Fernseher“.

Halten wir zuerst einmal fest: der Kritiker nimmt sich ein ordentliches Maß Freiheit, weil er an etwas Eigenständigem arbeitet: nämlich an seiner eigenen „Bewertungs-Erzählung“, die bei Bleutge über die Beschreibung von Kreipes Text durch das Zitat einen zusätzlichen Bezug zum Original behauptet. Das reicht, um den Titel dieses Essays eigentlich umbenennen zu müssen. Er müsste heißen: „Wertarbeit. Wie die aktuelle Lyrikkritik poetische Qualität bemisst und erzählerisch inszeniert.“[17]

Was die Kritik der Kritik zu leisten hat, ist demnach auch eine Erzähltext-Analyse. Quasi eine Narratologie und Semiologie der Lyrikkritik. Damit geht man methodisch einen entscheidenden Schritt über die bislang vor allem linguistisch basierte Analyse von Literaturkritiken hinaus. Es ist sinnvoll, buchlange Kataloge von rhetorischen Figuren zu erstellen, mit welchen Kritiken literarische Texte bewerten.[18] Aber es reicht alleine nicht aus: die semiologische Analyse will zusätzlich bestimmen, mit welchen Verfahren die Lyrikkritik in ihren Bewertungserzählungen arbeitet.

Was sieht man bei Bleutge unter der Maßgabe dieses Methodenwechsels? Zuerst: Nicht nur seine Erzählung und Kreipes Gedicht geraten in eine Spannung. Hinzu kommt ein abstraktes Modell, das Bleutge Kreipes Arbeiten unterlegt. Mit dem Satz: „Birgit Kreipe tastet der Erinnerung nach“ legt die Kritik einen Bezugsrahmen fest. Sie bestimmt damit, auf welcher Matrix Kreipes Lyrik verfährt. In diesem Fall auf der Vorstellung, wie man – oder genauer: wie Poesie mit Erinnerung umzugehen hat. Diese Rahmung impliziert zugleich, dass man es von vornherein mit (mentalen) Bildern zu tun hat. Denn Erinnerung funktioniert nun mal mit und in Bildern. Und eine erste Wertung vollzieht Bleutge auch schon: Kreipe hat angeblich eine bestimmte Art sich im Bilduniversum zu bewegen: sie tastet nach, anstatt – so das implizite Gegenmodell – einen souveränen Überblick über das Material zu simulieren. Tasten statt Wissen – das leuchtet dem Kritiker als Bewegungsform ein. Bleutges neutrale Beschreibung enthält eine unausgesprochene Wertung. Wäre das nicht der Fall, brauchte er nur ein Wort, um Kreipes Verfahren abzuwerten. Stellen Sie sich den Satz vor: „Birgit Kreipe tastet – hilflos – der Erinnerung nach.“ Man sieht deutlich: auf dem Vergleich mit dem Bezugsmodell „der Erinnerung“, auf der Vorstellung, wie der Poet in Relation zu diesem Verfahren vorgeht (bildbewusst, tastend), basieren Wertarbeit und Urteil. Das heißt aber auch: Anhand der vom Kritiker selbst gesteckten Maßstäbe wird geurteilt. Ich weise nur am Rande darauf hin: Kreipes Passage „Hallo wir haben ein Kind“ ist alles andere als ein Erinnerungstext! Bleutge erst eröffnet den Erinnerungs-Horizont, indem er ihn zugleich als Maßstab setzt.

Was kann man qua Close Reading noch über die Wertarbeit sagen? Im zweiten Schritt – das Bezugsmodell bleibt die Erinnerungsarbeit – schiebt Bleutge jetzt auch auf der Textoberfläche manifeste Qualitätsurteile nach: „So dicht schieben sich bisweilen die Bilder übereinander, dass man als Leser nur staunend zusehen kann, wie die Kinder vor ihren magischen Fernsehern.“ Aus drei Elementen setzt sich seine Wertung zusammen. Zuerst aus der Bemessung der Dichte der sich überlagernden Bilder. Das „so dichte“ ist bei der Wertung eines Gedichts und somit der Dichtung eindeutig positiv konnotiert. Die Wertung geht von der Prämisse aus, dass geglückte Lyrik sich durch eine besondere Intensität sprachlicher Fügungen auszeichnet.

Die Rede von der Bild-Intensität korrespondiert mit dem zweiten Element des Urteils: Die Bilddichte bringt den Leser zum Staunen. Das Staunen ist eine bemerkenswerte Kategorie. Mit ihr befinden wir uns jetzt auf dem Feld der „Ästhetischen Erfahrung“, die durch sinnlichen Kontakt (intensio, dichte) vermittelt wird:[19] Wenn Kreipe im Gedicht der Erinnerung nachtastet, dann berührt ihre Lyrik zugleich den Leser sanft, um ihn in Staunen zu versetzen. Das Staunen gehört zugleich in den Bereich der so genannten „Abweichungs-Ästhetiken“: Es wird ausgelöst durch überraschende Variationen: „so dicht“, dass nicht mehr normal. Als Reaktion auf Abweichungen ist das Staunen eine sogenannte „vermischte Empfindung“. Das Hin und Her der Emotion (zwischen Lust und Unlust) korrespondiert mit jener Bewegung, mit der man zwischen Wissen und Nichtwissen pendelt. Und in diesem Wechselspiel gelangt man zu neuen Bildern und Einsichten. So wie man eben – nach Bleutges Konstruktion – vor dem Bildschirm des Fernsehers sitzt, der Einblicke in eine andere Welt gewährt. Nur, dass es sich hier – noch mehr Überraschung und Staunen – explizit um einen magischen Fernseher handelt. Und was erstaunt, ist gut!

Damit sind wird punktgenau beim dritten Element der Wertarbeit angelangt: bei dem hervorstechenden TV-Vergleich. Bleutge macht den „magische Fernseher“ als Zitat zum Garanten von Kreipes poetischer Qualität. Mit ihm nämlich bescheinigt der Kritiker der Lyrikerin, dass ihr Bildverfahren, das sie gegenüber ihren (imaginären) Lesern entfaltet, exakt dem Bildverfahren entspricht, das sie auf der inhaltlichen Ebene ihrer Gedichte einführt. Das Gedicht reflektiert angeblich sein eigenes Verfahren. Und diese Reflexionsleistung gilt ihrerseits als höchste Qualität lyrischer Texte. Das wiederum hat auch seine Gründe darin, dass in unserer Kultur der Gegenwart die Reflexion und Reflektivität als höchste kulturelle Leistungen geadelt werden: Wer will heute nicht reflektiert sein?[20] Man könnte daher sogar sagen: Was Bleutge hier – im Anschluss auch an Roman Jakobson – inszeniert, ist eigentlich die Übertragung einer hochgeschätzten menschlichen Eigenschaft auf einen Text. So wie der gebildete Mensch sich selbst reflektiert, so reflektiert auch der besonders fein gebildete Text sich selbst. Geglückte Anthropomorphisierung als Qualitätsmaßstab.

Es geht hier nicht darum, das Qualitätsurteil von Bleutge zu diskreditieren. Er ist, selbst ja auch renommierter Lyriker, fraglos einer der versiertesten und klügsten Kritiker der Gegenwart. Umgekehrt kann man festhalten: Seine Kritiken sind so genau gearbeitet, dass sie sich vor einer exakten Lektüre im Zuge eines Close Readings in keiner Weise ängstigen müssen. Da sie so fein und genau gearbeitet sind wie literarische Texte, kann man sie auch in eben jener Genauigkeit lesen, wie das beispielsweise bei einem Gedicht angemessen wäre. Es geht bei diesem Ausschneiden einer so schmalen Passage aus ihrem Kontext also vielmehr darum, aufzuzeigen, mit welchen Verfahren und im Rückgriff auf welche kulturellen Versatzstücke die Bewertungserzählungen ihr Urteil in Szene setzen und legitimieren. Und es geht darüber hinaus darum zu zeigen, dass sie hierbei eine historische Signatur tragen: Sowohl das Staunen als auch das Ideal der Reflexion unterliegen historischen Konjunkturen und waren nicht immer als Gütesiegel zu verwenden.  

 

III.

Wechseln wir noch ein letztes Mal die Ebene der Untersuchung. Wenn man den weiten Bogen der 108 Rezensionen überblickt, erscheint Bleutges Vorgehensweise nicht mehr als ein Einzelfall. Vielmehr beinhaltet dessen knappe Passage in nuce die beiden wichtigsten, ineinander verschränkten Verfahren, welche die gegenwärtige Wertarbeit der Lyrikkritik auszeichnen. Die Lyrikkritik steht ja vor einer gattungsspezifischen Herausforderung. Sie hat es meist mit einer Vielzahl vollkommen singulärer Texte zu tun, die sie bewerten muss. Um trotz des disperaten Materials einen Maßstab für die Qualität einzuziehen, greift sie in ihren Bewertungs-Erzählungen auf die eben bei Bleutge herausgearbeitete Hilfskonstruktion zurück. Die Kritiken entwerfen jeweils ein abstraktes Modell, das einrahmt, was die Lyrik vermeintlich tun kann oder tun sollte. Dazu genügt meist ein Satz wie: „Birgit Kreipe tastet der Erinnerung nach“. Oder „Ihre Dichtung hat Poschmann stets als eine Schule des Sehens verstanden, als eine Dichtung der visuellen Erfahrung, in der die Modi ästhetischer Wahrnehmung gründlich erforscht werden.“[21] Das abstrakte Modell – bei Poschmann die optische Wahrnehmung – fungiert als Vergleichsmatrix, die den Rahmen setzt, was von der Lyrik vermeintlich zu erwarten sei. Mit dem Heranziehen solcher Matrices konstruieren die Kritiken einen Maßstab und folgerichtig auch die behauptete Qualität. Will man die Wertarbeit der Lyrikkritiken ihrerseits auf ihre Qualität überprüfen, stellt sich daher als eine der Grundfragen: sind die Matrices, die sie zum Vergleich heranführen, historisch adäquat? Sind sie – wie das Modell von „Erlebnis“ und „Erfahrung“, das in der deutschsprachigen Lyriktradition an die Zeit um 1800 gebunden ist – nicht vielleicht längst und aus guten Gründen ad acta gelegt worden? In welcher Weise ist sich der einzelne Rezensent darüber im Klaren, in welchem Bezugsrahmen er sich jeweils bewegt? Ein Autor wie Nico Bleutge zitiert mit seinem Modell von Erinnerung ja einen Bestandteil der (nach Innen gerichteten) Erfahrungs- und Erlebnislyrik. Aber bei ihm handelt es sich gerade um kein naives Modell von Erinnerung, sondern um eine sprachphilosophisch gleichsam aktualisiertes Konzept von „Erlebnis“, in dem das Subjekt nur begrenzten Zugriff auf seine Erfahrung hat. Bleutges Vergleichs-Erzählung zeugt, weil er weiß, in welchem Bezugsrahmen er sich bewegt, von höchster lyrikkritischer Qualität.

Zu diesem Vergleich am „Modell“ gehört nun – zweitens – für die Lyrikkritik, auch das hat Bleutges kurze Sentenz gezeigt, die Abweichung von vornherein zum Prinzip: Normale Erinnerung, respektive Wahrnehmung mögen auf eine bestimmte Weise verlaufen, in der Poesie aber gehen sie stets um eine Nuance anders vonstatten. Man kann diese Standardisierung der Abweichung in der Wirkungsästhetik deutlich sichtbar machen, wenn man an dieser Stelle auf die Methoden der digitalen Datenanalyse zurückgreift. Das ist nach der Vermessung des Feldes und dem Close Reading, die dritte Methodik, die zur Erforschung der Lyrikkritik heranzuziehen ist. Begriffe wie das „Vollkommene“ oder das bruchlos „Schöne“ kommen in den Rezensionen des Jahres 2016 nicht mehr als positive Werturteile vor. Exemplarisch hierfür kann man dies am Eingangssatz von Roman Buchelis Kritik zu Arnim Senser ablesen. Bucheli zitiert nämlich den Autor mit: „Es gebe im Leben wie in der Kunst keine Vollkommenheit.“[22] Ebenso spielen andere  Klassiker ästhetischen Urteilens wie das Erhabene oder Hässliche oder auch das Graziöse so gut wie keine Rolle mehr. (Die Anmut erhält eine einzige Erwähnung im Korpus). Umgekehrt sind aber auch noch längst nicht die Bewertungskriterien in die Lyrikkritik eingezogen, die in der Populärkultur weit verbreitet sind. Keine Spur von coolen Versen, geilen Rhythmen, von camp, trash, niedlich oder süß. Immerhin „krass“ kommt zweimal vor.

Stattdessen inszenieren die Kritiken die Mittellage der zuvor genannten Abweichungs-Ästhetik: Die Vergleichsmatrix wird nicht perfekt erfüllt, sondern variiert und vermag genau auf diese Weise, den Rezipienten zu berühren. Genau darin machen die Rezensionen wiederum die ästhetische Qualität der Lyrik fest. Daher wimmelt es in den Wertungspassagen der Kritiken von der Faszination (25 Mal kommt sie vor), von der Irritation (11 Mal), dem Überraschen (19 Einträge) oder dem Spannenden (12 Treffer). Hinzu kommen das Geheimnisvolle (12), Rätselhafte (12) oder Wunderbare (20).

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Abb. 5: Vokabular des Urteilens in Lyrikkritiken 2016 (Häufigkeit)

Solche gemäßigte Abweichung vom Normalen, die man von guter Lyrik erwartet, soll ohne Anstrengung von sich gehen. Sie soll irritieren, aber nicht verstören oder vollständig aus der Bahn werfen. Auch zu große Mühe darf sie nicht kosten. Deshalb wird das „Leichte“, „Leichthändige“ oder gar „Leichtfüßige“ (insgesamt 24 Mal) besonders gelobt. Markenzeichen dieser qualitativen Vermessung sinnlicher Erregungs-, Reiz- und (gemäßigter) Rührung-Ästhetik ist daher folgerichtig das Erstaunliche, das mit dem Staunen oder Bestaunen insgesamt 32 Mal die Qualität der Lyrik garantiert. Und ich wage die These, dass die vermeintlich so kühle Reflexion mit ihren 26 Auftritten genau in dasselbe Register gehört. Denn sie besteht darin, dass der Text sich im Zuge seiner Selbstbeobachtung seinerseits staunend zusieht.

 

IV.

Ziehen wir nach diesem eng abgesteckten Durchgang durch einen einzelnen Jahrgang der feuilletonistischen Lyrikkritik ein knappes Fazit. Der Impuls für die Forschung zur Lyrikkritik ging davon aus, als Wissenschaft an den Debatten in der Gegenwartslyrik teilhaben zu wollen. Da die dort etablierte Streitkultur, die weithin von subjektiven Einschätzungen und heftigen Erregungswellen geprägt ist, soll mit Hilfe gesicherter Daten, empirischen Methoden und fundierten Einsichten auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die Forschung zur Lyrikkritik steht allerdings noch am Anfang. Aber immerhin: wir können anhand der empirischen Daten und mit der Auszählung der Kritiken die Konturen des aktuellen lyrikkritischen Feldes sowie ihrer Valorisierungsarbeit bestimmen und bekommen deren Stärken und Defizite in den Blick. Grundprinzip der praktischen Wertarbeit bleibt in den Zeitungen die Selektion.[23] Lyrikkritik ist in den Zeitungen zuerst eine Frage der Platzvergabe. Man macht es sich jedoch zu einfach, wenn man nur fordert, dass in den überregionalen Feuilletons endlich mehr Lyrik besprochen werden sollte. Die Situation dort ist nämlich alles andere als krisengeschüttelt. Aber die Stichworte Diskurskonzentration, Entscheidungs-Delegation, Streitimprägnierung, Gender-Gap zeigen zugleich auch, dass man mit gezielten Maßnahmen entscheidende Veränderungen in der Praxis der Valorisierung anstreben kann. Eine der vorrangigen Aufgaben würde in diesem Fall darin bestehen, den lyrikkritischen Diskurs der Feuilletons mit dem digitalen Diskurs zu verflechten: Wenn man die Lyrikkritiken an einem prominenten Ort ins Netz stellen würde, anstatt sie überhaupt nicht ins Digitale einzuspeisen, wäre es dann ausgeschlossen, dass eine qualitativ hochwertige Debatte entsteht? Könnte diese Debatte nicht sogar ein Publikum generieren, das es bislang so noch gar nicht gibt? (Inzwischen erscheint eine Auswahl der Kritiken, wenige Tage nach ihrer Publikation in der Zeitung, auf buecher.de. Kein Debatten-Ort, der Aufmerksamkeit bündelt, aber immerhin sind die Kritiken jetzt auch im Digitalen präsent.)

Anhand der einzelnen Kritiken lässt sich zum Zweiten mit Hilfe der semiologischen und narratologischen Analyse exakt sehen, dass die Praxis der Kritik in der Konstitution eines Besprechungs- und Bewertungs-Erzählung besteht (narrative Qualitätskonstruktion). Aus der exakten Beobachtung, wie die einzelne Lyrikkritik verfährt, lassen sich wiederum Qualitätsmerkmale formulieren, wie gut oder schlecht eine einzelne Rezension ihre Wertarbeit verrichtet. Eine geglückte Kritik zeichnet sich zuerst dadurch aus, dass sie für den besprochenen Band eine angemessenes methodische Vergleichsmodell heranzieht: Es bringt nichts Erlebnislyrik, die noch immer weit verbreitet ist, an den Vorstellungen einer sprachkritischen Avantgarde zu vermessen. Aber zweitens zeichnet sich eine hervorragende Wertarbeit dadurch aus, dass sich die Kritik darüber im Klaren ist, dass die Erlebnislyrik um 1800 eben nicht mehr ein angemessener Maßstab für heute sein kann. Es sollte eine Reflexion oder zumindest eine Diskussion darüber geben, welche methodischen Grundlagen einer heute aktuellen Lyrik noch unterliegen sollten: Kann man denn tatsächlich noch einer Ausdrucksästhetik à la Goethe heute so ohne Weiteres als Grundlage für die Beurteilung von Lyrik heranziehen? Darüber müsste in der Lyrikkritik zumindest diskutiert werden. Im Fall von Bleutges Kreipe-Kritik unterliegt der Bewertung ein poststrukturalistisch geprägtes Modell von Erinnerung. Dem einzelnen Gedicht, aus dem das schillernde Fernseh-Zitat stammt, mag das unangemessen sein. Insgesamt aber erscheint der methodische Horizont, vor dem Bleutge Kreipes Lyrikband vermisst und bewertet, als überaus treffend. Auf dieser Grundlage wiederum erweist sich Bleutge als virtuoser und bis in die rhetorischen Feinheiten überaus genau verfahrender Bewertungs-Erzähler. Vielleicht muss man sich im Zuge einer Kritik der Kritik fragen, ob ein solches Close Reading überhaupt erst auf diesem Niveau der Kritik angemessen funktionieren kann. Andererseits müsste gerade dieses Verfahren in anderen Fällen die Schwächen der Kritik klar zutage bringen. Auch auf diesem Feld lassen weitere Fragestellungen anschließen. Beispielsweise ist zu analysieren, welche Rolle bereits die Titel und Untertitel, Bilder und Bildunterschriften aus der Sicht der Leser für die Bewertung von Literatur spielen. Dieser paratextuelle Rahmen um die einzelne Kritik stammt meist nicht vom Kritiker selbst, sondern wird von der Redaktion (um die fertige Kritik) gesetzt. In der Lektüre aber dürfte die Aufmachung eine wichtige, vorentscheidende Rolle spielen, ob ein Zeitungsleser der Rezension und damit dem besprochenen Buch überhaupt seine Aufmerksamkeit schenkt. Eine Ausweitung der Close-Reading Methode über die in diesem Beitrag vollzogene Betrachtung einer exemplarischen Kritik ist selbstverständlich ebenfalls notwendig. Erst dann lässt sich urteilen, welche Rahmen die einzelnen Kritiken tatsächlich setzen, um ihre Bewertungserzählung zu etablieren. Welche Muster gegenwärtig von besonderer Relevanz sind? Oder ob die Kritiken jeweils individuelle Bewertungshorizonte einziehen? Zu fragen ist auf dieser Ebene der Lyrikkritik-Forschung ebenfalls, ob es in den Erzählungen eine bestimmte Inszenierung der Erzählstimme und -haltung gibt? Und welche Charakteristika die Narrative insgesamt auszeichnen. Darüber hinaus können wir – drittens – mit Hilfe der digitalen Analyse erkennen, wie weit die Verfahrensweisen verbreitet sind und die Signatur einer bestimmten Zeit bilden (Hilfskonstruktion und Staunen). Was wäre von diesem Feld aus in Zukunft zu tun? Zum einen die Analyse auf die digitalen Lyrikkritiken ausweiten: Wird dort im Jahr 2016 auf dieselbe Weise verfahren? Die Verteilung der Titel – und die Abhängigkeit von den Großverlagen – fällt schon deshalb bei den führenden Plattformen anders aus als im Zeitungsfeuilleton, weil die Plattformen in viel größerer Dichte auf Lyrik spezialisiert sind und in höherer Intensität Neuerscheinungen besprechen können. Auch hier jedoch wird der zeitliche Rhythmus durch äußere Einflüsse wie die Nominierung zum Leipziger Buchpreis geprägt: Marion Poschmanns Gedichtband beispielsweise wird auf „fixpoetry.com“ am 14.3.2016 besprochen und dort unter der Rubrik „nominiert für den Leipziger Buchpreis 2016“ publiziert. Auf „signaturen-magazin.de“ erscheint zunächst eine Besprechung von „Geliehene Landschaften“ am 5.4.2016. Eine Woche später bespricht derselbe Kritiker, Jan Kuhlbrodt, den Essayband „Mondbetrachtung“. Den Effekt der Preisverleihung, die Aufmerksamkeit zeitlich zu bündeln, gilt also für die analogen wie die digitalen Medien gleichermaßen. Ann Cottens „Verbannt“ wird auf „fixpoetry.com“ zuerst rezensiert und dann noch einmal in einem eigenen Essay besprochen. Auch im „signaturen-magazin“ erhält er gleich zwei Kritiken, von zwei unterschiedlichen Kritikern (am 3.4.2016 ebenfalls von Jan Kuhlbrodt und am 9.6.2016 und von Meinolf Reul). Es gibt also Titel, denen eine besondere Behandlung zugemessen wird. Die Stars des Netzes aber decken sich durchaus mit der Auswahl von Autor*innen im Feuilleton überregionaler Zeitungen. Der Mayröcker-Band hingegen findet auf „signaturen-magazin.de“ keine Beachtung. Es ist also keineswegs so, dass dort überhaupt keine Selektion betrieben würde. Dort findet nur eine andere Art der Auswahl statt. Auch auf den beiden führenden Plattformen sind übrigens Verrisse eine Seltenheit. Die Debatte erhitzt sich vielmehr erst, jenseits der Besprechungen in ausufernden Insidergesprächen – vor allem auf „Facebook“ ausgetragen. Zum anderen ist die Untersuchung diachron zu erweitern: Welche Maßstäbe und Verfahren der Wertarbeit waren in der Lyrikkritik der 1990er, 1980er oder zu noch früheren Zeiten maßgeblich? Hat es große Veränderungen in der Art des Erzählens gegeben? Welche Vergleichsmatrices wurden beispielsweise in den 60er Jahren als Bewertungsmaßstäben herangezogen, als zum einen das unmittelbar Politische zum anderen aber auch das Avantgardistische noch eine andere Rolle spielten? Und inwiefern trägt die Lyrikkritik zu ihrer jeweiligen Zeit, Diskussionen und Konflikte aus, die auch außerhalb der Literatur von höchster Relevanz sind? Es gibt noch zahlreiche Fragen zu beantworten. Aber vielleicht konnten diese ersten Schritte einer Kritik der Lyrikkritik ja eine weiterführende, wissenschaftliche Auseinandersetzung anstoßen.

 

Christian Metz, 28.09.2018
C.Metz@lingua.uni-frankfurt.de

 


Anmerkungen:

[1] Dass diese These nur ein Topos ist, der sich mit den empirisch erhobenen Daten über die Gegenwart nicht deckt, habe ich bereits an anderer Stelle nachgewiesen, vgl. Christian Metz: Fünfter sein. Vergessen wir nicht die Lyrikkritik. Zum Status quo der Lyrikkritik. Es handelt sich beim heutigen Krisengerede um eine „optische Täuschung“. Wodurch ist sie motiviert? Das Krisenempfinden ist integraler Bestandteil literaturkritischer Arbeit im deutschsprachen Raum, und zwar unabhängig von der realen Situation. Dazu allgemein Stefan Neuhaus: Vom Anfang und Ende der Literaturkritik. In: Andrea Bartl und Markus Behmer (Hrsg.): Die Rezension. Aktuelle Tendenzen der Literaturkritik, Würzburg 2017, S. 33–60.

[2] Vgl. Hans-Herbert S. Räkel: Lyrik. In: Edmund Schalkowski (Hrsg.): Rezension und Kritik. Konstanz 2005, S. 221–236.

[3] Vgl. Thomas Anz, Rainer Baasner (Hrsg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. München 2004; Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart 2001.

[4] Stefan Neuhaus: Vom Anfang und Ende der Literaturkritik, S. 34.

[5] Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017, S. 331; Lucien Karpik: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen. Frankfurt am Main 2011.

[6] Darüber hinaus gibt es auch andere Formen der Lyrikkritik wie Autorenporträts, Berichte von Preisverleihungen, abgedruckte Laudationes oder die Besprechung einzelner Gedichte, wie sie beispielsweise die „Frankfurter Anthologie“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ seit Jahren auf höchstem Niveau betreibt. Alle diese Formen bleiben im Rahmen dieser Untersuchung ausgeklammert.

[7] Zu dieser Orientierung der digitalen Lyrikkritik am Feuilleton überregionaler Zeitungen vgl. Christian Metz: Fünfter sein. Dort habe ich ebenfalls gezeigt, dass – anders als beispielsweise auf dem Gebiet von Romanen – sich schon rein quantitativ bislang keine Lyrikkritik auf Plattformen wie Amazon.de oder auch in Buchblogs ausgebildet hat. Es gibt dort schlicht keine Kundenrezensionen. Wenn überhaupt, dann treten sie meist erst Jahre nach der Publikation und auch nach den Besprechungen in den Feuilletons auf. Daher stimmt für die Lyrikkritik auch nicht, was für die Romankritik zutrifft: Die „schnelle, meist kurze Information“ der Leser laufe inzwischen über Kundenrezensionen und selbst organisierte Bücher-Webseiten. Die feuilletonistische Kritik könne sich daher auf andere Aufgaben und Funktionen konzentrieren (vgl. Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik, S. 171). Das ist in Sachen Lyrikkritik explizit nicht der Fall.

[8] Der Datensatz umfasste ursprünglich 113 Artikel. Fünf dieser Beitrage aber mussten händisch aussortiert werden, da sie insofern keine lyrikkritische Relevanz hatten, als sie sich – beispielsweise trotz des Wortes „Verse“ im Titel – nicht mit Gedichtbänden befassten. Vgl. dazu auch die zugehörige Bibliographie des Innsbrucker Zeitungsarchivs.

[9] An dieser Stelle zeigt sich nun auch in konkreten Zahlen deutlich, warum es im Fall der Lyrikkritik bislang nicht notwendig ist, die Kundenrezensionen auf einem Portal wie „Amazon“ prominent in die Untersuchung einzubeziehen. Tatsächlich kommt ihnen nur eine höchst marginale Rolle zu: Marion Poschmann hat im Jahr 2016 nur eine einzige Besprechung auf „Amazon.de“ erhalten, die vom 25. Juni 2016 stammt und damit von einem Zeitpunkt, an dem alle Feuilletons den Band längst schon besprochen hatten. Bis heute sind zwei Besprechungen hinzugekommen. Eine vom 22. Februar 2017, also über eine Jahr nach der Veröffentlichung, eine vom 25. Mai 2017. Ann Cottens Band, im Feuilleton am zweithäufigsten besprochen, hatte im Jahr 2016 keine einzige Kundenbesprechungen auf „Amazon“ zu verzeichnen. Inzwischen sind zwei Besprechungen hinzugekommen. Eine sehr elaborierte vom 6. Oktober 2017 (eineinhalb Jahre nach der Publikation), eine vom 28. März 2018, die in Versform über das Verbrennen des Buches sinniert. Friederike Mayröcker, am dritthäufigsten im Feuilleton rezensiert, hat bis heute keine einzige Besprechung erhalten.

[10] Die Verleihung des Georg Büchner Preises, die sich auf das bisherige Gesamtwerk eines Autors bezieht, hat in diesem Jahr keinen Effekt auf die (erneute) Besprechung von Gedichtbänden: Kein einziger Gedichtband von Marcel Beyer wird noch einmal gesondert betrachtet. Interessant wäre der aufmerksamkeitsökonomische Effekt, wenn die Auszeichnung mit einer Publikation des Autors zeitlich koinzidieren würde.

[11] Dieser Rückkopplungseffekt innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie bedeutet noch nicht, dass das Buch den berühmten „tipping point“ erreicht. Also jenen Moment, in dem die vielen kleineren Faktoren mit einem Schlag dafür sorgen, dass die Verkaufszahlen rasant ansteigen und sich der Absatz geradezu zu verselbständigen scheint.

[12] Diese Einschätzung vertritt exemplarisch Michael Hametner: Nachdenken über Literaturkritik und die Tätigkeit als Literaturkritiker. In: Heinrich Kaulen u. Christina Gansel (Hrsg.): Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung. Göttingen 2015, S. 325–336, hier S. 330.

[13] Vgl. Christopher Schmidt: Das Kuschelkartell. Im um sich selbst kreisenden Literaturbetrieb führen Jasager und Gute-Laune-Kritiker das Wort – zum Nachteil von Lesern und Autoren. Ein Plädoyer für mehr Kampfgeist aus Anlass der Frankfurter Buchmesse. In: Süddeutsche Zeitung vom 5.10.2013. Aus wissenschaftlicher Perspektive dazu Jan Süselbeck: Verschwinden die Verrisse aus der Literaturkritik? Zum Status polemischer Wertungsformen im Feuilleton. In: Heinrich Kaulen, Christina Gansel (Hrsg.): Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung. Göttingen 2015, S. 175–195. Auch bei Süselbeck heißt es erneut: Die Anzahl der Verrisse „dürfte nur durch aufwändige empirische Erhebungen zu klären sein, die hier nicht geleistet werden können“ (ebd., S. 182).

[14] Vgl. Veronika Schuchter: Männer werten anders. Frauen auch. Die Literaturkritik als Gender-Diskurs. Vgl. dazu jüngst auch die Beiträge auf Deutschlandfunk und in der Tiroler Tageszeitung.

[15] Birgit Kreipe; Soma. Gedichte. Berlin 2016, S. 29.

[16] Nico Bleutge: Ponys wandern durchs Gedächtnis. Birgit Kreipe zeichnet in ihren Gedichten Erinnerungsbilder aus der Kindheit. In: Neue Züricher Zeitung, Rubrik Feuilleton, vom 11.11.2106, S. 24.

[17] Auf den Charakter der Kritik als Erzählung haben bereits mehrere Studien hingewiesen. Zunächst George Steiner, der von der Literaturkritik als „Erzählakt“ und als „Erzählung über die Erfahrung von Form“ spricht. Literaturkritiker „erzählen Geschichten des Denkens“, so schließt er ab (vgl. George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt. Mit einem Nachwort von Botho Strauß. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. München 1990, S. 118). Eine zweite Facette der Kritik-Erzählung macht Baumgarten stark, indem er sie als „Argumentationserzählung“ bezeichnet (vgl. in Norbert Miller u. Dieter Stolz (Hrsg.): Positionen der Literaturkritik. Köln 2002, S. 161). Zuletzt hat – aus schreibpraktischer Perspektive – auch Brigitte Schwens-Harrat definiert: „Literaturkritiken sind Erzählungen“ (Dies.: Literaturkritik, S. 116).

[18] Vgl. Lianmin Zhong: Bewerten in literarischen Rezensionen. Linguistische Untersuchungen zu Bewertungshandlungstypen, Buchframe, Bewertungsmaßstäben und bewertenden Textstrukturen. Frankfurt am Main u.a. 1995; Schulte-Sasse: Literarische Wertung. Stuttgart 1976; Michaela Köhler: Wertung in der Literaturkritik. Bewertungskriterien und sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten des Bewertens in journalistischen Rezensionen zeitgenössischer Literatur. Würzburg 1999. 

[19] Zur Ideengeschichte und Ästhetik des Staunens weiterhin grundlegend Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse. Tübingen 1991.

[20] Zur Kritik der Reflexion als eines der wichtigsten Kriterien der Gegenwartslyrik vgl. Christian Metz: Diffraktive Poetologie. Monika Rincks Poetik des Sprungs. Eine Lektüre. In: Zeitschrift für Germanistik. 28 (2018), H. 2, S. 247–260.

[21] Michael Braun: Heimweh nach Eden. Marion Poschmanns Gedichtbuch „Geliehene Landschaften“. In: Neue Züricher Zeitung, Rubrik Feuilleton, vom 15.3.2016, S. 20.

[22] Roman Bucheli: Die Poesie des Druckfehlers. Armin Senser buchstabiert in seinem Gedichtband die Liebe und das Leben und auch den Tod. In: Neue Züricher Zeitung, Rubrik Feuilleton, vom 19.1.2016, S. 19. Das Schöne selbst kommt übrigens auf 134 Treffer innerhalb des Korpus. Diese Zahl verliert bei genauer Lektüre jedoch ihr Gewicht: Erstens, weil die Übersetzerin Elke Schönfeld und die Lyrikerin Eva Schönewerk, die in Rezensionen vorkommen, einen beträchtlichen Anteil des Schönen auf sich vereinen. Zweitens weil als „schön“ meist die Verarbeitung der Bücher bezeichnet wird, also die Fertigung zum „handlich schönen Bänden“ oder zur „schön gemachten Ausgabe“. „Schön“ ist heute noch das Buchmaterial, nicht das Geschriebene. Und drittens weil das Schöne in den Urteilen zwar vorkommt, aber stets in gebrochener Form: als „schöner Trotz“, als „kalte schöne Schulter der Welt“, als „verborgene Schönheit eines Wracks“ oder eben im Modus der emphatischen Ästhetik als „atemberaubende Schönheit“: kurz gesagt – „man staunt angesichts der Schönheit“ und hat sie damit in die Erfahrungs-Ästhetik integriert.

[23] Hier sind für die zukünftige Arbeit Einblicke in die Praxis der einzelnen Redaktionen wichtig: Wie wird die Selektion von Titeln, die besprochen werden, in den einzelnen Redaktionen vollzogen. Sind es die – im Falle der Lyrikkritik – häufig externen Kritiker, die beeinflussen, welche Bücher besprochen werden und welche nicht. Oder ist es die Redaktion selbst, die beschließt, welche Bände überhaupt an die Rezensenten ausgegeben werden. Wichtig sind auch solche Elemente, wie die Analyse von Wertungen in Überschriften oder Bebilderung, die aus guten redaktionellen Gründen (Konstellation der Besprechungen auf der Seite, Anpassen der Titelwortzahl an Spaltenzahl und Format) ausschließlich in der Hand der Redaktionen, nicht aber der einzelnen Rezensenten liegen.