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Fremde Gesichter
(Südlicher Einspruch gegen theoretische "Brücken" zwischen modernem Leben und altem Glauben)

Autor:Scharer Matthias
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Während in der Religionspädagogik des Nordens auf dem Hintergrund der Aufklärung Subjektwerdung durch Mündigkeit und Autonomie ganz im Zentrum des Interesses stehen, kommen durch den „südlichen" Einspruch, das Fremde, die Grenze und ein (geschenktes) Wir vor dem Ich zum Tragen.
Publiziert in:Scharer M., Fremde Gesichter. Südlicher Einspruch gegen theoretische "Brücken" zwischen modernem Leben und altem Glauben, in: Tragfähigkeit der Religionspädagogik. Hg. von H. Angel (Theologie im kulturellen Dialog 4), Graz 2000, 217-226.
Datum:2004-08-25

Inhalt

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Zwischen Faszination und Verschweigen

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Die Lateinamerikafaszination der siebziger Jahre, eng verbunden mit der Entdeckung der Befreiungstheologie in Europa, mit einer Euphorie gegenüber den sogenannten Basisgemeinden und mit der Hoffnung auf größere wirtschaftliche Gerechtigkeit des Nordens gegenüber dem Süden, scheint verflogen zu sein. Neoliberale Wirtschaftsmanager im Norden und Süden können unter dem Etikett der Globalisierung ungehemmter denn je zuvor ihre Konzepte weltweit durchsetzen. Aber auch innerhalb der Kirchen läuft man Gefahr, einen der dem Evangelium entsprechendsten Aufbrüche nach dem 2.Vatikanum, die kirchliche Option für die Armen, mehr und mehr totzuschweigen. Als jüngstes Signal dafür kann die amerikanische Bischofsynode gelten, auf welcher - mit Ausnahme weniger Stimmen - kaum mehr Notiz von den lateinamerikanischen Aufbrüchen genommen wurde (Vgl. Weber 1998). Der "periphere Bischof am Xingu", Erwin Kräutler, bedauert, daß sich die "Anerkennung der zahllosen kirchlichen Basisgemeinden, wo der Glaube so lebendig ist, wo Millionen Jugendliche, Frauen und Männer das Wort Gottes meditieren, gemeinsam beten und daraus die Kraft schöpfen für ihren Einsatz um Gerechtigkeit und Würde", sehr "in Grenzen" hielt (E. Kräutler 1998, 4). Ist also der "frische Wind aus dem Süden"[1] zu einer leisen Brise geworden, oder droht es windstill zu werden? Sind die Impulse aus den christlichen Basisgemeinden "Schnee von gestern", oder gibt es auch heute noch etwas von Lateinamerika zu lernen? Was geht der praktischen Theologie und speziell der Religionspädagogik verloren, wenn der Aufbruch lateinamerikanischer Basisgemeinden in Vergessenheit gerät?

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Bei meinen (relativ kurzen) Lateinamerikaaufenthalten in den vergangenen zehn Jahren[2] konnte ich - natürlich sehr begrenzt und mit den Augen eines Europäers - etwas von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten, vom Wandel, aber auch von der bleibenden Herausforderung der befreiungstheologisch orientierten "Basiskirche" in verschiedenen Ländern Lateinamerikas erahnen. Dabei ist mir klar geworden, daß eine schnelle Übertragung lateinamerikanischer Erfahrungen auf Europa bzw. auf den Norden naiv, ja gefährlich wäre; gerade das würde die Originalität dieses kirchlichen Aufbruches im Kontext tödlicher Armut und Gewalt verharmlosen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit P. Ricardo, in dessen Gemeinde am Stadtrand von Chiclayo (Nordperu) ich B zusammen mit Kollegen Günter Biemer B mehrere Wochen leben durfte: Auf dem Weg zum sonntäglichen Mittagessen bei seiner Schwester, die mit ihrer Familie und mit der Mutter in einem wohlhabenderen Stadtviertel wohnte, sagte er: "Die Menschen hier können kaum zu einer comunidad werden." In diesem Zusammenhang schreibt L. Boff: "Ich komme mehr und mehr zu der Überzeugung, daß die kirchlichen Basisgemeinden von ihrem Wesen her das ureigene Werkzeug der Armen sind; sie sind nicht für die Mittel- und Oberschicht" (Boff 1982, 19).

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Wenn also der schnelle religionspädagogische Import nicht zu erwarten ist, was können wir dann von der lateinamerikanischen Basiskirche lernen? Ich will aus dem vielen, das es zu lernen gäbe, im folgenden nur einen Aspekt herausgreifen, der mir für die gegenwärtige religionspädagogische Diskussion im deutschen Sprachraum besonders herausfordernd erscheint: es ist der Spiegel, den einfache, in ihrer Unmittelbarkeit und Solidarität überzeugende Menschen in den lateinamerikanischen Basisgemeinden den nördlichen ReligionsexpertInnen vorhalten. Die "fremden Gesichter" B speziell der ausgebeuteten Indios und Afrobrasilianer - provozieren uns vor allem dort, wo wir versucht sind, uns mit unserer theologischen und didaktischen ExpertInnenschaft widerstandslos in das Rollenverständnis arbeitsteiliger Gesellschaft einzupassen, die christliche Botschaft gesellschaftlich dienstbar zu machen und das mündige, autonome, konsumierende Subjekt, analog zu den wirtschaftlichen, schulischen und universitären Zielvorgaben, auch als Anliegen religionspädagogischer Bemühungen in das Zentrum zu rücken, um den Anschluß an die "moderne Welt" nicht zu verpassen.

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Der "Graben" zwischen Kirche und Welt, Glaube und Leben.

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Nach den (vergeblichen?) Versuchen, die Botschaft des Glaubens in das Leben hinein zu übersetzen, sie "anzuwenden" oder methodisch-medial möglichst attraktiv zu vermitteln, wird in den sogenannten Konvergenz-, Korrelations-, Interrelations- und Symboldidaktiken der Versuch unternommen, die "modernen" Erfahrungen mit den in der biblischen und kirchlichen Botschaft verschrifteten Erfahrungen in ein kritisches Wechselspiel zu bringen; dies geschieht, bei allen Differenzierungen im einzelnen, unter dem theologischen Paradigma P. Tillichs, den "garstigen Graben", der uns in der Moderne vom Evangelium trennt, zu überbrücken.

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In Lateinamerika ist mir immer öfters der für einen modernen Religionspädagogen "verwerfliche" Gedanke gekommen, was der Fall wäre, wenn es den im Norden als Selbstverständlichkeit angenommenen Graben zwischen Kirche und Welt, Glaube und Leben in Wirklichkeit so nicht gäbe; wenn dieser nicht nur im Süden[3] nicht, sondern überhaupt nicht existierte. Müßte man Theologien umschreiben und die Pastoralkonstitution des 2. Vatikanums "Gaudium et spes", der die Beziehung von Kirche und Welt bzw. moderner Gesellschaft besonders am Herzen liegt, neu lesen?

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Der (kirchliche) Traum von Subjektwerdung durch Mündigkeit und Autonomie

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Dabei waren die Kirchen B speziell die katholische - den Mündigkeitsvorstellungen der Moderne gegenüber lange Zeit skeptisch eingestellt. Der aufgeklärte Mensch, der zum eigenverantwortlichen Gebrauch seiner Vernunft und Freiheit gekommen war, stand scheinbar in Konkurrenz zum gläubigen Menschen, der sich an Gott, aber nicht nur an ihn, sondern auch an religiöse Institutionen, konkret an die Kirche, bindet. Nicht wenige Verantwortliche in den Kirchen sehen bis heute den stillen oder bewußten Auszug der "mündigen Subjekte" aus den Kirchen, nicht zuletzt als eine verwerfliche Frucht religionspädagogischer Bemühungen, die auf Subjektwerdung durch Mündigkeit ausgerichtet sind und sich spätestens nach dem 2. Vatikanischen Konzil auch in der katholischen Kirche etablierten.

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Wie selbstverständlich Aufklärung und Mündigkeit als Entwicklungs- und Erziehungsperspektiven im nördlich-westlichen Verständnis auch jeder Christin und jedem Christen bereits in die Wiege gelegt sind, spiegeln u.a. die unterschiedlichen Theorien zur Entwicklung des moralischen (u.a. Kohlberg 1984) bzw. des religiösen Urteils (u.a. Oser 1988) wider. Sie sind allesamt auf wachsende Autonomie als Frucht chairologisch "richtigen" religionspädagogischen Handelns ausgerichtet.

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Wenn mir im Anblick jener "fremden Gesichter" unangepaßte religionspädagogische Gedanken kommen, dann sollten damit keinesfalls die vielfachen Mündigkeitsbemühungen in den Kirchen mies gemacht werden. Durch sie konnten Menschen aus religiösen Abhängigkeiten befreit werden; weitläufige Vorurteile gegenüber den Kirchen, die Menschen in der Unmündigkeit zu halten, wurden zumindest ansatzweise entschärft. Die Kirchen haben mit dem Befreiungspathos der Moderne mitgezogen. Derzeit scheint aber auch die "moderne" Interpretation der großen jüdisch-christlichen Erzählung von der Befreiung/Erlösung des Menschen, als Befreiung aus religiöser Unmündigkeit und aus den vielfachen gesellschaftlichen und kirchlichen Zwängen, zusammen mit anderen Befreiungserzählungen wie denen der Wirtschaft, an Überzeugungskraft zu verlieren. Ähnlich wie Wirtschaftsexperten mit ihren Erzählungen vom uneingeschränkten Konsum, vom globalen Markt, von der weltumspannenden Technologie- und Kommunikationsgesellschaft als die notwendige Entwicklungschance für alle Menschen und Kulturen, schon aus ökologischen Gründen Mißtrauen ernten, gibt es auch einen postmoderne Zweifel gegenüber geistig-kulturellen Globallösungen. So findet sich das europäische Christentum B durchaus in Komplizenschaft mit anderen Hütern der Moderne - jenem postmodernen Dilemma ausgesetzt, für generelle Überzeugungen, und seien sie die modernsten, immer weniger Glaubwürdigkeit vorzufinden.

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In diesem Zusammenhang verlieren auch die vielfältigen religionspädagogischen Anstrengungen um immer neue Korrelationen der Lebenserfahrung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, mit den in der jüdisch-christlichen Befreiungstradition verschrifteten Erfahrungen an Überzeugungskraft. Außerdem nimmt man den Kirchen - insbesondere der katholischen - wegen ihres nach wie vor bestehenden inneren Macht- und Autoritätsgefälles und infolge des oftmals rein bürokratisch erlebten Outfits die symbolische Repräsentation der Botschaft des Glaubens als generelle Gestalt christlicher Befreiungs-/Erlösungshoffnung kaum ab. In dieser Situation kirchlicher Identitätskrise kann ein Wechselblick zwischen der lateinamerikanische Basiskirche mit ihrer klaren Option für die Armen und unserer Situation mögliche Fallstricke moderner Religionspädagogik weiter erhellen.

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Subjektwerdung ohne Vorbehalt

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Während in unseren religionspädagogischen Bemühungen die B selbstverständlich gestufte - Mündigkeit und religiöse Autonomie der Kinder/Jugendlichen durch Krisen hindurch im Blick auf eine "Identität in universaler Solidarität" (Mette 1994, 156-164) angezielt wird, setzen die lateinamerikanischen Basisgemeinden das mündige Subjektsein aller Menschen ohne Vorbehalt voraus; dies inmitten vielfältiger entmündigender Strukturen. Befreiungsstheologisch orientierte Basisgemeinden halten angesichts der ökonomisch-gesellschaftlichen und kulturellen Ausbeutungslogik, welche die Identität ganzer Kulturen zu zerstören droht, scheinbar wider alle Vernunft, an der religiös-kulturellen Identität als Basis des Subjektbewußtseins jedes Menschen, insbesondere auch der Kinder und Armen fest. Das ist ein kühnes Unterfangen, weil diese Option der gesellschaftlichen Realität völlig zu widersprechen scheint. Wer wird angesichts der unübersehbaren Armut und Gewalt nicht der Versuchung erliegen, diese demoralisierten, wirtschaftlich ohnmächtigen, scheinbar nur unmündigen, des Lesens und Schreibens vielfach nicht mächtigen Menschen zu Objekten einer gutgemeinten Wirtschafts- und Entwicklungshilfe eines Alphabetisierungsprogramms, oder was noch schlimmer ist, einer Glaubensvermittlung oder moralischen Aufrüstung zu machen? Genau dieser wirtschaftlichen, bildungspolitischen und pastoralkatechetischen Versuchung will die Lateinamerikanische Kirche in ihrer auf Subjektwerdung innerhalb der christlichen Gemeinde ausgerichteten Praxis widerstehen.

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Im Sommer 1997 durfte ich den Delegierten zum Basisgemeindetreffen Brasiliens in Sao Luís persönlich begegnen: jenen einfachen aufrechten Frauen und Männern aus ganz Brasilien, die im Kampf um das alltägliche Überleben ihrer Familien in der bedrückenden Wahrnehmung gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und einer tiefen Verwurzelung im Evangelium ihr Leben für andere aufs Spiel setzen. Wer diese Menschen kennenlernt, wird nicht mehr an deren mündigem Subjektsein zweifeln. Gleichzeitig aber sperrt sich etwas dagegen, unsere, in der nördlichen Hemisphäre entwickelte und vorrangig auf das einzelne Individuum bezogene Entwicklungs- und Bildungslogik, auch im südlichen Weltkontext als gültig anzunehmen. Soweit ich es beobachten konnte, geht es in den Basisgemeinden nicht um die Mündigkeit und um das individuelle Subjektsein an sich. Es ist eine Subjektwerdung und Mündigkeit intendiert, die aus engagierter Solidarität mit all jenen resultiert, denen Subjektsein und Mündigkeit infolge von Unrechtsstrukturen, von vornherein abgesprochen werden. Durch das selbstverständliche Ineinander von Tun und Lassen, von Aktion und Kontemplation in den lateinamerikanischen Basisgemeinden, die, bei allem gesellschaftspolitischen Einsatz für Gerechtigkeit, spirituell in der jüdisch-christlichen Botschaft verankert und in Gebet, Feier und Kontemplation alltäglich verwurzelt sind, bleibt es nicht bei einer "dünnen" Solidarität im Sinne von: "wir sitzen alle im selben Boot und müssen uns daher zusammenschließen". Es geht um eine in der Gottes- und Menschenliebe geradezu mystisch verwurzelte, dichte Solidarität, in der die anderen in der Gemeinde nicht nur als MitkämpferInnen sondern als von Gott geschenkte andere im Wir des Volkes Gottes bzw. am Leib Christi (vgl. 1 Kor 12-27) erkannt werden. Man könnte von einem prophetischen Subjektsein aus dem Glauben an eine universale, von Gott geschenkte Verbundenheit der Menschen, vor allem der Armen und Ausgeschlossenen, also von einer prophetischen Mündigkeit wider alle Entmündigungsvorgänge sprechen.

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Das (geschenkte) Wir vor dem Ich (vgl. Scharer 1998)

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Das mitteleuropäische Lernen ist primär auf den einzelnen Menschen und seine Identitätsentwicklung bezogen. Der/die einzelne steht, je höher der Bildungsanspruch ist, umso mehr in Konkurrenz zum anderen und grenzt sich von ihm ab. Das konkurrierende Lernen beginnt spätestens in der Schule und endet an der Universität, im Beruf und in den Fortbildungseinrichtungen. Der Lernerfolg wird in Abhebung zum Geringeren oder zum Mißerfolg des/der anderen gemessen.

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Auch in lateinamerikanischen Basisgemeinden haben Menschen, die über Jahrhunderte abhängig waren, und die, wie Paulo Freire (Freire 1977) sagt - das Bewußtsein der Unterdrückten integriert haben - in mühsamen Lernprozessen gelernt, zu sich, zur eigenen Meinung und Option zu stehen. Doch dieses Bewußtsein eigener Identität isoliert nicht von den anderen, und führt nicht zu übertriebener Konkurrenz mit ihnen. Tendenziell kommt das Wir, das als Geschenk erlebt wird und nicht produzierbar ist, vor dem Ich.

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Bevor beim Treffen der Basisgemeinden Brasiliens die einzelnen in Kleingruppen ihre jeweiligen Erfahrungen zu den Themen des Treffens zum Ausdruck brachten, wurde intensiv dem Wir der Großgruppe Raum gegeben. Es wurde miteinander gefeiert, getanzt, gesungen, gebetet und das Wort Gottes bedacht. In den langen Wir-Phasen wurde die Zusammengehörigkeit in einer Weise gelebt, die uns Europäer immer wieder erstaunt hat. Dabei ging es nicht um methodische Tricks, die eine bestimmte Dynamik der Großgruppe auslösten und ein Wir-Gefühl produziert hätten. Vielmehr wurde hier ein offener Raum für das nicht Machbare geschaffen; eine Bedingung für die Möglichkeit, das geschenkte Wir im Geist des Lebens und der Zugehörigkeit zu erfahren.

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Unsere Geschichte vor meiner Geschichte

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In unseren Bildungskonzepten ist es modern geworden, Lebens- und Glaubensbiographie als theologischen Ort wahrzunehmen. Gegenüber dieser individuellen Wahrnehmung der Lebens- und Glaubensbiographie habe ich bei zwei Gottesdiensten in brasilianischen Basisgemeinden am Stadtrand von Sao Luis eine andere Form der Glaubensgeschichte kennengelernt. Am Beginn jedes Gottesdienstes wurde zunächst die Geschichte des jeweiligen Wohnviertels erzählt. Und das war immer eine politisch brisante Geschichte. Eine Geschichte der Landbesetzung mit all den existentiellen Erfahrungen von Obdachlosen, die sich mit ihren Angehörigen und wenigen Utensilien in einem Gebiet niederlassen, aus dem sie jederzeit wieder vertrieben werden können. Es ist die Erzählung einer dichten Solidarität füreinander: "Manchmal konnte ich nicht einmal die Wäsche waschen, es mußte jemand aus der Nachbarschaft auf unser Haus aufpassen.", sagte eine einfache Frau. Die gemeinsame Geschichte gibt Hoffnung und Mut, auch die schwierige Zukunft in die Hand zu nehmen und sich nicht entmutigen zu lassen. Ohne mühsame Korrelation von Leben und Glauben vergegenwärtigt sich das biblische Geschehen in der eigenen Wir-Geschichte: In der brasilianischen und weltweiten Ausbeutungsgesellschaft ist die ägyptische Knechtschaft erlebbar. Gott führt sie, einige obdachlose Familien, zusammen und Er schenkt ihnen einen bescheidenen, von der Stadtverwaltung hart ertrotzten Wohnplatz und ein paar Hütten, die sie darauf errichten.

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Zugehörigkeit und bleibende Fremdheit

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"Wem gehörst du zu?" So fragte man in meiner Heimat Menschen, deren Namen man erfahren wollte. Die Identität der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen wurde auch bei uns durch ihre Zugehörigkeit bestimmt. Die Zugehörigkeit zur Großfamilie, zur Verwandtschaft, zum Dorf, zur gesellschaftlichen Klasse usw. konnte zur Last werden, wenn man sich daraus freistrampeln, endlich "ich selbst" sein, und die eigenen Entscheidungen treffen wollte. Die Entwicklung zur autonomen Mündigkeit konnte, durch eine lebenslange Wir-Zugehörigkeit behindert, ja unmöglich gemacht werden. Dies war besonders dort der Fall, wo starke, meist männliche Autoritäten, das "Mündel" abhängig gehalten haben. Daß Kirchen für solche Abhängigkeitsverhältnisse besonders anfällig waren und es bis heute sind, belegen viele Biographien. Im Hinblick auf das Abhängigkeitstrauma, das auch in Verbindung mit den Kirchen gebracht werden kann, scheinen die Unterschiede zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre nicht grundsätzlich zu sein. Unterschiedlich ist aber die Reaktion darauf: Unsere westlich-nördlichen Gesellschaften scheint gegenwärtig die Bindungslosigkeit und Unverbindlichkeit, die dazu führt, daß sich viele Menschen nirgends mehr zugehörig wissen, in einem Ausmaß zu erfassen, welches die alten Unmündigkeiten aufgrund abhängig machender Bindungen bei weitem überschreitet. Der Traum von vielfältigen, relativ unverbindlichen und schnell wechselnden Zugehörigkeiten scheint die Wir-Bedürftigkeit des Menschen nicht zufriedenzustellen, weil spätestens in Krisensituationen stabile Bindungen erhofft und ersehnt werden. Da solche in modernen Gesellschaften aber fast ausschließlich im privaten Bereich realisierbar sind und oft mit der Phantasie einer möglichst homogenen Gruppe Gleichgesinnter einher gehen, wächst die Harmonieerwartung in den partnerschaftlichen und familiären Beziehungen und damit auch deren radikale Überforderung.

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Die Sehnsucht nach einer homogenen Gruppe, sei es die Familie, der Freundeskreis, die Kirchengemeinde o.a. wird in Lateinamerika durch das Gesicht der anderen immer wieder radikal in Frage gestellt. Der Dritte, der Nichtdazugehörige, das Opfer, der Ausgestoßene, der Arme ist eine Realität, welche ChristInnen die Harmonie der Ich/Du-Beziehung bleibend aufbrechen läßt. Gleichzeitig repräsentieren die "fremden Gesichter" aber auch jene, sich nicht nur vertrauensvoll dem Menschen zuwendende Wirklichkeit Gottes, die in Jesus Christus Gestalt geworden ist und in uns Menschen lebt, sondern auch die bleibende Fremdheit des unzugänglichen Geheimnisses, das alle theologischen und religionspädagogischen Brücken grundsätzlich hinter sich läßt. In den fremden Gesichtern der Armen spiegelt sich eine geheimnisvolle Würde des Menschen, die B so hat es uns im vergangenen Sommer Bruno Haspinger, ein Comboni Missionar, der mit Kleinbauern um das Land kämpft, überzeugend vermittelt - zur Kraftquelle des eigenen Tuns, zur unaufhörlichen Quelle der Spiritualität wird. Weder theologische Paradigmen (Bruno sprach gerne von den "Theolügen"), noch religionspädagogische "Brücken" zwischen Tradition und Moderne können die Unmittelbarkeit von Menschen ersetzen, welche die Nähe und gleichzeitig das Geheimnis Gottes offenhalten. Jene "interlocutores" (Buchstabierer) des Evangeliums, "...die Armen verdienen ein vorrangiges Augenmerk, ungeachtet ihrer moralischen und persönlichen Befindlichkeit. Geschaffen nach Gottes Bild und Gleichnis, um seine Kinder zu sein, wird dieses Bild jedoch verdunkelt, ja verhöhnt. Daher übernimmt Gott es, sie zu verteidigen, und er liebt sie." (Puebla 1142)

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Die "fremden Gesichter" werden auch in unserer Gesellschaft immer mehr. Sie erscheinen einerseits in der Gestalt jener Menschen, welche nicht in die Logik des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschrittes passen und deshalb stören oder zur Last fallen; anderseits erfahren gerade die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine wachsende Fremdheit gegenüber vielen Menschen. Diese wechselseitige Entfremdung fordert im Norden zu immer neuen Korrelationsversuchen heraus: Vielleicht ist der Dialog zwischen Kirche und Welt, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Offenbarung und Situation durch noch angestrengtere Vermittlungsbemühungen, unter Zuhilfenahme modernster Techniken und Methoden noch zu retten? Ein Innehalten, ein Verweilen, ein Anteilnehmen am Leben der neuzeitlichen Fremden des Evangeliums, ja eine Theologie von den modernen Fremden und ihrer Welt her, wie sie bereits Dietrich Bonhöffer im Auge hatte, kann der Religionspädagogik Perspektiven eröffnen, die sie aus dem Brückendilemma heraus führen.

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Literatur:

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Boff, Leonardo, Theologie hört aufs Volk. Ein Reisetagebuch, Düsseldorf 1982.

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Freire, Paulo, Erziehung als Praxis der Freiheit. Beispiele zur Pädagogik der Unterdrückten, Hamburg 1977.

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Hofmann, Bernhard F., Kognitionspsychologische Stufentheorien und religiöses Lernen. Zur (korrelations-)didaktischen Bedeutung der Entwicklungstheorien von J. Piaget, L. Kohlberg und F. Oser/P. Gmünder, Freiburg u.a.O. 1991.

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Kohlberg, Lawrence, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt 1995.

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Kräutler, Erwin, Christus zeigt auf Amazonien hin. Wie ein peripherer Bischof am Xingu die Synode für Amerika erlebte, hektogr. Manuskript 1988.

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Mette, Norbert, Religionspädagogik, Düsseldorf 1994.

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Oser, Fritz, Wieviel Religion braucht der Mensch? Erziehung und Entwicklung zur religiösen Autonomie, Gütersloh 1988.

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Scharer, Matthias, Das geschenkte Wir, in: Weber, Franz (Hg.), Frischer Wind aus dem Süden. Impulse aus den Basisgemeinden, Innsbruck 1998, 84-100.

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Weber, Franz, Senfkörner und Sauerteig: Widerspruch gegen die Verleugnung der Basisgemeinden, in: Orientierung 62 (1998), 74-77; 87-90.

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[1] Das ist der Titel des Buches, das die Erfahrungen unserer TheologInnengruppe im Zusammenhang mit dem 9. Treffen brasilianischer Basisgemeinden widergibt und theologisch reflektiert. Vgl. Weber, Franz (Hg.), Frischer Wind aus dem Süden. Impulse aus den Basisgemeinden, Innsbruck-Wien 1998.

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[2] 1988 in Peru; 1994 in Bolivien; 1997 in Brasilien; 1998 in Mexico.

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[3] Gegen die interkulturelle Gültigkeit europäischer, vor allem kognitionspsychologischer Entwicklungstheorien besteht ein berechtigter Einwand (vgl. Hofmann, Bernhard F., 1991)

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