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„Und führe uns nicht in Versuchung“. Hinführung zu einer Bitte aus uneingeschränktem Gottvertrauen

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategoriekurzessay
Abstrakt:
Publiziert in:Pfarrblatt der Dompfarre St. Stephan, Wien 77/2 (2022),4-5.
Datum:2022-10-05

Inhalt

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„Und führe uns nicht in Versuchung“ – Diese Vaterunserbitte (Mt 6,13; Lk 11,4) hat immer wieder Unverständnis und Protest hervorgerufen. „Gott führt niemanden in Versuchung!“ – Denn es ist böse, jemanden in Versuchung zu führen. Und wir haben einen Gott, der ganz und gar gut ist. Das steht sogar ausdrücklich an anderer Stelle in der Bibel:

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„Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott kann nicht in die Versuchung kommen, Böses zu tun, und er führt auch selbst niemand in Versuchung.“ (Jak 1,13)

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Und schon im Alten Testament heißt es:

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„Sag nicht: Meine Sünde kommt von Gott. Denn was er hasst, das tut er nicht.  Sag nicht: Er hat mich zu Fall gebracht. Denn er hat keine Freude an schlechten Menschen. Verabscheuungswürdiges hasst der Herr; alle, die ihn fürchten, bewahrt er davor. Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen.“ (Sir 15,11-14)

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Es geht also um unsere eigene Entscheidung, auch in der Versuchung. Wir können und dürfen uns nicht darauf hinausreden, dass uns jemand in Versuchung geführt hätte – schon gar nicht Gott.

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Und trotzdem ist die vorletzte Vaterunserbitte berechtigt und ausgesprochen wichtig. In ihr äußert sich das Vertrauen auf einen guten und treuen Gott, der immer für uns da ist und uns jederzeit führt: auch in dunklen Stunden – und auch in Situationen, in denen wir in Versuchung geraten. Darauf bezieht sich eine häufig vorgeschlagene Variante der vorletzten Vaterunserbitte: „Und führe uns in der Versuchung.“ Oder, wie Papst Franziskus vorgeschlagen hat: „Verlass uns nicht in der Versuchung.“

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In solchen Vorschlägen steckt viel seelsorgerliche Weisheit, aber es holt das biblische und liturgische Vater-unser-Gebet noch nicht voll ein. Dieses volle Verständnis ist – besonders für uns heutige Christen – mehrfach verstellt und nicht leicht zu erreichen. Deshalb ist es wichtig, zu gegebener Zeit einen Weg zu einem vollen Verständnis zu eröffnen. Dafür empfehle ich eine Hinführung in zwei Schritten: zuerst hin zur Bitte „Führe uns in der Versuchung“, und von dort weiter zur eigentlichen Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“.

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Erster Schritt: „Führe uns in der Versuchung“

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Um die Vaterunserbitte „Führe uns nicht in Versuchung“ recht zu verstehen, müssen wir zuerst begreifen, wie Gott uns überhaupt führt – oder zunächst, wie er nicht führt. Einerseits: Gott führt nicht gewalttätig. Er zwingt uns nicht, sondern er gibt uns die Möglichkeit, dass wir sein Angebot ablehnen und uns in eine andere Richtung bewegen als die er uns führt. Anderseits: Gott gibt auch in einer solchen Situation der Sünde seine Führung nicht auf, um uns uns selbst zu überlassen, sondern er geht mit, um uns auf dem falschen Weg in die richtige Richtung zu führen.

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Mit einem biblischen Bild: Gott ist der gute Hirt, der den verlorenen Schafen nachgeht (Lk 15,4; Joh 10,11). Oder ein heutiger Vergleich: Gott ist wie ein Rumbatänzer, der die Partnerin (seine Geliebte, mich und dich) genau richtig führt. Wenn wir aber die von ihm eingeleitete Figur nicht mitmachen und falsch abbiegen, dann bricht er den Tanz nicht ab, sondern er geht mit. Und er gibt auch seine Führung nicht auf, sondern er leitet uns auch noch auf falschen Wegen. Dabei gelingt es dem genialen göttlichen Tänzer, aus unseren Fehlern Figuren zu machen, die sich am Ende als gut und schön erweisen.

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Gott führt uns den geraden Weg (Sir 4,18). Wenn alle Menschen diesen Weg immer mitgehen würden, dann gäbe es keine Versuchungen in der Welt. Weil wir aber immer wieder Gottes Weg-Angebote störrisch verweigern und in falsche Richtungen ausbüxen (wie Jona in der Bibel), werden daraus leidvolle Umwege – für uns selbst und für viele andere. Begierden und Ängste aus früheren Schuldgeschichten machen aus Wahlmöglichkeiten, die Gott uns gibt, Versuchungen, denen wir uns kaum mehr entziehen können. Wenn wir nun anders abbiegen als Gott will und er mit uns mitgeht, ohne dabei seine Führung abzugeben, dann sieht es so aus, als ob er uns auf Abwege führt. Es ist aber nur möglich, dass Gott uns auf Wegen führt, die nicht gut sind – auf dem Weg der Sünde, aber nicht auf den Weg der Sünde. Er führt uns in der Versuchung, ohne dass er uns deshalb in die Versuchung führen würde.

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Zweiter Schritt: „Führe uns nicht in Versuchung“

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Nun müssen wir noch einen letzten Schritt mit dem biblischen Glauben, dem Glauben Jesu, mitgehen, um die vorletzte Vaterunserbitte uneingeschränkt beten zu können: Es ist das Vertrauen in Gottes uneingeschränkte Macht zu retten, so wie Jesus auf dem Ölberg betete: „Abba, Vater, alles ist dir möglich...“ (Mk 14,36) – Wir können und sollen Gott vertrauen, dass er uns jederzeit so tief bewegen kann, dass jede Versuchung haltlos wird. Und darum dürfen, ja sollen wir beten. Es ist das uneingeschränkte Vertrauen eines Kindes zu seinem Vater oder seiner Mutter, der es alles zutraut. Im ganzen Vaterunser geht es um ein uneingeschränktes Gottvertrauen – und dieses ist in unserer heutigen Welt, ja selbst in der Kirche, bei Christen und in Teilen der neueren Theologie sehr geschwächt. Es ist geschwächt durch den Einwand von nicht erhörten Gebeten und von grenzenlosem Leid wie in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs. Muss man da nicht Gottes Handlungsmacht einschränken, um Gott den Vorwurf einer unterlassenen Hilfeleistung zu ersparen? Zugespitzt auf unser Thema: Wenn Gott jeden Menschen jederzeit aus einer Versuchung herausreißen kann, warum tut er das dann nicht? Warum lässt er Menschen, selbst Führende in der Kirche, so katastrophal scheitern, wie wir es in der Missbrauchskrise in erschütterndem Ausmaß erfahren?

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Das uneingeschränkte Vertrauen eines Kindes hat darauf keine Antwort, braucht aber auch keine. Wenn Papa das Erbetene nicht gibt, oder wenn er anders gibt als erbeten, dann wird er einen guten Grund dafür haben. Auch wenn ich diesen jetzt nicht begreife – irgendwann später wird er ihn mir offenbaren. Das trägt auch durch bis in die klügste Theologie. Aus unseren bisherigen Überlegungen ergibt sich bereits: Gott geht Umwege mit, und das kann beinhalten, dass sich die Erfüllung von Bittgebeten verzögert, oder dass Gott Bittgebete anders erfüllt, als wir sie von ihm erbeten haben. Dennoch lässt Gott kein Bittgebet unerhört (Lk 11,5–13). Er braucht und verwendet unser uneingeschränktes Zutrauen, wie wir es in der vorletzten Vaterunserbitte ausdrücken, wenn wir verstehend und mit ganzem Herzen beten: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Das heißt: „Führe uns so, dass wir nicht in Versuchung geraten. Bewahre uns vor Situationen, die unseren Glauben und unsere Liebe überfordern. Und wenn du uns nicht bewahrst, dann erfülle uns so mit deiner Liebe, dass wir nicht fallen können. Wir haben volles Vertrauen, dass du die Macht dazu hast.“

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Manchmal fallen wir trotzdem. Das heißt dann, dass Gott die Mittel an Bewahrung oder Stärkung, die er gewiss hat, mir in dieser Situation nicht gegeben hat. Das wird seinen guten Grund haben – als Teil von Gottes umfassendem Erlösungsplan, mit dem er „will, dass alle Menschen gerettet werden“ (1 Tim 2,4). Vielleicht braucht er mich dafür mit meiner Schwäche. Aber eines weiß ich bestimmt: Wenn Gott mir in dieser Situation die Mittel vorenthält, mit denen ich der Versuchung hätte entgehen können – wenn er mich auf diese Weise (nicht aktiv in die Sünde treibend, aber doch meinen Fall zulassend) „in Versuchung führt“, dann niemals so, dass ich absolut und endgültig falle. Dann ist sein Plan, mit dem er mich ein Stück weit fallen lässt, unterfasst von einem tieferen Plan, der meine Rettung enthält (vgl. Röm 11,25–33). – So, dass wir, wenn wir fallen, zuletzt in Seine Hände fallen; weil dann, wenn er uns fallen lässt (d.h. zulassend „in Versuchung führt“) es einem verborgenen, tieferen Plan dient, mit dem er uns zuletzt in seine Hände fallen lässt.

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Und doch ist es angemessen, dass wir demütig und sehnsüchtig bitten: „Verbirg nicht dein Angesicht von mir; ... verlass mich nicht, du Gott meines Heils“ (Ps 27,9) oder mit dem Gebet, das Jesus uns lehrt: „Führe uns nicht in Versuchung“.

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