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Romantische Lüge oder romaneske Wahrheit: Das Opfer in Andrej Tarkowskijs OFFRET und Lars von Triers BREAKING THE WAVES

Autor:Regensburger Dietmar
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Während die zeitgenössische Theologie sich mit dem Opfergedanken oft alles andere als leicht tut, gibt es seit dem Ende der 80er Jahre eine ganze Reihe von Filmen, die sich der aktuellen Frage um das Spannungsverhältnis zwischen Gewalt und Opfer widmen. In diesem Beitrag werden anhand der mimetischen Theorie René Girards zwei Filme - Andrej Tarkowskijs Offret und Lars von Triers Breaking the Waves - exemplarisch auf diese Problematik hin untersucht. Auf dieser systematischen Analyse aufbauend wird der Frage nachgegangen, welche Chancen und Gefahren sich für ein Gespräch zwischen Film und Theologie hinsichtlich der Opferproblematik ergeben.
Publiziert in:: Filmgespräche mit René Girard und Lars von Trier, hg. v. Leo Karrer, Charles Martig und Eleonore Näf, 81-114. Film und Theologie 1. Köln: KIM; Marburg: Schüren, 2000.
Datum:2002-06-04

Inhalt

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Geheimnisumwittertes Opfer

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Eine der zentralen Hoffnungen und Forderungen des liberalen und aufklärerischen Denkens zielte auf die grundsätzliche Überwindung und Abschaffung des Opfers ab. (1) Heute zeigt sich jedoch immer klarer, dass auch moderne Gesellschaften nicht ohne Opfer und Opferungsmechanismen auskommen. An manchen Stellen sind sie - ohne Stimme und Lobby - kaum sichtbar und hörbar, (2) an anderen treten sie - als Opfer der Globalisierung, von Kriegen oder Katastrophen - dank massenmedialer Vermittlung so deutlich in Erscheinung wie noch nie zuvor. Nimmt man ferner die subjektive Selbstwahrnehmung und -darstellung vieler Menschen zum Maßstab, so könnte man zur Auffassung gelangen, dass sich zu keiner anderen Zeit so viele Menschen als Opfer direkter oder anonymer Mächte und Gewalten fühlten. Man denke hierbei etwa an den inflationären Gebrauch des Opferbegriffes in der Alltagssprache oder auch den Boom der ganzen therapeutischen Szene. Dennoch ist das Thema des Opfers mit dem Bedeutungsschwund von Religion und Kunst fast gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden; jeder, so scheint es, bleibt heute seinem anonymen Schicksal und seiner Bewältigung selbst überlassen.

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"Das Opfer ist von Geheimnissen umwittert", schreibt René Girard in seinem Hauptwerk Das Heilige und die Gewalt, und fügt hinzu: "Die Frömmigkeitsformen des klassischen Humanismus schläfern unsere Neugier ein, aber die Begegnung mit den antiken Autoren weckt sie. Auch heute noch ist das Geheimnis des Opfers undurchdringlich wie eh und je." (3) Nicht nur die Begegnung mit den antiken Autoren, denen Girard in seiner Untersuchung breiten Raum einräumt, sondern auch die Begegnung mit großen Werken der Kunst, nicht zuletzt gerade jenen der Filmkunst, vermag unsere Neugier zu wecken und den Sinn für das Wesen und die Bedeutung des Opfers zu schärfen.

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Regisseure wie Bresson, Bunuel, Dreyer, Ferrara, Pasolini oder Tarkowskij, um nur einige zu nennen, greifen in ihren Filmen das Thema des Opfers auf und zeigen uns sowohl seine Abgründigkeit als auch seine Faszination, mit anderen Worten seine Ambivalenz. Gleichzeitig werfen sie die Frage nach dem Stellenwert und der Bedeutung des Opfers für eine Gemeinschaft auf, in der jeder nur um sich und seine eigenen Wünsche und Probleme zu rotieren scheint. Gemäß der Diktion Girards, nach der auch heute noch "das Geheimnis des Opfers undurchdringlich wie eh und je" scheint, bleibt naturgemäß auch der Versuch einer künstlerischen Annäherung an dieses uralte Thema ein prekärer Akt, der immer Gefahr läuft, mehr zu verschleiern als zu erhellen. Die Dialektik von genialer künstlerischer Intuition und gleichzeitiger projektiver Verkennung - im Sinne einer modernen psychoanalytischen oder soziologischen Uminterpretation - zeigt sich am deutlichsten bei der Verfilmung antiker Mythenstoffe, in denen das Opfer naturgemäß eine zentrale Rolle spielt, so etwa exemplarisch bei Pasolinis Filmen EDIPO RE und MEDEA. Dieser Dialektik sind natürlich nicht nur die Regisseure, sondern gleichermaßen die Rezipienten der Filme ausgesetzt.

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In der Folge soll nun der Versuch unternommen werden, der Frage nach dem tieferen Wesen und der Bedeutung des Opfers anhand zweier ausgewählter Filmbeispiele nachzugehen. Im letzten Abschnitt sollen dann die Ergebnisse dieser Analyse auf ihre Relevanz für ein Gespräch zwischen Film und Theologie hin befragt werden.

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Man könnte an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob es sinnvoll ist, Filme von zwei Regisseuren heranzuziehen, die sich hinsichtlich ihres filmsprachlichen Stiles, ihres künstlerischen Selbstverständnisses und des soziokulturellen Kontextes ihres Schaffens stark unterscheiden. Diese Einwände sind durchaus berechtigt, wir wollen daher unser Vorhaben folgendermaßen begründen:

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Gerade im Hinblick auf die oben angesprochene Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Opfers kann ein systematischer Vergleich hilfreich sein, um jene ästhetischen und filmsprachlichen Mittel, welche die Funktion des Opfers erhellen, und jene, die es eher oder ganz verdunkeln, exemplarisch herauszuarbeiten. René Girard hat in seinem ersten Buch Mensonge romantique et vérité romanesque (4) das Begriffspaar »romanesk - romantisch« eingeführt, um für die Beurteilung großer Werke der Weltliteratur hinsichtlich ihres Erkenntnis- und Wahrheitsgehaltes ein gemeinsames Kriterium zu entwickeln. (5) Wir wollen an Girard anknüpfen und im folgenden seine Unterscheidung »romanesk - romantisch« auf einem anderen Feld der fiktionalen Realität - dem Film - einführen und sie im Hinblick auf die Opferthematik anwenden. Dabei werden wir nachzuweisen versuchen, warum wir Andreij Tarkowskijs OFFRET für ein romaneskes, Lars von Triers BREAKING THE WAVES hingegen für ein romantisches Werk halten.

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Diese beiden Werke bieten sich für einen Vergleich an, weil in ihnen das Opfer die zentrale Rolle spielt und sie dabei eine Reihe von Gemeinsamkeiten aber auch unübersehbaren Unterschieden aufweisen:

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Beide Filme beginnen mit einer Feier - OFFRET (dt. OPFER) mit einer Geburtstagsfeier, BREAKING THE WAVES mit einer Hochzeit - und münden in einer Krise. Die Krise ist und war immer, das hat Girard in Das Heilige und die Gewalt überzeugend nachgewiesen, der originäre Ort, an dem der Ruf nach einem Opfer auf den Plan tritt. In OFFRET hat diese Krise eine globale Dimension, in BREAKING THE WAVES vollzieht sie sich auf der Ebene des Mikrokosmos.

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In beiden Filmen sind die Protagonisten überzeugt, dass nur ein Opfer die Situation retten kann. Beide glauben - und das ist heute durchaus ungewöhnlich -, dass sie selbst ein Opfer bringen müssen und bieten daher sich oder etwas, was ihnen sehr wertvoll ist, einem Gott als Opfer an.

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In beiden Filmen scheint das Opfer von dem angerufenen Gott auch angenommen zu werden. Das Unheil wird abgewendet, am Ende scheint alles wieder beim Alten.

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Beide Filme sprechen das Publikum - vor allem in emotionaler Hinsicht - sehr an und lösen in Zuspruch wie in Ablehnung heftige Reaktionen aus. (6) Dies zeigt, dass die Filme den Zuschauer an einem empfindlichen Nerv treffen.

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Zu guter Letzt reizt zu einem Vergleich auch der Umstand, dass Lars von Trier Tarkowskij als eines seiner großen Vorbilder bezeichnet, dem er sehr viel verdanke. (7)

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Auf die entscheidenden Unterschiede werden wir später eingehen.

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OFFRET von Andrej Tarkowskij

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Die Handlung

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In OFFRET erzählt Tarkowskij die Geschichte einer Geburtstagsfeier und ihrer überraschenden Wendung: Alexander, ein alternder Schauspieler hat sich, "des ewigen Verstellens müde", wie er sagt, mit seiner Frau Adelaide und Sohn Jungchen, den er abgöttisch liebt, in ein abgelegenes Haus am Meer zurückgezogen und lebt dort in relativer Abgeschiedenheit. Zu seinem 50. Geburtstag versammelt sich die Familie; Tochter Marta und deren Freund, der Arzt Viktor, treffen gleich zu Beginn ein. Der etwas merkwürdige Postbote Otto überbringt Glückwunschtelegramme von Freunden und wird ebenfalls zur Familienfeier eingeladen. Die beiden Dienstboten Julia und Maria sorgen für die festliche Umrahmung. Das ist die Eingangssituation für Tarkowskijs kammerspielartig inszeniertes Drama.

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Nachdem wir die Familienmitglieder in einem ersten Gesprächsreigen ein wenig kennengelernt haben, stößt Otto gegen Abend mit einem wertvollen Geschenk zu der versammelten Festrunde; um Alexander eine besondere Freude zu machen, opfert (8) er eine wertvolle Landkarte. Kurz danach stürzt er, "wie vom Blitz getroffen", auf den Fußboden. "Es ist keine Gefahr. Es war nur ein böser Engel, der mich berührt hat", beruhigt er die verstörte Festrunde. Doch die »heilige Krankheit« - wie die Epilepsie von Hippokrates bezeichnet wird - ist ein Vorzeichen nahenden Unheils. Plötzlich setzt dröhnender Lärm, wie der von vorüberfliegenden Kampfjets, ein, Gegenstände fallen zu Boden, Glas zerbirst. Wenig später sitzen die Familienmitglieder vor dem Fernseher und lauschen wie in Trance den stockenden Worten des Premierministers, der die Bürger um Ordnung und Organisation "gegen dieses Chaos" bittet und vor Panik warnt. Offensichtlich ist Schlimmes in ganz Europa passiert, was genau läßt Tarkowskij offen, doch aus dem Kontext - es ist von Sprengköpfen die Rede - legt sich ein atomarer Zwischenfall nahe.

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In der Folge zeigt Tarkowskij auf eindrückliche Weise die unterschiedlichen Strategien mit dieser Krise umzugehen. Zunächst sind alle geschockt, Adelaide erleidet einen hysterischen Anfall und gibt sich die Schuld an der Katastrophe. Das ermöglicht Viktor in seiner Rolle als Arzt in Erscheinung zu treten, er spritzt Mutter und Tochter mit einem Beruhigungsmittel nieder. Alexander lehnt Viktors Angebot mit dem Hinweis ab, er trinke "stattdessen lieber was".

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Obwohl er also zunächst nicht viel anders reagiert, besinnt er sich kurze Zeit später und versucht aus der lähmenden Untätigkeit herauszutreten; er greift sich Viktors Revolver, (9) den dieser in der Arzttasche verwahrt, und begibt sich auf sein Zimmer. Vor der Reproduktion von Leonardo da Vincis »Anbetung der Könige« (10) stehend beginnt Alexander das »Vater Unser« zu beten und legt folgendes Gelübde ab:

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"Ich schenke Dir alles, was ich habe. Ich verlasse meine Familie, die ich liebe. Ich zerstöre mein Heim, und ich verzichte auf Jungchen. Ich werde stumm. Ich werde nie mehr mit jemandem sprechen, ich will verzichten, auf alles verzichten, was mich an das Leben bindet, wenn Du nur machst, dass alles wieder so wird wie zuvor, so wie heute morgen, so wie gestern. Und dass du von mir nimmst diesen todbringenden, qualvollen und tierischen Schrecken."(11)

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Alexander scheint das Gesagte ernst zu meinen, wirkt jedoch noch unschlüssig, wie er das Versprechen in die Tat umsetzen soll. Von einem Alptraum erwacht, erblickt er Otto auf dem Balkon, der ihm nun eine "letzte Chance" eröffnet: Er müsse zu Maria, dem Dienstmädchen, gehen "und bei ihr liegen". Sie sei eine Hexe - und zwar eine "in der guten Bedeutung" -, die, da mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet, das Unheil abwenden könne. Alexander steigt, obwohl er unsicher ist, ob der Postbote nicht einen schlechten Scherz mit ihm treibt, dennoch die Leiter herab, die Otto für ihn an den Balkon gelehnt hat, und fährt zu Maria; diese nimmt ihn auf und tröstet ihn. Ob die beiden miteinander schlafen, wird nicht direkt gezeigt, doch Marias Worte "Weine nicht, weine nicht. Es wird doch alles gut. Liebe mich." und das im Raum schwebende Bett legen diese Deutung nahe.

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Am nächsten Morgen erwacht Alexander auf seiner Couch aus einem weiteren Alptraum. Stereoanlage und Telefon funktionieren inzwischen wieder, die restlichen Familienmitglieder sind bereits um den Frühstückstisch versammelt, plaudern über Nichtigkeiten und kränken einander in gewohnter Manier. Alles scheint wieder beim Alten. Ist also Alexanders Bitte erhört worden oder sollte überhaupt alles nur ein böser Traum gewesen sein? Eine Antwort darauf fällt gar nicht leicht, doch Tarkowskij gibt dem irritierten Zuschauer ein deutliches Orientierungszeichen: Die Leiter, die Otto letzte Nacht an den Balkon gelehnt hat, steht immer noch unverrückt an ihrem Platz.

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Auf dieser steigt Alexander nun ein zweites Mal herab, versteckt sich vor seiner Familie und lauscht ihren Gesprächen. Nun steht endgültig fest, dass sich nichts verändert hat, Alexanders innigster Wunsch scheint sich also erfüllt zu haben; trotzdem stellt sich bei Alexander kein Gefühl der Erleichterung ein, im Gegenteil das Gehörte und Gesehene quittiert er nur mit Kopfschütteln und unverhohlenem Unmut. Und obwohl die schlimmste Gefahr bereits gebannt ist, macht sich Alexander nun daran, sein "Gelübde" zu erfüllen. Nachdem seine Familie zu einem Spaziergang aufgebrochen ist, verbrennt Alexander sein geliebtes Haus. Die bestürzten Familienmitglieder eilen herbei, die Flammen haben das Haus aber fast schon vollständig zerstört. Alexander will zuerst seine Tat erklären, verstummt dann aber gemäß seinem gegebenen Versprechen. Ein Krankenwagen kommt ins Bild, zwei Krankenwärter nehmen Alexander in Verwahrung und fahren mit ihm, an Maria und Jungchen vorbei, davon.

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Auf Jungchen, der außer am Anfang und am Ende des Filmes kaum in Erscheinung tritt, ruhen die letzten Einstellungen: Mit Mühe schleppt er zwei schwere Eimer Wasser zu dem verdorrten Baum, den er mit seinem Vater am Beginn des Filmes gepflanzt hatte; er beginnt, diesen aufmerksam zu wässern, so wie es der Mönch gemäß einer alten Legende täglich getan hat und dadurch nach drei Jahren den toten Baum wieder zum Leben erwecken konnte. Jungchen, der zuvor wegen einer Halsoperation nicht sprechen konnte, richtet - zu Füßen des Baumes liegend - an den abwesenden Vater die Worte: "Im Anfang war das Wort ... Warum, Papa?" und greift damit den Faden, den der Vater ihm am Beginn des Filmes ausgelegt hatte, wieder auf. Mit einem Schwenk auf die lichtdurchflutete blätterlose Baumkrone und der Einblendung der Widmung: "Dieser Film ist meinem Sohn Andrusja gewidmet - mit Hoffnung und Vertrauen." endet der Film.

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Kontroversielle Rezeption

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Diese einfache und zugleich komplexe Geschichte einer Geburtstagsfeier kleidet Tarkowskij in eine für ihn ungewöhnlich "geschlossene Handlungsstruktur mit weitgehender Raum-Zeit-Einheit". (12) Gleichzeitig wird der lineare Handlungsverlauf immer wieder unterbrochen durch eingestreute Traumsequenzen mit verstörenden Schwarz-Weiß-Bildern, die die beklemmende apokalyptische Atmosphäre der angedeuteten Katastrophe visualisieren und verstärken. Diese Durchmischung des klar strukturierten Handlungsaufbaus mit alptraumhaften Sequenzen sowie die Einbeziehung sehr heterogener religiöser Symbole und Praktiken (13) macht einerseits den Reichtum des Filmes aus, erschwert aber eine eindeutige Interpretation. Dennoch scheint gerade dieser Film - was ihm jeweils zugute gehalten oder angekreidet wird - Tarkowskijs am wenigsten vieldeutiger zu sein. So schreibt etwa Klaus Kreimeier, der ansonsten von Tarkowskijs Œevre sehr angetan ist, unter Hinweis auf seine Exilserfahrung und tödliche Krankheit:

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"Eine »Krankheit zum Tode« - eine Krankheit, die auch zum Exitus der Dialektik in der Kunst führte, zum Ende der Ambivalenzen in seinem Werk, zum Tode jener erregenden Spannung zwischen Diesseitigkeit und Eschatologie, Humanismus und Erlösungsmystik, Realismus und Hieroglyphik, die seine besten Filme in so vollendeter Balance gehalten hatte. OFFRET, in Cannes 1986 als Meisterwerk gefeiert und wenige Monate später zu seinem Testament erklärt, wurde Tarkowskijs Abstieg in die Niederungen der Metaphysik: Schlusspunkt einer Entwicklung, in der viel von der Tragik, der Unausweichlichkeit dieses Endes angelegt war." (14)

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Einige Seiten weiter präzisiert Kreimeier seine Einwände folgendermaßen:

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"Die Bedeutungsschwere des Films, die den Zuschauer zunächst einschüchtern mag, hält der Prüfung nicht stand; sie erweist sich als phrasenhaft, neigt fatal zu Überdeutlichkeit. Tarkowskijs Idolatrie, seine nahezu sakrale Verehrung bedeutender Werke der Renaissance-Malerei ... richtet hier autoritäre Hinweistafeln auf, die den Zuschauer peinlich bevormunden. ... So subtil die Konstruktion - so despotisch die Botschaft. Tarkowskij läßt dem Zuschauer keinen Spielraum; er verweigert ihm die Möglichkeit, über Bedeutungsvarianten, Ambivalenzen, Alternativen nachzudenken. ... Namen und Figuren sind fest umrissene Bedeutungsträger: die Magd Maria symbolisiert die Jungfrau Maria, Jungchen ist ein Ebenbild Jesu; die Beischlafszene zitiert und wiederholt die unbefleckte Empfängnis der Heilsgeschichte. ... Und wenn OFFRET ein religiöser Film ist, vereinigt er alle repressiven Wesenszüge der Religion." (15)

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Während diese Kritik wenigstens versucht das Unbehagen an dem Film argumentativ zu begründen, beschränken sich andere Besprechungen nicht selten auf die Feststellung von platten Pauschulurteilen: von "militantem Irrationalismus", "katastrophengeschwängerter Melancholie", "elitärem Einzelgängertum" oder vom "Tempel des Autoritarismus" ist etwa die Rede. (16)

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In diametralen Gegensatz dazu meint etwa Urs Jaeggi in seiner Besprechung, die exemplarisch für andere steht:

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"Tarkowskijs DAS OPFER ist von letzter Konsequenz. Auf der Suche nach dem Entscheidenden ... hat er eine Parabel geschaffen, die einerseits von bestechender Klarheit und Transparenz, andererseits in ihrem tiefsten Innereren geheimnisvoll bleibt. Der Film läßt sich nicht einfach aufbrechen. Zu seinem Kern vorzudringen, erfordert die Mitarbeit des Zuschauers." (17)

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Wer von den Kritikern hat nun recht? Auf den Einwand der Bevormundung des Zuschauers hat Tarkowskij selbst folgendermaßen geantwortet:

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"Der parabelhaften Form entsprechend läßt alles, was im OPFER geschieht, ohnehin eine Reihe von Deutungen zu. Es gibt mehrere unterschiedliche Lesarten, und dies liegt durchaus in meiner Absicht - ich will keinem eine bestimmte Lösung aufdrängen, habe von dem Ganzen natürlich meine eigene Auffassung. Eine auf Eindeutigkeit angelegte Interpretation jedenfalls liefe der inneren Struktur meines Films zuwider." (18)

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Bei so gegensätzlichen Interpretationen legt sich die Vermutung nahe, dass vielleicht weniger die Form als vielmehr der Inhalt, also die Behandlung der Opferthematik, die starke emotionale Ablehnung bedingt. Thomas Rothschild bringt dies auf den Punkt, wenn er das "ewig konstitutionelle Opfer, ... ausgeliefert einem Leid, dessen Herkunft im Dunkeln bleibt und das nur Glaube und Demut nehmen können," (19) kritisiert. Kreimeiers bereits zitierter Vorwurf, dass der Film alle repressiven Wesenzüge der Religion vereinige, weist in eine ähnliche Richtung. Zuschauer und Kritiker aus einem religiösen Umfeld haben hier - nicht immer, aber doch häufig - weniger Berührungsängste, sind aber andererseits gefährdet, die eigenen Vorstellungen dem Film überzustülpen und daher wichtige Details zu übersehen. (20) Diesen Details werden wir uns im Folgenden zuwenden.

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Dynamik des Opfers

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OFFRET erzählt die Geschichte von Alexanders Versuchung, die eingetretene Krise mit einem gewaltsamen (Menschen)Opfer abzuwenden, sowie die Geschichte seiner Bekehrung von dieser Versuchung. Wendet man sich dabei der Frage zu, wem und vor allem was geopfert werden soll, erkennt man bei genauerem Hinsehen, dass Tarkowskij die biblische Geschichte vom Opfer Abrahams (21) hier diffizil in einen modernen Kontext hinein verwebt.

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Alexander ist, wie wir aus seinem Gebet gesehen haben, angesichts der drohenden Katastrophe bereit, alles zu opfern. Für die Erlösung von diesem "todbringenden, qualvollen und tierischen Schrecken" ist er bereit, alles hinzugeben, selbst seinen Sohn. Der Film spielt bis zuletzt mit der Möglichkeit des Opfertodes von Jungchen: zu Beginn nur verdeckt durch das Spiel mit dem bereits angesprochenen Revolver, am Schluß, wenn das Haus brennt und niemand weiß, wo Jungchen ist, ganz offen. Wer den Film gesehen hat, erinnert sich in diesem Zusammenhang sicherlich an die große Erleichterung, die sich erst einstellt, als Jungchen mit den beiden Eimern endlich ins Bild kommt.

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Schon ganz zu Beginn des Filmes führt Tarkowskij eine versteckte Andeutung dieser Versuchung ein: Jungchen springt seinen Selbstgespräche führenden Vater jäh von hinten an. Beide fallen ins Gras, dabei ertönt ein Donnergeräusch, sie rappeln sich hoch. Jungchen blutet aus der Nase. Aus dem Off ertönt Alexanders verstörte Stimme: "Junge! Mein Junge! Herrgott, was ist mit dir los?" Die nächste Einstellung zeigt den schwankenden Alexander, der ohnmächtig ins Gras sinkt. Es folgt ein Schnitt, die erste Traumsequenz wird eingeblendet: Blicke in eine menschenleere Straßenschlucht, ein umgekipptes Autowrack - verstörende Schwarz-Weiß-Bilder der Verwüstung; das letzte Bild zeigt eine schmutzige Scheibe, in dem sich Häuser spiegeln, entlang der Scheibe rinnt Blut herab. Hier blitzt die drohende - "uralte" - Antwort zur Lösung einer fundamentalen Krise schon anfanghaft auf: die eines Menschenopfers.(22)

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Eindeutigere Bezüge folgen jedoch erst nach der eingetretenen Katastrophe: Man sieht Alexander, wie er aus Viktors Arzttasche einen Revolver entnimmt. Die nächste Szene zeigt den Jungen schlafend im Bett: Er liegt mit dem Gesicht nach unten, seine weiße Halsbinde tritt deutlich in der Bildmitte hervor, sein Arm läuft - wie bei einem Gebundenen - den Rücken entlang. Das Filmbuch beschreibt die Szenerie wie folgt: "Alexanders Hand auf dem Kissen, neben Jungchens Kopf. Jungchen dreht sich im Schlaf um. Seine Augen sind geöffnet. Alexander erhebt sich, einen blutbefleckten Verband in der Hand, und entfernt sich vorsichtig, rückwärts gehend aus der Tür." (23) Alexander geht nun in sein Zimmer, bleibt vor der Leonardo-Reproduktion stehen und beginnt das »Vater Unser« zu beten. Es folgt das bereits zitierte Opfergelübde, in dem er Gott gegenüber die Bereitschaft bekundet, auf alles, was ihm lieb ist zu verzichten, auch auf Jungchen. Nach einer kurzen Zwischensequenz mit Tochter Marta folgt die nächste Traumsequenz. Im Filmbuch wird die Szenerie folgendermaßen beschrieben:

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"Blick auf ein heruntergekommenes, menschenleeres Gehöft, kahle Bäume auf dem parkähnlichen Vorplatz, Schnee auf der Erde, Alexander steht klein zwischen den mächtigen Baumstämmen im Schnee, sieht sich irritiert um, geht einige Schritte.

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Blick auf den Boden: vermoderndes Laub, feuchte Erde, Schneereste, Abfälle, Zeitlupenschwenk von einem angeschlagenen Emailteller mit Münzen darin und um ihn herum verstreut, über einen modrigen Stofffetzen auf nackte Kinderfüße im Schnee.

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ALEXANDER: (off) Mein Junge!

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Die Kinderfüße drehen sich, laufen davon, Schwenk vom Boden aufwärts zu einem der verwahrlosten Gebäude. (Geräusch: aufkommender Wind, Sturm, Brausen, das die singende Stimme schließlich übertönt) Blätter fliegen durch die Luft, Laub wird aufgewirbelt, Äste fallen. Eine Brettertür an dem alten Schuppen weht lärmend auf - die Öffnung hinter ihr ist vermauert mit grob verfugten Ziegeln. Das Krachen der auf- und zuschlagenden Tür »weckt« Alexander." (24)

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Die nackten Kinderfüße im Schnee und Alexanders Aufschrei deuten wir als weiteren Verweis auf die drohende Opferhandlung. Das letzte Bild - die vermauerte Tür - hingegen als ein Warnzeichen für Alexander, dass dieser uralte Ausweg aus der Krise für ihn verschlossen bleibt. Diese Traumvision erinnert in seiner Funktion dem Eingreifen des Engels Jahwes als Abraham zur Opferung Isaaks schreitet. (25) Doch im Unterschied zur alttestamentlichen Geschichte ist bei Alexander die Versuchung noch nicht zur Gänze ausgestanden. Nachdem ihm Otto den Weg zu Maria als letzte Chance offeriert, geht Alexander, bevor er sich auf den Weg macht, ins Wohnzimmer und entwendet neuerlich Viktors Revolver. Vorbei am Rest der Familie schleicht er damit in Jungchens Zimmer, bleibt vor dessen Bett zögernd stehen, um schließlich doch Ottos Rat zu folgen.

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Bei Maria angekommen erzählt er ihr die für diesen Zusammenhang paradigmatische Geschichte vom verwilderten Garten seiner Mutter: Mit großem Eifer habe er den Garten in der Absicht umgestaltet, seiner Mutter eine Freude zu machen. Doch seine Ernüchterung ist schrecklich, als er am Ende aus dem Fenster sieht: "Wo war all das Schöne? Wo war es geblieben? All das Natürliche? Es war so abscheulich, so widerwärtig. Alle diese Spuren von Gewalt."

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Als Maria nach der Reaktion der Mutter fragt, scheint der sich selbst bemitleidende und in sich versponnene Alexander diese Frage gar nicht zu hören. Statt einer Antwort wird Maria mit der unvermittelten Bitte Alexanders konfrontiert, sie möge mit ihm schlafen. Auf ihre abwehrende Geste hin ergreift er den mitgebrachten Revolver und setzt sie mit den Worten: »Töte uns nicht. Rette uns Maria.« an seine Schläfe. Er will ganz offensichtlich die Rettung immer noch mit Gewalt erzwingen.

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Maria - die Magd und Hexe - reagiert überraschend. Den Abgrund in Alexander erkennend und sichtlich ohne Angst wendet sie sich ihm zu und tröstet ihn. Schließlich scheint sie nachzugeben und schläft mit ihm. Was auf den ersten Blick wie die Ausführung eines magischen Rituals anmutet, deuten wir im Zuge unserer Interpretation als notwendige Voraussetzung von Alexanders Abkehr vom Pfad der Gewalt. Durch die liebende Zuwendung Marias wird Alexanders Horizont geweitet, erst jetzt wird er fähig zu einer neuen Wahrnehmung. Dies zeigt sich deutlich in der nun folgenden Szene. Am Ende der hier eingefügten Traumsequenz, die wiederum düstere Schwarz-Weiß-Bilder der Verwüstung zeigt, (26) stammelt er verstört auf die Frage seiner Frau: "Wer hat dich so erschreckt? Alexander!" scheinbar kontextlos "Mama?". Wo Marias Frage nach der Mutter noch ins Leere ging, kann Alexander sich - von eigenem Leid absehend - nun endlich auf andere Menschen hin öffnen, hier auf seine Mutter hin. Die in der Geschichte mit dem Garten schon vorsichtig angedeuteten unbewältigten Schuldgefühle scheint er jetzt erstmals zulassen zu können. Ein Zulassen und Eingestehen von eigener Schuld und Verblendung ist immer der erste Schritt zu einer Umkehr. Diese Umkehr vollzieht sich in der Folge auch auf der Ebene des Opfers: Alexander läßt endlich von der Versuchung zu einem gewaltsamen Opfer - sei es nun in der Hingabe seines Sohnes oder der seines eigenen Lebens - ab. Wir sehen, wie Alexander den Revolver wieder in Viktors Tasche zurück legt.

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Seine Bekehrung bleibt indes nur partiell. Alexander fühlt sich verpflichtet, sein "Gelübde" nun einzulösen und übergibt sein geliebtes Haus den Flammen. Die gleichzeitige Faszination und Absurdität dieses Opferrituals wird von Tarkowskij genial in Szene gesetzt. Faszinierend ist es, weil das Opfer gemäß Ottos Diktion wirklich ein wertvolles ist und weil die Brandszene in einer minutenlangen Einstellung sehr eindrucksvoll dargestellt wird. (27) Absurd erscheint das Opfer durch die theatralischen Gesten Alexanders, die die Zerstörung des Hauses umrahmen. Als beinahe schon alles in Schutt und Asche liegt klingelt im Haus das Telefon und Alexander rennt - so als erwarte er den Anruf Gottes höchstpersönlich - zum Haus und kann von den herbeieilenden Familienmitgliedern nur mit Mühe abgehalten werden. Und als dann der Krankenwagen kommt, um den "Verrückten" abzuholen, dekonstruiert Tarkowskij jegliches Pathos durch Szenen mit einem fast Slapsticartig anmutenden Hin-und-Her-Gezerre zwischen Alexander, seiner Familie und den beiden Wärtern.

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Hier wird das "Pathos der Tränen" (28), zu dem die vorangegangenen Bilder einladen könnten, wieder gebrochen. Obwohl also Tarkowskij durchaus - wie bereits mit der Selbstverbrennung Domenicos in NOSTALGHIA - den Zuschauer mit einer spektakulären Aktion wachrütteln will, bleibt er auf jener Stufe, die das "Gelübde" bloß mechanisch erfüllt, nicht stehen. Für ihn trägt Alexander zwar Züge eines "Gotterwählten, dazu ausersehen, die uns bedrohenden, lebenszerstörenden, heillos ins Verderben führenden Mechanismen des Daseins vor aller Welt zu entlarven und zur Umkehr aufzurufen," (29) doch der Schluß des Filmes geht über diesen Aspekt hinaus. Alexanders »Brandopfer« hat zwar mahnende, jedoch noch keine transformierende Kraft. Die Zerstörung des Hauses ist zwar ein Akt der Entsagung und des Loslassens von materiellen Bindungen, dennoch bleibt es ein gewaltsamer Akt, aus dem noch nichts Neues, Lebenspendendes hervorgeht. Alexanders "Mission" endet denn auch konsequenterweise mit seinem Verstummen und seinem "Entschwinden". Der Mission des "Rufers in der Wüste" (30) ähnlich, bleibt es ihm vorbehalten, einem anderen "den Weg zu ebnen" Jungchen, sein Sohn wird das ausführen, wovon Alexander am Beginn des Filmes zwar spricht, was er aber selbst nicht auszuführen vermag; vielleicht, weil er eben selbst noch zu stark in die Logik der auf Gewalt gegründeten Zivilisation verstrickt ist. (31)

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In den ersten Szenen des Films schon schwärmt Alexander von der Großartigkeit des Rituals, das der Mönch in der erwähnten Legende beharrlich ausführt, und macht sich gleich darauf mit seinem Versuch einer Übertragung lächerlich: "Man, ah, müßte, sagen wir mal, am morgen aufwachen und Punkt sieben Uhr aufstehen, ins Badezimmer gehen, ein Glas nehmen, es mit Wasser füllen und dann in die Toilette schütten. Weiter nichts." (32) Alexander muß mühsam und Schritt für Schritt lernen, was es heißt, ein Opfer zu bringen, und zwar eines das neues Leben spendet und nicht, wie jenes Archaische, ständig neue und sinnlose (Menschen)Opfer fordert. Auf diesem Weg flüstert jedoch nicht - wie in BREAKING THE WAVES - ein externer Gott seine orakelhaften Direktiven zu; Alexander - und mit ihm der Zuschauer - muß von anderen Menschen lernen: Vom merkwürdigen Otto und seinem wertvollen Geschenk; von Maria, der unscheinbaren Magd, die ihn vom Pfad der Gewalt abbringt; und zuletzt von Jungchen, seinem "stummen" Sohn, der - ohne Gewalt und Pathos - ausführt, was bereits am Beginn des Filmes als Lösung der Krise aufscheint. Dabei lernt der Sohn, was dem wortgewaltigen Vater bis zuletzt versagt bleibt: die Fähigkeit zu hören und zu fragen, beides gleichermaßen Grundbedingungen für eine Hinterfragung und Transformierung überkommener Opfervorstellungen.

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Tarkowskij selbst betonte ausdrücklich, dass seine Hauptfigur ein "schwacher Mensch im ganz gewöhnlichen Sinne des Wortes" sei: "Er ist kein Held, aber ein denkender ein aufrichtiger Mensch, der sich für seine höchsten Ideale zu opfern vermag. ... Bei all dem erfüllt er lediglich die Mission seines Herzens, ist also gar nicht Herr, sondern nur Diener seines Schicksals. Seine Anstrengungen wird möglicherweise niemand bemerken, doch gerade auf ihnen basiert die Harmonie unserer Welt." (33) Das zuletzt Gesagte gilt in noch viel stärkerem Maße für Jungchen, denn sein Handeln erstaunt uns, ja vielleicht bewundern wir es sogar, auf dem skizzierten apokalyptischen Hintergrund hat seine Geste für uns Erwachsene aber auch etwas Kindlich-Naives an sich. Doch seinem unspektakulären Beispiel - man beachte in diesem Zusammenhang seine Namenlosigkeit! - des beharrlichen und unermüdlichen "Wässerns" können wir täglich folgen, jenem von Alexander wohl nie oder nur in extremen Ausnahmesituationen. Ferner bleibt, wie wir bereits ausgeführt haben, Alexanders Beispiel, letztlich doch der Gewalt verhaftet, Jungchens Beispiel hingegen weist hier einen, wenn auch unpopulären, weil mit täglichen Mühen verbundenen, aber doch möglichen Ausweg.

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Die Tiefe von OFFRET erweist sich gerade darin, dass Tarkowskij in der oben skizzierten Dekonstruktion jeglichen Pathos' dem ihm häufig unterstellten prophetischen Gestus entgegenwirkt und stattdessen die Hoffnung auf Veränderung - in Gestalt eines gänzlich unspektakulären Aktes - allein den zukünftigen Generationen und ihrer freiwilligen Bereitschaft, Opfer zu bringen, überantwortet. Im Drehbuch lässt Tarkowskij Alexander - als er an Jungchen im Krankenwagen vorbeifährt - noch erschrocken zurückweichen, "damit der Sohn ihn nicht bemerkt"; im Film hingegen sieht er ihm stumm und staunend bei seinem Treiben zu. Mit der den Film beschließenden Widmung an seinen Sohn unterstreicht Tarkowskij die hier skizzierte Verschiebung noch zusätzlich. (34)

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BREAKING THE WAVES von Lars von Trier

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Die Handlung

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In BREAKING THE WAVES erzählt Lars von Trier die Geschichte einer Hochzeit und ihrer tragischen Folgen: (35)

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"Jan und Bess begegnen einander. Sie lieben einander uneingeschränkt und ohne Scham. Am Beginn des Filmes spüren wir, dass sie ein perfektes Paar sind. Er im Besitz einer reichen Lebenserfahrung und sich seiner Gefühle bewusst; sie mit ihrer überwältigenden Leidenschaft, unmittelbar hervorgerufen durch ihre Begegnung - mit der Naivität eines Kindes, aber in der intuitiven Ahnung, dass diese Beziehung genau die richtige ist. Wir spüren aber auch die Spannungen mit der Gemeinschaft, in der sie leben, aber nichts kann Bess und Jan etwas anhaben solange sie zusammen sind.

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Dann aber kommt die Trennung und der Unfall. Anfangs noch ist Jan realistisch. Er erkennt, dass er niemals mehr ihr Liebhaber sein wird. ... Weil er ihr Bestes will, fordert er sie auf, sich einen anderen Liebhaber zu suchen. Jan versteht auch sofort, dass Bess ihn niemals verlassen wird. Ihre Religion, ihre Treue, ihre Liebe würde es ihr niemals ermöglichen. Sie reagiert zornig und empört über seinen Vorschlag, er aber ist überzeugt, dass sie niemals ohne reale, körperliche Liebe leben kann und sucht nach einem Weg, sie zu überlisten.

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Er belügt sie. Er erzählt ihr, sie solle ihm von ihren Abenteuern erzählen, weil ihm das Lustgewinn verschaffe und ihn am Leben erhalte. Er glaubt daran, dass sie das für ihn tun wird, und ist gleichzeitig überzeugt, dass dies der einzige Weg ist, sie am Leben zu erhalten, wiewohl er darum weiß, wie schmerzhaft es für ihn sein wird, dies anhören zu müssen.

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Bess wird getäuscht; sie tut »Gutes« für ihn. Er tut »Gutes« für sie. Keiner zwingt den anderen. Beide agieren aus ihrem Antrieb »Gutes« zu tun. Jan war nie in seinem Leben krank und plötzlich ist er ein Gefangener seines eigenen Körpers ... jenes Körpers, der ihm bisher so gute Dienste geleistet hatte. Auf seinem Krankenbett überkommt ihn zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl der Verbitterung und dieses Gefühl ist nicht leicht zu vereinbaren mit seiner bisherigen Lebensauffassung, ein Gefühl das ihn erschreckt.

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An den Folgen seiner Verletzungen und schlechter Träume leidend und unter dem Einfluß starker Medikamente stehend verliert Jan immer mehr seine Selbstkontrolle; doch Bess kann aufgrund ihres beschränkten Geistes die Äußerungen des kranken Jan nicht von jenen des gesunden Jan, den sie liebt, unterscheiden. In den seltenen Momenten der Klarheit vermag er seinen schlechten Einfluß auf Bess zu erkennen und ist tief betroffen. Bald erkennt er, dass allein eine strikte Trennung zwischen ihm und Bess Erlösung schaffen kann. Bei dem Versuch, sie zu retten, verliert er sie. Beim Versuch »Gutes« zu tun! Beim Versuch ihn zu retten, beim Versuch »Gutes« zu tun, wendet sich die Welt, die sie liebt, gegen sie.
Aber das »Gute« wird immer erkannt werden ... irgendwo!"

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Rezeption des Films

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Die Geschichte, die der Regisseur hier selbst summarisch nacherzählt, trägt alle Züge eines modernen Melodrams, eines tragischen allerdings, denn es fehlt das klassische Happy End. Diese melodramatische Komponente wurde denn auch in der Rezeption immer wieder herausgestrichen. Vom "großartigen", "tränenreichen", "anregenden", "herzergreifenden" bis zum "bizarren" Melodram reicht das Spektrum, von "Verdichtung des Lebens", "Vergebung der Sünden im Diesseits", "pulsierender Leidenschaft" oder gar von "Kino mit Strahlenglanz" ist die Rede. (36)

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Nimmt man diese simple und auf den ersten Blick unspektakuläre Story, die Lars von Trier uns hier nacherzählt, zum Maßstab, wirken diese schwülstigen Superlative seltsam überhöht, geschweige denn die anklingende religiöse Metaphorik angebracht. Was also macht diesen Film so interessant? Die einfache Liebesgeschichte allein kann es wohl nicht sein, wenn auch die beiden Hauptfiguren in ihrer Verschiedenheit einen reizvollen Gegensatz bilden und sie sich in ihrer durchaus sympathischen Zeichnung als Identifikationsfiguren gut eignen. Der Film wird aber erst dadurch interessant, dass anhand dieser beiden Hauptfiguren die Begegnung zweier sehr gegensätzlicher, wenn nicht gar unversöhnlicher Milieus geschildert wird: Eine lebensfrohe, sinnenfreudige, individualistische und gottabgewandte Welt auf der einen Seite und eine sinnenfeindliche, nach strengen religösen Grundsätzen lebende, gottesfürchtige Gemeinschaft auf der anderen Seite. Was Trier in seiner Director's Note als unscheinbaren Hintergrund in zwei Nebensätze kleidet, bildet den entscheidenden dramatischen Hintergrund und den eigentlich interessanten Gegenstand seines Filmes: Die Geschichte von zwei aufeinander prallenden Welten, des daraus hervorgehenden Konfliktes und dessen Lösung durch ein Opfer.

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Wie bereits bei OFFRET ist auch hier die Behandlung des Opferthemas dasjenige, das die Kritiker spaltet. Bei den bereits angeführten Besprechungen wird Bess' unbedingte Opferbereitschaft, ihre unbedingte Hingabe zur Rettung Jans meist bewundernd, von manchen sogar im Gewand einer Passionsgeschichte, eines Martyriums gedeutet. Selbst der Kritiker des Spiegel bleibt von der "archaischen Frömmigkeit", vom "Schwindel der höheren Art" nicht ganz unberührt. Hingegen stehen Andreas Kilb und Christiane Peitz von der liberalen Zeit dem Film nicht ganz überraschend skeptisch bis ablehnend gegenüber. (37) Während gegen OFFRET auch Kritik wegen der - gemessen an Tarkowskijs übrigen Filmen - stilistischen Reduktion geübt wird, wird bei BREAKING THE WAVES in den meisten Fällen nahezu ausschließlich Kritik an der Botschaft, die der Film vermittelt, geübt.

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Dynamik des Opfers

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Der Film beginnt mit einer Hochzeitsfeier und deren Vorbereitungen.

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Dabei lernen wir eine Reihe von Menschen, vor allem die beiden Hauptpersonen Jan und Bess kennen. Gleichzeitig lernen wir aber auch diese zwei sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Welten kennen, denen die Protagonisten entstammen. Hier Jan und seine Freunde: lebenserfahren, den sinnlichen Freuden des Lebens zugetan, ohne religiöse und heimatliche Bindung leben sie in den Tag hinein, gebremst allein durch den Rhythmus ihres harten Arbeitsalltags.

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Terry in ausgelassener Stimmung bei der Hochszeit seines Freundes Jan

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Dort Bess und ihr Dorf: eine leidenschaftslose, dafür umso gottesfürchtigere Gemeinschaft, eng an Grund und Boden gebunden, mit strengen Hierarchien und Regeln und allem Fremden gegenüber skeptisch bis feindlich eingestellt. Bess, die "Naive", wird durch ihre Liebe zu Jan aus dem sie einengenden aber auch bergenden Schoß ihrer Gemeinschaft herausgeworfen und lebt in der Folge weder hier noch dort. Ihr Versuch, in beiden Welten zu leben bzw. zwischen beiden zu vermitteln, wird von Anfang an mit Skepsis betrachtet und führt schließlich zur Zuspitzung in ihrem Opfer. Schon nach einigen Minuten wird die explosive Dynamik dieser Situation meisterhaft in Szene gesetzt. Bei der Hochzeitsfeier kommt es zu einem "Trinkduell" zwischen Jans Freund Terry und einem der Gemeindeältesten. Wir greifen diese Szene näher heraus, weil sie uns die Gegensätzlichkeit der beiden Welten szenisch verdichtet vor Augen führt:

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Der ausgelassene Terry setzt sich an einen Tisch der Dorfältesten, nimmt seine Bierdose - wohlwissend, dass Alkoholgenuss im strengen Sittenkodex der Gemeinde verpönt ist -, setzt sie an und trinkt sie in einem Zug aus. Dabei lässt er genüsslich Bier aus seinen Mundwinkeln überquellen und den Hals entlang rinnen. Seine provokative Geste beendet er mit einem demonstrativen Rülpser. Einer der Ältesten beobachtet das Geschehen zunächst ungerührt, greift dann zum Limonadenkrug, schenkt sich ein Glas ein und wiederholt Terrys Handlung detailgetreu - einzig der Rülpser wird vermieden. Terry ergreift nun seine leere Bierdose und zerquetscht sie, begleitet von einem hämischen Lächeln. Der Alte überlegt kurz, greift nach seinem Glas und zerdrückt es mit seiner bloßen Hand. Das Glas zersplittert. Aus seiner blutenden Handfläche zieht der Älteste ungerührt die Glassplitter. Terry ist zunächst verdutzt, lacht dann aber. Niemand sonst lacht, wie Trier im Drehbuch betont.

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Dieser vordergründig humoristische Showdown erzählt in kaum zu überbietender Dichte bereits die Konfrontation der beiden Welten; diese Szene wird jedoch in ihrem programmatischen Charakter leicht falsch oder einseitig missverstanden, wie folgendes Beispiel verdeutlicht:

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"Das erste Kapitel des Films inszeniert Trier noch mit ungetrübter Leichtigkeit. Mit Vergnügen beobachten wir die Lebensfreude bei der Hochzeit und die komische Konfrontation der steifen Kirchenmänner mit den derben Arbeitern von der Ölplattform. Wenn dabei Terry ... in einem Trink-Zweikampf mit einem der Ältesten aus Spaß seine Bierdose zerdrückt und sein Gegner daraufhin mit ernstem Gesichtsausdruck ein Glas in der Hand zersplittern lässt, kann man allerdings schon die unbarmherzige Härte der Puritaner erahnen." (38)

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Was Terry in der Szene tut, ist uns geläufig, er lässt einfach seinem Begehren freien Lauf; die provokative Komponente dabei ist ganz unmissverständlich. Auch der Alte scheint zu verstehen, was hier vor sich geht, doch seine Reaktion ist überraschend für uns und wirkt fast skurril. Liest man diese Szene mit den Augen der mimetischen Theorie René Girards, erscheint seine Handlung in einem ganz anderen Licht. In seiner Analyse archaischer Gesellschaften - Bess' Dorf trägt noch viele Züge davon - betont Girard immer wieder, dass diese Gesellschaften nichts mehr fürchten als eine unkontrollierte Entfesselung der Leidenschaften; dies nicht etwa, weil sie ein Begehren nicht kennen, sondern gerade weil sie deren mimetischen, das heißt deren ansteckenden Charakter kennen und fürchten. Die beiden mimetischen Akte des Ältesten wiederholen zwar Terrys Gesten, modifizieren sie aber in entscheidenden Punkten: Mit dem genüsslichen Trinken eines harmlosen Glases Limonade bedeutet er Terry: auch ich kenne den Genuss und das Begehren. Mit dem darauf folgenden, weniger harmlosen Akt des Zerdrückens eines Glases und dem Verweis auf seine blutende Wunde bedeutet er ihm: ich kenne aber auch die Gefahren, die in einer Entfesselung der Leidenschaften begründet liegen. Trier komprimiert in dieser Szene einen wesentlichen Grundkonflikt des Filmes; wer diese Konfrontation, wie Achim Forst, lediglich als komischen Gag deutet, übersieht die sorgfältige Dramaturgie des Filmes.

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Ebenso geht an der Grundproblematik, die Trier hier aufreißt, vorbei, wer vorschnell oder einseitig für die eine oder andere Partei ergreift. Beide Welten funktionieren nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und haben ihre je spezifischen Licht- und Schattenseiten. Beide können autonom und auch nebeneinander existieren, jedoch nicht miteinander, denn sie verfolgen vollkommen gegensätzliche "Strategien" in der Organisation der Leidenschaften: Jans Welt versucht sie auszuleben und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen; Bess' Welt versucht sie, soweit wie möglich einzudämmen und damit in Schach zu halten. Bess wird durch die Begegnung mit Jan aus der einen herausgeschleudert und versucht nun sich in beiden zu bewegen. Dass dies vermutlich schief gehen wird, deutet uns Trier in dieser Eingangssequenz schon wie in einem Brennglas an. Auch die sorgfältige Komposition des Filmes (39) weist Schritt für Schritt auf die unausweichliche Dynamik der Handlung hin, die wie in einer griechischen Tragödie unerbittlich auf den Abgrund zuläuft.

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Der Stein, der diese Dynamik in Gang setzt, ist Jans Krankheit und die damit verbundene Verkettung unglücklicher Zufälle und Missverständnisse. Anhand der gegensätzlichen Reaktionen der beiden Liebenden selbst und der sie umgebenden Bezugspersonen (Bess' Schwägerin Dodo, Bess' Mutter und Großvater, der Pfarrer, Jans Freunde, Dr. Richardson) führt uns Trier rund um den dramatischen Verlauf von Jans Krankheit die unterschiedlichen "Strategien", mit Grenzerfahrungen wie Leid, Krankheit und Tod umzugehen, vor Augen. Dabei treten die jeweiligen Licht- und Schattenseiten der beiden Welten offen und zunächst noch ohne einseitige Polemik zu Tage: Hier steht der Einzelne mit seinem Streben, seine Wünsche und Bedürfnisse weitestgehend auszuleben, im Vordergrund; gleichzeitig wird gezeigt, wie existentielle Grenzerfahrungen strukturell ausgeblendet bzw. dort, wo sie dennoch eintreten, individualisiert und "professionalisiert" werden. Trier stellt dies an den Beispielen Krankenhaus und psychiatrischer Anstalt sehr anschaulich dar.

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Dort tritt das Individuum und sein Streben nach Glück gänzlich zurück; Leid, Krankheit und Tod sind Teil des Lebens und werden entweder als Schicksal hingenommen oder gar als Strafe Gottes spiritualisiert, wie es bei Bess geschieht. Andererseits wird im Laufe des Filmes immer deutlicher, dass Bess trotz ihrer psychischen Labilität als Individuum in dieser Gemeinschaft ihren Platz gefunden hat, während die moderne Gesellschaft auf ihre Labilität lediglich mit Ausgrenzung durch Einweisung in eine psychiatrische Anstalt zu reagieren weiß, wie es rund um den Tod ihres Bruders schon einmal der Fall war und wie es im weiteren Verlauf von Jans Krankheit wieder bevorsteht. Auch wird Bess' starker Glaube und die diesem Glauben innewohnende Kraft der technischen Rationalität und Gefühlskälte der Institution Krankenhaus gegenübergestellt. Gleichzeitig scheint die Gemeinde dem Schicksal Jans wiederum sehr teilnahmslos gegenüber zu stehen, da er ja ein Fremder ist. Die Grenzziehung zwischen Innen und Außen, zwischen Freund und Feind ist in dieser Welt rigoros.

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Trier gelingt es in der Folge, den Zuschauer durch stilistische Eigenheiten, wie Einsatz von Handkamera, Konzentration auf Groß- und Nahaufnahmen, ungewöhnliche Reißschwenks, Wackler der Kamera, Brüche und Leerstellen in der Montage, usw., (40) die alle den Eindruck von Unmittelbarkeit und Authentizität erwecken, in die dramatische Schilderung von Jans Krankheitsverlauf hineinzuziehen. Je weiter die Handlung vorantreibt, desto klarer wird der Graben, der die beiden Welten voneinander trennt, dies zeigt sich auch und gerade an den beiden Protagonisten: Jan, der Liebe nur in Gestalt von Sexualität denken kann, wird durch seine Lähmung seelisch schwer aus dem Gleichgewicht geworfen und durch starke Schmerzen und Medikamente noch zusätzlich beeinträchtigt. Er ist unfähig zu erkennen, dass Bess ihn um seiner selbst willen liebt, und vermag die Tragweite seiner kontraproduktiven Vorschläge nur in einigen lichten Momenten ansatzweise zu erkennen. Bess vermag aufgrund ihres "beschränkten Geistes" - wie Trier es selbst bezeichnet - und zusätzlich durch Selbstvorwürfe und Schuldgefühle geplagt die Äußerungen Jans nicht richtig einzuschätzen und verstrickt sich immer mehr in eine ausweglose Situation, in der sie von zwei vollkommen gegensätzlichen Impulsen regelrecht zermürbt wird. Dies zeigt sich exemplarisch ungefähr in der Mitte des Films in der Szene im Bus: dort geht sie wider Willen erstmals auf die perversen Wünsche Jans ein und befriedigt einen fremden Mann, steigt anschließend aus, stürzt zu Boden und erbricht aus Ekel.

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Bis hierher ist Triers Konzeption des Filmes weitestgehend stimmig. Doch an dieser Stelle kommt es zu einem eindeutigen Bruch. Nachdem sich Bess wieder aufgerappelt hat, spricht sie mit ihrem Gott und bekennt: "Lieber Gott, ich habe gesündigt." Ihr bisher so strenger Gott reagiert aber vollkommen überraschend: "Maria Magdalena hat auch gesündigt, dennoch ist sie mir eine der Liebsten.", sagt er zu ihr in einer Geste unerwarteter Barmherzigkeit. War Bess' Gottesbild bisher in unseren Augen zwar eng und lebensfeindlich, so doch wenigstens konsistent. Hier zerfällt es erstmals in zwei unversöhnliche, sich widersprechende Hälften: die eines unbarmherzigen, fordernden und die eines verzeihenden, gnädigen Gottes. Beide Hälften werden sich nun im Film abwechselnd, je nach Rollenaufteilung, zu Wort melden.

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Bess in Zwiesprache mit ihrem Gott

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In der folgenden Szene setzt Trier gleichsam als bestätigenden Nachspann einen Hasen ins Bild; dieser sieht Bess an, schnuppert mit seiner Nase und schon - wie wenn Gott persönlich ihr diesen Hasen als Zeichen ihrer "Unschuld" geschickt hätte - lächelt Bess wieder. Als sie schließlich von Dodo während der Messe erfrägt, dass es Jan inzwischen ein wenig besser geht, schließt sie sichtlich zufrieden ihre Augen, denn nun weiß sie endlich um die Wirkmächtigkeit ihres Opfers. Doch Jan ist nicht zufrieden mit ihr, sie soll endlich mit einem Mann "richtig" schlafen. Bess allerdings sträubt sich nochmals vehement gegen Jans "Wunsch", denn sie kann ein derartiges Vorgehen mit ihrem Moral- und Sittenkodex nicht in Einklang bringen. In der folgenden "Rücksprache" mit ihrem Gott äußert sie den Einwand, dass sie damit ihr Seelenheil verkaufe; obwohl ein wenig naiv ist Bess also durchaus fähig, Handlungskonsequenzen abzuschätzen und Widersprüche zu ihrem Welt- und Gottesbildes wahrzunehmen. Doch ihr Gott - diesmal wieder in seiner unbarmherzigen, fordernden Gestalt - legt ihr nahe, nicht so egoistisch zu sein, und sich zu entscheiden, ob sie ihr Leben oder jenes von Jan retten will. Von ihrem Gott derart "bedrängt" ist Bess Opfergang nun endgültig vorgezeichnet.

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Lars von Trier bedient sich in der Folge einer Reihe von spektakulären Elementen, um diesen Opfergang möglichst publikumswirksam zu inszenieren: Zunächst läßt er Bess von einer Minute auf die andere in die Prostituiertenrolle mit entsprechendem Outfit schlüpfen. In einer Parallelmontage wird ihr erster "Job" mit dem Herzstillstand und der anschließenden Rettung Jans in einen direkten Zusammenhang gestellt. (41) Als sich Jans Zustand später wieder verschlechtert ist sie sogar bereit, sich auf ein Schiff zu begeben, auf dem Trier das personifizierte Böse in Gestalt seines "Paradebösen" Udo Kier wohnen läßt; nur knapp entkommt Bess zunächst dem Tod und anschließend der Einweisung in die psychiatrische Anstalt, veranlasst vom Dreigespann Dodo, Dr. Richardson und Jan; gleichzeitig wird sie auch von ihrer Gemeinde endgültig verstoßen, von ihrer Familie verleugnet und von einer Gruppe von Jugendlichen beinahe gesteinigt. In dieser Situation absoluter Vogelfreiheit setzt sie nochmals zu einem letzten verzweifelten Schritt zur Rettung Jans an, jedoch nicht ohne sich nochmals bei ihrem Gott hinsichtlich der Notwendigkeit dieses Weges zu vergewissern. Von einem trostspendenden "Ich bin bei Dir, Bess" begleitet begibt sie sich ein zweites Mal auf jenes Schiff, bereit ihr Leben gegen jenes von Jan einzutauschen. Es folgt, wie die Überschrift - Chapter 7: Bess Sacrifice - es bereits unmissverständlich angekündigt hatte, Bess gewaltsamer Tod.

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Als Bess mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wird, sagt sie noch, als sie von Dodo erfährt, dass es Jan noch immer nicht besser geht, verzweifelt: "Oh, Jan ... Ich habe Angst ... Es war alles falsch." und stirbt. Würde der Film an dieser Stelle enden, hätte uns Lars von Trier trotz einiger Brüche und Überzeichnungen jene Geschichte, die im Trinkduell bereits vorweggenommen wurde, einigermaßen glaubwürdig zu Ende erzählt. Eine Geschichte vom Zusammenprall zweier Zivilisationsmodelle mit unterschiedlichen "Entwicklungsniveaus" und Organisationsprinzipien, von der daraus resultierenden Krise und von deren Lösung durch ein mehr oder weniger willkürliches Opfer. (42)

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Doch Trier hängt dem Film einen Epilog an, der von einem Wunder handelt, besser gesagt von zweien. Jan, vorher querschnittgelähmt, kann wieder gehen. Zunächst wissen wir noch nicht, was das "Wunder" bewirkt hat, ob Bess' Opfer oder Dodos Gebet (43) es war, was zu seiner Heilung führte, oder ob das Wunder gar nur ein Zufall war. Trier lässt den Zuschauer darüber jedoch nicht im Unklaren. Nachdem es Jan und seinen Freunden gelungen ist, Bess' Leichnam vor dem Feuer der Hölle zu retten, in das die Gemeindeältesten sie schicken wollen, gewähren sie ihr eine würdige Seebestattung, bei der Jan sogar noch beten lernt. Am darauffolgenden Morgen läßt Bess oder ihr Gott für Jan und seine Freunde im Himmel sogar jene Glocken läuten, die sie am Kirchturm ihrer puritanischen Gemeinde immer vermisst hatte, gleichsam als Nachweis von Bess' unmittelbar erfolgter Himmelfahrt und ihrer Blitzheiligsprechung. Der »wunderbare Tausch« scheint somit geglückt: Bess gab ihr Leben, Jan wurde seines auf wundersame Weise wieder geschenkt. Im Gegenzug rettet Jan Bess' Seele. Eine Frage jedoch bleibt: Wozu wurde Jan eigentlich gerettet? Ist ihm nicht das, was er am meisten liebt, abhanden gekommen? (44)

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»Romantisch« oder »romanesk«?

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"Jeder romaneske Schluß ist Bekehrung", meint René Girard und führt erläuternd zwei grundsätzliche Kategorien von solchen Schlüssen an: "Jene, die uns einen einsamen Menschen vorstellen, der zu den übrigen Menschen zurückkehrt; jene, die uns einen »Herdenmenschen« zeigen, der in die Einsamkeit eingeht. ... Die echte Bekehrung erzeugt ein neues Verhältnis zu den anderen und ein neues Verhältnis zu sich selbst." (45)

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BREAKING THE WAVES erzählt uns keine Geschichte einer solchen Bekehrung. Häufig wird zwar in Besprechungen die Meinung vertreten, dass im Film die Geschichte eines Martyriums erzählt werde, doch diese Ansicht verkennt in unseren Augen den spezifischen Charakter eines Martyriums. Im klassischen Martyrium geht immer eine fundamentale Bekehrungserfahrung dem Martyrium voraus. Erst durch eine unverdiente Gnadenerfahrung wird der Mensch, wie das Beispiel des Apostels Petrus besonders eindrücklich zeigt, fähig, die eigene Schuldverstrickung zu erkennen, sich von der ängstlichen Orientierung an den Anderen zu lösen und für die eigenen Überzeugungen freimütig einzustehen, notfalls auch für sie zu sterben. Bess stirbt zwar auch eines gewaltsamen Todes, doch ihr Tod resultiert gerade aus ihrer Orientierungslosigkeit, bedingt durch ihren Herausfall aus einem festen Bezugsrahmen. Weder hier noch dort verankert und doch an beide gebunden - an Jan durch ihre Liebe, an ihr Dorf durch Familie und Religion - wird sie zwischen beiden Welten zerrieben. Der "Gott" Jans - seine Fixierung auf die ausgelebte Sexualität - und der Gott des Dorfes schließen einen seltsamen Pakt und stürzen Bess ins Verderben. Ihr »beschränkter Geist« und die Tatsache ihres Frau-Seins machen sie zusätzlich in besonderem Maße »opferfähig«. (46) Ihr Opfer erzeugt bei keinem der Beteiligten ein neues Verhältnis zu sich selbst und auch nicht zu den anderen, im Gegenteil: In BREAKING THE WAVES ist am Ende alles so wie es vorher war, nichts hat sich geändert. Die unverträglichen Welten sind wieder fein separiert, alle kehren in ihre Welt zurück. Die "bigotten" Dorfbewohner - wie sie in der Kritik gerne genannt werden - sind wieder unter sich, Jan und seine Freunde kehren auf die Bohrinsel zurück und lauschen dort - wieder glücklich "vereint" - dem Glockenwunder; auch das Krankenhaus wird weiterhin in gewohnt kalter Manier die versehrten, aus dem Alltag geschleuderten Opfer "versorgen". Jeglicher Sand im Getriebe des Gewohnten ist fein säuberlich beseitigt, die Krise ist gelöst und der Friede auf wundersame Weise wieder hergestellt.

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Dass dieser "Trick" bei einem Großteil der Zuschauer gelingt, liegt an der sorgfältigen Dramaturgie des Schlusses. Für jene Zuschauer, die bereit sind, an ein Wunder zu glauben, setzt Lars von Trier den gesamten metaphysischen Apparat von Himmel und Hölle in Bewegung, um Bess am Ende wundersam zu entrücken und sie mit den Insignien einer Heiligen auszustatten. Genauso funktioniert auch die archaische Logik des Opfers: eine vermeintliche oder tatsächliche SünderIn - das spielt gar keine Rolle - wird ausgestoßen, getötet und anschließend verehrt. (47)

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Doch auch für jene Zuschauer, die mit diesem mirakulösen Schluss ihre Schwierigkeiten haben, bietet Trier einen Ausweg an, um die Spannung, die der Film in 155 Minuten aufgebaut hat, zu lösen. Denn im Schluss wird wenigstens dem Gerechtigkeitsempfinden des modernen Zuschauers Genüge getan, indem Bess Unschuld konstatiert, ihr Leichnam den Händen der Puritaner entrissen und einer würdigen Bestattung zugeführt wird. Anstelle von Bess würde vermutlich mancher gerne die Dorfältesten in die Hölle schicken, obwohl nicht sie es waren, die Bess getötet haben. Auch hier wirkt der sakrifizielle Schleier der Verkennung, der dem Sündenbockmechanismus so eigentümlich ist, denn Trier bietet dem Zuschauer in der Beerdigungsszene geschickt ein Ventil, um die angestauten Gefühlen auf ein Objekt hin zu entladen. Dass ihm dies gelungen ist, zeigen gerade die polemischen bis gehässigen Kommentare zu den "bigotten" Puritanern in den Filmkritiken. Last but not least scheint Bess' Opfer nicht ganz "umsonst" gewesen zu sein, denn wenigstens ist Jan heil davongekommen; das vermag jenen Trost zu spenden, die sich mit dem sympathischen Jan aufgrund seiner freizügigen, sinnenfreudigen Lebenseinstellung ohnehin am ehesten identifizieren können.

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BREAKING THE WAVES hat zweifellos einige Züge, die die Problematik des Opfers differenziert darstellen, wie etwa die detailgetreue Schilderung des Zusammenpralls zweier grundverschiedener Welten und der daraus resultierenden Konflikte; dazu gehören ferner Bess' Selbstzweifel, im Drehbuch auch jene von Jan, und die zunächst offen gelassene Frage, ob Bess' Opfer nicht doch umsonst war und Jan vielleicht durch Dodos Gebet geheilt wurde. Doch der Schluss glättet leider all die sperrigen, mehrschichtigen Komponenten des Films und taucht Bess' Opfer - wie wir zu zeigen versuchten - in ein wundersam verklärendes, romantisches Licht. Am Ende ist alles wie vorher, Bess Opfer bleibt folgenlos und vermag weder die dargestellten Personen noch den Zuschauer zu verändern. Oder wer wäre bereit, Bess auf ihrem Opfergang nachzufolgen? (48)

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OFFRET hingegen halten wir für ein romaneskes Werk, denn das Opfer, das es darstellt, besitzt transformierende Kraft: Alexander fleht Gott in der Krise an, er möge nur alles wieder "so wie heute morgen, so wie gestern" machen. Doch "in der Wirklichkeit, die der Film schafft, ist am Ende alles anders als zuvor. Die Anfangs- und die Schlussszene, das Wässern des verdorrten Baumes (für mich ein Sinnbild des Glaubens), markieren die Punkte, zwischen denen der Ablauf der Ereignisse eine zunehmend stärker werdende Eigendynamik entwickelt." (49) Alle Figuren - darauf weist Tarkowskij ausdrücklich hin - wandeln sich selbst und in ihren Beziehungen; bei Alexanders Familie ist dies nur angedeutet, bei ihm selbst wird es explizit ausgeführt: er, der als Schauspieler der »Herdenmensch« par excellence ist, entsagt am Ende allem und geht verstummend in die Einsamkeit ein. Während Bess ihren Weg stur bis zu ihrem bitteren Ende geht, findet bei Alexander eine deutliche Verwandlung statt. Dennoch bleibt Alexanders Vorstellung vom Opfer bis zum Schluß ambivalent. Für Girard ist es jedoch gerade ein Kennzeichen der großen romanesken Schöpfung, dass sie immer die Frucht einer überwundenen Faszination ist. (50) Alexanders Versuchung zu einem gewaltsamen Opfer zeugt von dieser Faszination, und seine Bekehrung, seine Abkehr vom »Pfad der Gewalt« erfolgt nicht durch eine Eingebung von außen, sondern ist Frucht der Begegnung mit anderen Menschen, vor allem mit den Randfiguren Otto und Maria.

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Wie sich bei BREAKING THE WAVES die romantische Wendung des Filmes vor allem im Epilog zeigt, so zeigt sich der romaneske Charakter von OFFRET am deutlichsten im Schluß. Für Girard ist jeder romaneske Schluß auch ein Anfang, dies zeigt er vor allem anhand der Werke von Dostojewskij. Bei Tarkowskij, der Dostojewskij übrigens besonders schätzte, leuchtet dieser Neuanfang in der Figur von Jungchen auf. Dieser gibt uns ein Beispiel, wie ein von Gewalt und jeglichem romantischen Pathos gereinigtes Opfer aussehen kann, welches Leben schafft und nicht vernichtet. Manchem mag dieses Beispiel unspektakulär oder gar banal erscheinen, doch "jeder große romaneske Schluß ist banal, aber er ist nicht konventionell. Sein Mangel an rhetorischem Schliff, ja gerade seine Unbeholfenheit macht seine wahre Schönheit aus und unterscheidet ihn eindeutig von den verlogenen Versöhnungen, von denen es in der zweitrangigen Literatur nur so wimmelt." (51) Was Girard hier für die Literatur feststellt, gilt ohne Einschränkungen auch für den Film. In diesem Zusammenhang erscheint auch der Vorwurf einiger Kritiker, dieser Film habe nicht die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von Tarkowskijs anderen Filmen, in einem anderen Licht. Gerade die strenge Komposition sowie die Klarheit und Schlichtheit der Aussage von OFFRET erweisen sich im Kontext der skizzierten Opferthematik nicht als Schwäche, sondern vielmehr als einer seiner besonderen Vorzüge. (52)

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Film und (Opfer)Theologie im Gespräch

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Im abschließenden Teil wollen wir uns noch kurz der Frage zuwenden, welche Chancen, aber auch welche Gefahren sich für ein Gespräch zwischen Film und Theologie hinsichtlich der Opferthematik ergeben.

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Die letzten Worte von Tarkowskijs OFFRET enden mit einem Verweis auf den Johannesprolog: "Im Anfang war das Wort ... Warum, Papa?", fragt Jungchen den entschwundenen Vater und greift damit dessen Worte aus der ersten Sequenz des Filmes auf. Das Beten des »Vater Unsers«, die fünffache Einblendung von Leonardos »Anbetung der Könige« und die Verwendung des »Herr, erbarme dich!« aus Bachs Matthäus-Passion am Anfang und am Ende des Filmes sind weitere kaum zu übersehende und zu überhörende Verweise auf das Evangelium. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Kritiker und Rezipienten des Filmes direkte Parallelen zwischen den beiden Erzählungen herstellen. Bei Kreimeier etwa wird - in polemischer Absicht, wie wir schon gesehen haben - Jungchen mit Christus, die Magd mit der Jungfrau, die Beischlafszene mit der unbefleckten Empfängnis identifiziert. Theologen sind hinsichtlich solch direkter Parallelisierungen und Identifizierungen naturgemäß vorsichtiger; hier wird häufig die Figur Alexanders näher untersucht und ihm gerne die Züge des »heiligen Narren« zugeordnet; (53) eine Zuordnung, die in der Tat viele Anknüpfungspunkte hat und nicht zuletzt auch Tarkowskijs eigener Interpretation dieser Figur nahekommt.(54)

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Doch einige Interpretationen sind hier auch weniger zurückhaltend. So geht etwa Reinhold Zwick über die oben erwähnte Interpretation noch hinaus, indem er vom "Christomorphen in der rettenden Kraft von Alexanders Opfer" spricht und dann nachzuweisen versucht, warum in seinen Augen OFFRET "noch expliziter christologisch »gespurt«" sei. In eine ähnliche Richtung geht Alfred Jokesch, wenn er Alexander sich zur "Christusfigur" entwickeln lässt, "die sich selbst hingibt, um eine andere Zukunft zu ermöglichen." (55) Auch zu BREAKING THE WAVES gibt es ähnliche Interpretationsversuche, so etwa bei Joachim Valentin, (56) der versucht, im Film "Indizien für eine jesuanische Deutung" zu finden, und Bess Hingabe für Jan als "Nachfolge" Jesu deutet.

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In unseren Augen sollte jedoch weder das Opfer Alexanders noch jenes von Bess mit dem Opfer Jesu Christi parallelisiert werden: Der erste Grund, der zu einer grundsätzlichen Zurückhaltung bei solchen Vergleichen mahnt, liegt in der Einmaligkeit des Opfers Jesu begründet. Jesu Hingabe für uns Menschen erhält seine transformierende Kraft gerade aus dem Umstand seiner Gottessohnschaft und der damit verbundenen absoluten Sündenlosigkeit. Vom Vater gesandt, den Menschen die Botschaft vom liebenden und neues Leben spendenden, keine Opfer fordernden Gott zu verkünden, ruft Jesus die Menschen zur Umkehr auf. Doch gerade durch seine Botschaft von Gewaltfreiheit und Feindesliebe zieht Jesus immer mehr den Hass der Menschen auf sich, da er ihre Verstrickung in die Mechanismen von Lüge und Gewalt aufdeckt. Die Krise, die sich immer weiter zuspitzt, wird dadurch gelöst, dass Jesus, der das Opfer kritisiert, am Ende selbst zum Geopferten wird. Im Unterschied zu den archaischen Opfermythen wird aber in den Evangelien Jesu Sündenlosigkeit und daher seine absolute Unschuld betont; stattdessen legen die Evangelien die kollektive Zusammenrottung und Verblendung der Menschen gegen Jesus frei; selbst die Apostel bleiben von dieser Dynamik nicht verschont, auch sie werden in die Mechanismen von Lüge und Gewalt verstrickt. Erst durch die Begegnung mit dem Auferstandenen und die Ausgießung des Geistes zu Pfingsten werden die Jünger aus diesen Verstrickungen herausgelöst und zu einem neuem Handeln befreit. (57)

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Während man also mit der in der Zuordnung von christologischen Attributen sehr zurückhaltend sein sollte, bieten sich die Apostel gerade aufgrund ihrer eigenen Schwachheit und Umkehrbedürftigkeit viel eher für Vergleiche an. Wo in Filmen Menschen unverblümt mit ihren Fehlern, Ängsten und Selbstzweifeln dargestellt werden, kann die Theologie eine Brücke zu biblischen Erzählungen herstellen; speziell die Figur Alexanders bietet aufgrund seiner Schwachheit, seiner Selbstzweifel und seiner eigenen Verstrickung in die Mechanismen der Gewalt hier einige hervorragende Anknüpfungspunkte. Diesem Aspekt ist auch Jokesch in dem oben erwähnten Artikel nachgegangen, wenn er darauf hinweist, dass Tarkowskij gerade in der Verwendung von Bachs "Erbarme dich, mein Gott" indirekt auf Petri Verrat Bezug nimmt und dadurch Alexanders Umkehrprozess motivisch umrahmt. (58) Die Figur von Bess hingegen bietet hier kaum Anknüpfungspunkte, da bei ihr dieses entscheidende Element der Umkehr und der Verwandlung fehlt. Sie bleibt bis zum Schluß einem zwiespältigen, vorchristlichen Gott, der die Hingabe ihres Lebens zur Rettung Jans verlangt, "treu"; mit seinem Schluss fällt der Film leider in ein vorchristliches, magisches Opferverständnis zurück, das durch das Geschick Jesu und das seiner Jünger gerade überwunden werden sollte.

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Ein weiterer Grund, warum wir für eine Zurückhaltung hinsichtlich einer zu direkten Interpretation der beiden Filme im Lichte der christlichen Tradition plädieren, liegt in der Zurückhaltung der beiden Regisseure eben dieser Tradition gegenüber begründet. Bei Tarkowskij wird dies in OFFRET sogar direkt angesprochen, wenn Otto Alexander den Weg zu Maria beschreibt und dabei zweimal von der "Kirche, die geschlossen ist", spricht. Die Verwendung von religiösen Symbolen und Musik aus verschiedensten Traditionen sprechen ebenso gegen eine einlinige Deutung des Filmes. Auch in seinen Schriften macht Tarkowskij keinen Hehl aus seinen Vorbehalten gegenüber der westlichen Tradition:

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"Der Osten war der ewigen Wahrheit stets näher als der Westen, die westliche Zivilisation aber hat den Osten mit ihren materiellen Lebensansprüchen verschlungen. ... Der Westen schreit: Hier, das bin ich! Schaut auf mich! Hört, wie ich zu leiden und zu lieben verstehe! Wie unglücklich ich sein kann! Ich! Ich! Ich!!! Der Osten sagt kein einziges Wort über sich selbst! Er verliert sich völlig in Gott, der Natur, in der Zeit, und er findet sich selbst in allem wieder. Er vermag alles in sich selbst zu entdecken. Taoistische Musik - China, sechshundert Jahre vor Christi Geburt." (59)

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Angesichts dieser Vorbehalte ist es erstaunlich, dass Tarkowskij dennoch in OFFRET so deutliche Verweise auf die biblische Erzähltradition einwebt bzw. - wie wir zu zeigen versuchten - diese die Handlung sogar strukturieren; wir werten diese weltanschauliche und religiöse Offenheit des Künstlers bei seiner Suche nach dem tieferen Sinn des Opfers als ein weiteres Indiz für den romanesken Charakter des Films.

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Auch bei Lars von Trier finden wir, trotz seines Eintrittes in die katholische Kirche, eine sehr reservierte bis distanzierte Haltung gegenüber kirchlichen Ritualen vor, sogar gegenüber so zentralen wie der Taufe und der Eucharistie. (60) Bei einer theologischen Deutung des Filmes ist diese Haltung des Regisseurs, die sich in der negativen Zeichnung des Gemeindelebens im Film auch niederschlägt, gebührend zu berücksichtigen und zu respektieren.

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Abschließend möchten wir nochmals festhalten, dass die Stärke der beiden Filme, wie des Mediums Film überhaupt, nicht in der Präsentation einer schlüssigen Theorie des Opfers liegen kann; gerade dadurch würde der Zuschauer sich zurecht bevormundet und in seiner Phantasie eingeengt fühlen. Gemäß unserer Eingangsthese ist daher viel entscheidender, ob und inwieweit es den beiden Filmen gelingt, unsere Neugier für die "vergessene" Thematik des Opfers wieder zu wecken; denn Filme haben den großen Vorteil, dass sie unsere Sinne auf vielfältige Weise ansprechen und auch die Emotionen nicht aussparen. Dort, wo - wie bei der Opferthematik - Leidenschaft, Lüge und Gewalt eine so zentrale Rolle spielen, ist gerade dies unverzichtbar. Eine theologische Reflexion kann an dieser geweckten Neugier ebenso wie an ablehnender Kritik anknüpfen, auf Parallelen oder Unterschiede zu einem christlichen Opferverständnis hinweisen und dadurch die Diskussionen, die die Filme herausfordern, bereichern und vertiefen.

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Die beiden besprochenen Filme bieten auch - im Unterschied zu einer Mehrzahl von Filmen - die Chance, die Opferthematik nicht ausschließlich aus der Perspektive des Opfer-Seins zu beleuchten, sondern auch deren Komplementärseite, nämlich das Opfer-Bringen, zu behandeln. Sowohl in OFFRET als auch in BREAKING THE WAVES wird ein Mensch in den Mittelpunkt gerückt, der - wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen und mit einem unterschiedlichen Grad an Selbstreflexion - freiwillig bereit ist, zum Wohle anderer ein Opfer zu bringen. Dies ist ein bewusster Kontrapunkt zu einer Gesellschaft, in der man jeweils vom anderen erwartet, "dass er sich anpasst und aufopfert, sich am Aufbau der Zukunft beteiligt, während man selbst an diesem Prozess überhaupt keinen Anteil hat, keinerlei persönliche Verantwortung für das Weltgeschehen übernimmt. Man findet Tausende von Gründen, um sich hiervon drücken zu können, seine selbstsüchtigen Interessen nicht allgemeineren, höheren Aufgaben opfern zu müssen: Niemand hat den Wunsch und den Mut zu einem nüchternen Blick auf sich selbst, zur Verantwortung gegenüber dem eignen Leben und der eigenen Seele." (61)

128
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Wenn ein Regisseur den Mut zu diesem nüchternen Blick aufbringt und dabei auf spektakuläre Inszenierungen verzichtet und kommerzielle Interessen hintanstellt, kann man - wie im Falle von OFFRET - mit Fug und Recht vom seltenen Glücksfall einer romanesken Filmerzählung sprechen, welche hervorragend geeignet ist, dem Dialog zwischen Theologie und Film einen fruchtbaren Boden zu bereiten.

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1. . Vgl. dazu Raymund Schwagers Ausführungen zur modernen Opferkritik in seinem Beitrag zu diesem Bandes, S. 17-27.

130
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2. . Vgl. dazu besonders Jean Pierre Dupuy, Paul Dumouchel, Die Hölle der Dinge. René Girard und die Logik der Ökonomie. Mit einem Nachwort von René Girard und einem Vorwort der Herausgeber Herwig Büchele und Erich Kitzmüller. Beiträge zur mimetischen Theorie 9. Thaur: Druck- und Verlagshaus Thaur; Münster: LIT, 1999.

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3. . René Girard, Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M.: Fischer, 1992, 10.

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4. . Paris: Grasset, 1961; deutsch: René Girard, Figuren des Begehrens: Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Beiträge zur mimetischen Theorie 8. Thaur: Druck- und Verlagshaus Thaur; Münster: LIT, 1999.

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5. . In diesem Buch wendet sich Girard gegen die landläufige Meinung der Literaturkritik, dass die großen Werken der Weltliteratur aus der Feder von unvergleichlichen, vollkommen autonomen Genies stammen, deren Werk sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lasse. Er hingegen behauptet, dass die Grundstruktur und Grunddynamik des Begehrens - das ist der zentrale Gegenstand seiner Untersuchung - gerade in jenen Werken, die er mit dem Begriff »romanesk« umschreibt, dieselbe ist. Anhand von Autoren wie Cervantes, Flaubert, Stendhal, Proust und Dostojewskij entlarvt er die Vorstellung vom vollkommen autonom begehrenden Subjekt als eine romantische Illusion und stellt dagegen die Bedeutung des Anderen für die Dynamik unseres Begehrens und für die Verstrickungen, die sich daraus ergeben, heraus.

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Zur begrifflichen Unterscheidung siehe Girard, Figuren des Begehrens, a.a.o., 25f.

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6. . Dies zeigt sich deutlich in den Reaktionen, die die Filme bei den Filmfestspielen in Cannes (1986 bzw. 1996) und bei der internationalen Kritik ausgelöst haben. Ähnliche Erfahrungen konnte ich selbst im Rahmen meiner Lehrveranstaltung "Medien und Gewalt II: Opfer und Sündenböcke in Filmen von Bresson, Bunuel, Ferrara, Lars von Trier, Pasolini, Tarkowskij u.a." (WS 1999/2000 an der Kath. Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck) sammeln. Dabei erwiesen sich die beiden Filme trotz "starker Konkurrenz" als jene, denen das größte Interesse entgegengebracht wurde, die aber auch die heftigsten Diskussionen unter den Studenten auslösten.

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7. . Vgl. dazu das Interview mit Achim Forst, in: Achim Forst, Breaking the Dreams: Das Kino des Lars von Trier. Arte-Edition. Marburg: Schüren, 1998, 187-189.

137
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8. . Hier taucht erstmals die Thematik des Opfers auf: "Jedes Geschenk bedeutet wohl ein Opfer. Was wäre es denn sonst schon für ein Geschenk?", sagt Otto zu Alexander, als dieser das Ausmaß des Verzichtes zu bagatellisieren versucht; auch im Verlauf der weiteren Handlung wird Alexander gerade von Otto wichtige Impulse erhalten.

138
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9. . Interessanterweise wird der Bedeutung des Revolvers, dem in unseren Augen eine zentrale Funktion zukommt, in der Analyse von OFFRET selten oder gar keine Beachtung geschenkt, obwohl er im Film wiederholt auftaucht.

139
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10. . Leonardos Bild wird im Film fünf Mal an wichtigen Stellen eingeblendet. Im Drehbuch hingegen war die Einblendung des Bildes nur einmal vorgesehen. Die in diesem Bild vorkommende Metapher vom lebendigen Baum, wird am Anfang des Filmes durch einen Vertikalschwenk nach oben herausgestellt; diese Bewegung wird am Ende - im Schwenk von Jungchen hoch zur Krone des Baumes - nochmals wiederholt; zusammen mit der Arie »Herr, erbarme Dich!« aus Bachs Matthäus-Passion bildet das Leonardo-Bild die motivische Klammer des Filmes.

140
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11. . Andreij Tarkovskij, Opfer: Filmbuch. Mit Filmbildern von Sven Nykvist. München: Schirmer-Mosel, 1987, 110.

141
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12. . Klaus Kreimeier, "Kommentierte Filmografie." In: Andrej Tarkowskij, hg. von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte, 81-180. Reihe Hanser Film 39. München: Hanser, 1987, hier: 172.

142
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13. . So etwa durch Verwendung von Beispielen christlicher Ikonographie und Musik auf der einen und fernöstlicher Symbolik (Jin&Jang) und Flötenmusik auf der anderen Seite; durch Rückgriff auf traditionelle Gebetsformeln wie das »Vater Unser« und dem gleichzeitigen Spiel mit magischen Kräften einer Hexe, die noch dazu Maria heißt, usw.

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14. . Kreimeier, Kommentierte Filmografie, a.a.o., 169.

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15. . Ebd. 175-177.

145
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16. . Vgl. dazu Hans Werner Dannowskis Zusammenstellung in seinem Artikel "Zur Kontroverse über Andrej Tarkovskij." In: Film und Theologie: Diskussionen, Kontroversen, Analysen, hg. v. Wilhelm Roth und Bettina Thienhaus, 119-126.epd-Texte 20. Stuttgart: Steinkopf; Frankfurt a.M.: Gemeinschaftswerk der Evang. Publizistik, 1989, hier: 123.

146
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17. . Urs Jaeggi, "Das Opfer." In: 111 Meisterwerke des Films: Das Video Privatmuseum, hg. v. Günther Engelhard, Horst Schäfer und Walter Schobert, 340-342. Frankfurt a.M.: Fischer, 1989, hier: 342.

147
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18. . Tarkowskij, Die versiegelte Zeit: Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Frankfurt a.M.: Ullstein, 31991, 225f.

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19. . Thomas Rothschild, in: Medium 1 (1987): 59ff.; zitiert nach Dannowski, Zur Kontroverse über Andrej Tarkowskij, a.a.o., 123.

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20. . Die hier angesprochene Versuchung einer zu voreiligen oder einseitigen Vereinnahmung, auf die im abschließenden Teil eigens noch eingegangen wird, gilt in gleichem Maße für BREAKING THE WAVES.

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21. . Vgl. dazu Genesis 22,1-19.

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22. . Diese erste vorsichtige Andeutung war im Drehbuch noch wesentlich stärker akzentuiert. Dort stellt sich Jungchen tot und erschreckt damit Alexander:

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"Ohne zu wissen, was er tut, und wie um sich zu verteidigen, holt Alexander ungeschickt aus und schlägt dem Sohn ins Gesicht. Der Kleine fällt um. »Mein Junge«, stößt der Vater mühsam hervor. »Gott im Himmel, was ist mit mir!« Der Kleine steht vom Boden auf und geht langsam zum Weg, ohne sich umzublicken. »Kleiner, warte doch!«, ruft der Vater und stürzt ihm nach. Der Kleine setzt sich in Trab. Im Laufen schaut er zurück. Sein Hemd ist voller Blut." (Tarkovskij, Opfer: Filmbuch, a.a.o., 17f.)

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Kurz vor dieser Szene hatte der Vater im Gespräch mit dem Sohn noch räsoniert: "Im Endeffekt entstand eine Zivilisation, die auf Gewalt, Macht, Furcht und Abhängigkeit beruht." Alexanders Worte, die auch im Film in leicht abgeänderter Form vorkommen, dienen quasi als hermeneutischer Vorspann für den kommenden Gewaltausbruch bzw. für die im Film geschilderte Opferproblematik überhaupt .

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23. . Tarkowskij, Opfer: Filmbuch, a.a.o., 107.

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24. . Ebd. 113-116.

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25. . Vgl. dazu Genesis 22,10-12.

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26. . Man beachte dabei, dass auch in dieser dritten und letzten Traumsequenz Jungchen mit seiner Halsbinde wieder im einem Kontext von Zerstörung und Verwüstung gezeigt wird.

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27. . Wie wichtig die Szene Tarkowskij war läßt sich aus den Umständen ersehen, unter denen sie zustande gekommen ist. Beim ersten Abdrehen der Szene versagte die Kamera, wochenlange Arbeit und viel Geld waren beim Teufel. Nur wie durch ein »Wunder« - so Tarkowskijs eigene Worte - konnte das Haus in kurzer Zeit wieder aufgebaut werden, die Szene wurde dann - fast abergläubisch - erst am allerletzten Drehtag - dem 55. - abgedreht. Vgl. dazu Tarkowskij, Martyrolog II: Tagebücher 1981-1986. Berlin: Limes, 1991, 196-199 und Ders., Opfer: Filmbuch, a.a.o., 227f.

159
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28. . Christian Ziewer hält dieses Pathos - in unseren Augen gänzlich ungerechtfertigterweise - gerade für ein Kennzeichen von Tarkowskijs Filmen. Vgl. dazu Christian Ziewer, "Die Aktualität von Dreyer und Tarkowskij." In: Film und Theologie: Diskussionen, Kontroversen, Analysen, a.a.o., 136.

160
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29. . Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.o., 229.

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30. . Siehe Matthäus, 3,1-3.

162
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Zu Anknüpfungspunkten der Figur Alexanders mit jener Johannes des Täufers siehe auch: Reinhold Zwick, "Das Kino als christologisches Laboratorium." In: Fundamentaltheologie: Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, hg. v. Klaus Müller, in konzeptioneller Zusammenarbeit mit Gerhard Larcher, 323-345. Regensburg: Pustet, 1998, hier: 337.

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31. . Dieser Generationenbezug ist interessanterweise auch schon im ANDREJ RUBLJOW präsent: Dort wird Andrej Rubljow erst fähig, sein Schweigen und seine künstlerische Krise zu überwinden, als er die jugendliche Kraft, Leidenschaft und auch Opferbereitschaft bei Borischkas Glockenguss staunend miterlebt.

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32. . Tarkovskij, Opfer: Filmbuch, a.a.o., 50.

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33. . Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.o., 213.

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34. . Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass der Handlungsmittelpunkt des ersten Filmkonzeptes noch um die wundersame Heilung eines unheilbar kranken Mannes kreiste. Tarkowskij hat - als ob er sein späteres Schicksal schon erahnt hätte - den Handlungsrahmen von diesem biographischen Hintergrund nochmals gänzlich weg verschoben, und zwar - wie er selbst sagt - nicht bewusst vollzogen, sondern in einem Prozess, der eine vielschichtige Eigendynamik gewonnen habe. In der offenen und nüchternen Schilderung dieser Prozesse wirkt Tarkowskij einer Mystifikation seiner Person wirkungsvoll entgegen. Vgl. dazu ebd., 222f.

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35. . Für einen detaillierteren Überblick der Handlung siehe Valentins Artikel zu BREAKING THE WAVES in diesem Band, S. XX-XX. Wir werden - um Doppelungen zu vermeiden und da es für unsere Ausführungen nicht unwichtig ist - die knappe Inhaltsbeschreibung des Regisseurs in der Director's Note in freier Übersetzung wiedergeben. Vgl. dazu Lars von Trier, "Director's Note: This Film Is About »Good«." In: Ders., Breaking the Waves. Written and directed by Lars von Trier, 20-22. London: Faber and Faber, 1996.

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36. . Vgl. dazu etwa: Lars Olaf Beier, FAZ, 4.10.1996, 41; Peter Körte, Frankfurter Rundschau, 2./3.10.1996, 14; Pia Horlacher, Neue Zürcher Zeitung, 4.10.1996, 35; Urs Jenny, Der Spiegel Nr. 41 (1996), 280f.

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37. . Vgl. Die Zeit Nr. 22, 24.5.1996 und Nr. 41, 4.10.1996:

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"BREAKING THE WAVES, die pompöse Geschichte vom Opfertod der naiven Bess für ihren geliebten Ehemann Jan rührte in Cannes das Publikum zu Tränen." (Kilb)

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"Ich kann diesem Film nur Hassliebe entgegenbringen. Ich hasse seine fromme Botschaft, sein Loblied auf die selbstzerstörerische Demut einer Frau, seine religiösen und sexuellen Metaphern ... aber ich bin betört von der Sprache, in der Lars von Trier seine grausige Legende erzählt." (Peitz)

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38. . Achim Forst, Breaking the Dreams, a.a.o., 136.

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39. . Trier gliedert den Film in einzelne mit programmatischen Überschriften versehene Kapitel, denen jeweils eindrückliche Landschaftsaufnahmen vorangestellt werden. Der meditative, den Zuschauer auf den weiteren Handlungsgang vorbereitende Charakter dieser Bilder wird durch den wirkungsvollen Einsatz von klassischen Popsongs aus den 60igern und 70igern noch zusätzlich verstärkt.

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40. . Vgl. dazu Achim Forst, Breaking the Dreams, a.a.o., 140-145.

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41. . Im Drehbuch war sogar vorgesehen, dass Bess gemäß Jans "Wunsch" beim Prostitutionsakt einen Orgasmus haben soll; das Drehbuch sah auch vor, den »Tauschcharakter« dieser Sequenz durch ein schnelles Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren noch stärker hervorzuheben. Vgl. dazu Lars von Trier, Breaking the Waves, a.a.o., 97f.

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42. . Die Problemlage von Triers Geschichte ist auch heute noch durchaus aktuell, wenn auch weniger im europäischen Umfeld als vielmehr auf globaler Ebene, wo im Rahmen des Globalisierungsprozesses sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander prallen. Zu den Problemen, die daraus entstehen siehe etwa Samuel Huntington, Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München, Wien: Europaverlag, 1996.

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43. . Bess bittet Dodo, bevor sie ihren Opfergang antritt, für Jans Genesung zu beten. Diese wendet sich zwar widerstrebend, dann aber doch ernstlich mit den biblisch anmutenden Worten an Gott: "Lieber Gott, lass es Jan besser gehen ... Lass ihn vom Bett aufstehen und wandeln ..."

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44. . Trier selbst hatte im Drehbuch noch Zweifel bei Jan verankert, als er diesen vor der Seebestattung zu Terry sagen lässt:"I tore her from her home and her family ... do you think she can forgive me for that?" (Lars von Trier, Breaking the Waves, a.a.o., 133)

179
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Im Film wurde dieser selbstkritische Vorbehalt leider ausgebügelt.

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45. . René Girard, Figuren des Begehrens, a.a.o., 301f.

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46. . Zu den besonderen Kennzeichen potentieller Opfer siehe René Girard, Das Heilige und die Gewalt, a.a.o., 23-27.

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47. . Zur Doppelstruktur des verfluchten und gleichzeitig verehrten Opfers siehe ebd., 104-133 und 377-380.

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48. . Die Teilnehmer des in Anm. 7 erwähnten Seminares waren in diesem Punkt jedenfalls einer Meinung, vornehmlich den weiblichen schien diese Vorstellung absurd.

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49. . Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.o., 226.

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50. . Vgl. dazu René Girard, Figuren des Begehrens, a.a.o., 307.

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51. . Ebd., 317.

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52. . Mit den genannten stilistischen Besonderheiten kommt Tarkowskij interessanterweise in seinem letzten Film, den er selbst als Summe seines Schaffens betrachtete, seinem großen Vorbild Robert Bresson, den er zeitlebens bewunderte, viel näher als in allen seiner übrigen Filmen. Vgl. dazu Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.o., 102f. u. 160-162; Ders., Martyrolog II, a.a.o., 256f.

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53. . So etwa bei Reinhold Zwick, Das Kino als christologisches Laboratorium, a.a.o., 337-339; oder bei Matthias Loretan und Charles Martig, "Weltuntergang im Film: Sinn und Gefahren apokalyptischer Rede. Kritische Auseinandersetzung mit ethischen, ästhetischen und theologischen Aspekten zeitgenössischer Filme." In: Apokalyptische Visionen: Film und Theologie im Gespräch, hg. v. Josef Müller und Reinhold Zwick, 47-95. Schwerte: Kath. Akademie, 1999, hier: 89.

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54. . Vgl. dazu Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.o., 228.

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55. . Alfred Jokesch, "»... dann muß sich die Welt verändern»: Perspektiven der Hoffnung am Rande der Katastrophe. Zu Andrej Tarkowskijs »Opfer«." In: Apokalyptische Visionen: Film und Theologie im Gespräch, a.a.o., 159-172, hier: 161f.

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56. . Vgl. dazu seinen Beitrag zu diesem Band, S. 47-60.

192
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57. . Vgl. dazu Raymund Schwagers Ansatz einer »dramatischen« Deutung des Opfers Jesu in seinem Beitrag zu diesem Band, S. XX-XX; zur Verstrickung der Jünger siehe auch René Girard, "Reconciliation, Violence and the Gospel." In: Visible Violence: Sichtbare und verschleierte Gewalt im Film. Beiträge zum Symposium »Film and Modernity: Violence, Sacrifice, and Religion«, hg. v. Gerhard Larcher, Franz Grabner und Christian Wessely, 211-221. Beiträge zur mimetischen Theorie 10. Thaur: Druck- und Verlagshaus Thaur; Münster: LIT, 1998.

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58. . Vgl. dazu Jokesch, »... dann muß sich die Welt verändern»: Perspektiven der Hoffnung am Rande der Katastrophe. Zu Andrej Tarkowskijs »Opfer«, a.a.o., 163f.

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59. . Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.o., 241.

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60. . Vgl. dazu Forsts Interview mit dem Regisseur in: Achim Forst, Breaking the Dreams, a.a.o., 190-193.

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61. . Tarkowskij, Die versiegelte Zeit, a.a.o., 233.

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