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Was ist eine Mehrheit? Anmerkungen zur Betriebsratswahl 2021

Autor:Lumma Liborius
Veröffentlichung:
Kategoriefak
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2021-05-27

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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In allen möglichen gesellschaftlichen Zusammenhängen hantieren wir mit Abstimmungen. Wir wenden Kriterien dafür an, wann eine Mehrheit gegeben und ein Beschluss verbindlich ist. Auf die genauen Auszählmethoden richtet sich dagegen meist wenig Aufmerksamkeit, außer wenn plötzlich – meist zu spät – geklärt werden muss, ob Enthaltungen wie Nein-Stimmen, wie nicht abgegebene Stimmen oder völlig anders in ein Gesamtergebnis eingerechnet werden müssen.

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In zwei älteren Online-Artikeln (hier und hier) habe ich mich für das Approval Voting stark gemacht, das meines Erachtens in universitären wie auch politischen und kirchlichen Gremien viel mehr Beachtung verdiente. Diese Artikel haben sich beispielhafter und vereinfachter Argumentationsweisen bedient, die Fachliteratur und Forschung zu Wahlverfahren ist uferlos, und das fulminante Werk Gegen Wahlen des belgischen Historikers David van Reybrouck hat für mich auch noch bemerkenswerte Spuren in Richtung des Losverfahrens gelegt, das interessanterweise auch im kirchlichen Kontext eine bedeutende Rolle spielt.

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Die Betriebsratswahl für das wissenschaftliche Personal unserer Universität im Jahr 2021 hat nun in fast unübertrefflicher Form gezeigt, inwiefern das Generieren von Mehrheiten durch das Auszählungsverfahren beeinflusst wird, und das scheint mir einige Anmerkungen wert.

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Bei der Betriebsratswahl haben drei Listen kandidiert. Da es mir überhaupt nicht darum geht, personelle Zusammensetzung oder inhaltliche Profile dieser Listen zu bewerten, nenne ich sie im Folgenden nur A, B und C. Das Wahlergebnis wurde im Mitteilungsblatt der Universität Innsbruck veröffentlicht. Es wurden 557 Stimmen abgegeben, demnach wäre bei 279 Stimmen eine absolute Mehrheit erreicht. Liste A erhielt – man ahnt es schon – exakt 279 Stimmen. Auf Liste B entfielen 170 Stimmen, auf Liste C 108 Stimmen.

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Nun setzt sich der Betriebsrat natürlich nicht aus 557, sondern nur aus 19 Mitgliedern zusammen. Die Stimmenzahl der drei Listen muss also von 557 auf 19 heruntergerechnet werden, und hier stellt sich die entscheidende Frage: Wie macht man das und welches Ergebnis kommt dabei heraus? Meine spontane Intuition sagt, dass es berechtigt ist, dass Liste A, wenn sie schon die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten hat, auch die absolute Mehrheit der Sitze erhalten sollte, also 10, während auf die beiden übrigen Listen die übrigen 9 Sitze zu verteilen sind. Aber bedeutet das nicht doch eine zu starke Verzerrung des Ergebnisses, wenn das Verhältnis 279:278 (1,0036) abgebildet wird in 10:9 (1,111)? Hätte der Betriebsrat eine gerade Anzahl an Mitgliedern, zum Beispiel 20, schiene es mir plausibel, dass Liste A 10 und Listen B und C gemeinsam ebenfalls 10 Sitze erhalten. Ungerade Sitzzahlen wie hier die 19 generieren dagegen eindeutige Mehrheiten, was natürlich auch einen stabilisierenden Effekt haben kann, da es dauerhafte gegenseitige Blockaden zweier gleich starker Gruppen unmöglich macht.

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Es gibt durchaus ernstzunehmende Gründe, Liste A nur 9 Stimmen zukommen zu lassen und die restlichen 10 auf B und C aufzuteilen. Kleine Listen würden durch ein solches Berechnungsverfahren für ihr Antreten als solches belohnt, großen Listen würde das Generieren von Mehrheiten erschwert: Es soll Zusammenarbeit gefördert werden, sehr knappe Mehrheiten sollen nicht zu dauerhafter Dominanz in einem gewählten Gremium führen. Auf diese Weise würden Minderheitenschutz und Diversität in der Wahl- bzw. Auszählungsmethode implementiert.

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Was nun?

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Ich muss gestehen, dass ich mich, ehe ich das Ergebnis gesehen habe, nicht mit dem Auszählungsverfahren beschäftigt hatte und auch im Nachhinein kein einschlägiges Dokument im Internet gefunden habe; ich vermute aber, dass bei der Betriebsratswahl die Wahlordnung des Senats zur Anwendung kommt.

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Diese Wahlordnung beschreibt in § 14 das Sitzzuteilungsverfahren nach d’Hondt, es kann in dieser Datei nachvollzogen werden, in der ich das Ergebnis nachgerechnet habe. Dieses Verfahren, das sich mit einigermaßen geübtem Kopfrechnen relativ einfach ohne technische Hilfsmittel umsetzen lässt – die Stimmenzahlen müssen nacheinander durch 1, 2, 3, 4 usw. dividiert werden – begünstigt Listen mit großen Stimmenzahlen. Es hat einen mehrheitsfördernden und stabilisierenden Effekt, und zwar so sehr, dass im vorliegenden Fall sogar 277:171:109 Stimmen (49,73%) für eine absolute Mehrheit von 10 Sitzen ausgereicht hätten.

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Vielerorts wurde in den letzten Jahren das Verfahren nach d’Hondt durch das von Saint-Laguë/Schepers ersetzt – die Stimmenzahlen werden durch 0,5, 1,5, 2,5 usw. dividiert –, das den Effekt in Richtung der kleineren Listen verschiebt. Bei der Betriebsratswahl hätte dann Liste A nur 9 Sitze erhalten, Liste B 6 und Liste C 4. Dieses Resultat mag, wie oben geschildert, minderheitenfreundlich sein, führt aber auch dazu, dass B und C gemeinsam über eine Mehrheit gegen A verfügen, obwohl A bei der Wahl mehr Stimmen als B und C zusammengenommen erhalten hat.

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Wie gravierend sich solche gezielt implementierten Effekte zugunsten kleiner Listen summieren können, wenn ein finales Ergebnis dann auch noch aus mehreren Teilergebnissen zusammengesetzt werden muss, bewies die Landtagswahl in Kärnten 2018, deren Wahlordnung – wie übrigens viele solcher Bestimmungen in der Republik Österreich – für Laien nahezu völlig unverständlich ist, was das Vertrauen in demokratische Institutionen nicht unbedingt erhöhen dürfte. Die SPÖ erhielt 47,94% der Stimmen, FPÖ, ÖVP und Team Kärnten kamen gemeinsam auf 44,08%; dennoch hätten letztere beinahe eine Gesamtsumme von 19 Sitzen gegenüber 17 für die SPÖ erreicht. Letztlich musste sich die SPÖ mit 18 von 36 Landtagssitzen einen Koalitionspartner suchen. Da im Kärnter Landtag eine gerade Gesamtsitzzahl festgelegt ist (wie auch im Tiroler Landtag mit ebenfalls 36 Sitzen, anders als im Nationalrat mit 183 Sitzen), hätte es auch zu einem längerfristigen Patt zwischen der SPÖ und den drei übrigen Parteien kommen können.

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Wer eine Wahlordnung beschließt, muss sich dieser Effekte bewusst sein, denn sie beeinflussen die Generierung von Mehrheiten, ohne dass die einzelnen Wählerinnen und Wähler dies bei ihrer Entscheidungsfindung und Stimmabgabe einbeziehen könnten.

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Zahllose Auszählungsmethoden werden weltweit angewendet und weiterentwickelt, ohne mathematische Expertise lassen sich ihre Effekte im Vorhinein kaum erkennen. Doch die Entscheidung für ein Sitzzuteilungsverfahren bilden die Grundlage, auf der Mehrheiten in Gremien generiert werden. Es ist mehr als bedauerlich, dass die meisten Wählerinnen und Wähler sich dieser Zusammenhänge kaum bewusst sind.

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Nun ist nicht damit zu rechnen, dass sich der Betriebsrat des wissenschaftlichen Personals zu einem Schlachtfeld politischer Auseinandersetzungen entlang der Grenzen der drei gewählten Listen entwickelt. Klubzwang und hauchdünne Mehrheiten dürften in den kommenden Jahren eher untergeordnete Phänomene darstellen. Gerade deshalb sollte es aber möglich sein, unabhängig von ephemeren Sachinteressen und persönlichen Sympathien für einzelne Gewählte oder Nichtgewählte einen Prozess des Kompetenzaufbaus und der Willensbildung in Gang zu setzen, der das gedankliche Eindringen in komplexere mathematische Zusammenhänge nicht scheut, um Wahlverfahren kritisch zu evaluieren und dann bewusste und begründete Entscheidungen für oder gegen einzelne Auszählungsmethoden zu treffen. Von diesen Verfahren hängt das Generieren von Mehrheiten entscheidend ab.

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