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Ihr seid die Lampen, die ihr tragt – Lasst euch mit Heiligem Geist füllen! Die Dramatik von Gnade und Gericht im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:„Mit dem Himmelreich wird es sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen“ (Mt 25,1). Das klingt nach einem freudevollen Himmelreichgleichnis. Aber dann werden wir damit konfrontiert, dass Menschen, die sich wie die Brautjungfern auf die himmlische Herrlichkeit freuen, hart und für immer durch den Christus-Bräutigam vom Himmel ausgesperrt werden, weil ihnen das Missgeschick passiert ist, dass ihr Öl nicht reicht. Ist das nicht ein unbarmherziger Gott, der Scheiternden keine zweite Chance eröffnet? Und sind nicht die klugen Jungfrauen Heilsegoisten, da sie nicht bereit sind, ihr Öl mit den Verzweifelnden zu teilen? Dieses Gleichnis hat zu ganz unterschiedlichen Reaktionen geführt. Manche deuten es barmherzig um, so dass doch noch alle in den Hochzeitssaal dürfen, und verfehlen damit die Härte von Jesu Warnungen. Andere machen daraus Höllenpredigten, die sie sogar Jugendlichen zumuten: „Ohne Öl in deiner Kanne haut dich Jesus in die Pfanne“. Dieser Aufsatz eröffnet einen starken Mittelweg: Gott gibt immer wieder neue Heils-Chancen, aber eine wird die letzte sein. Du weißt nicht welche. Deshalb spekuliere nicht auf die Barmherzigkeit Gottes.
Publiziert in:
Datum:2017-11-14

Inhalt

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1. Der biblische Text

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1 Dann wird es mit dem Himmelreich sein wie mit zehn Jungfrauen,

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       die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen.

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2 Fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug.

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3 Die Törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl,

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4 die Klugen aber nahmen mit ihren Lampen noch Öl in Krügen mit.

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5 Als nun der Bräutigam lange nicht kam, wurden sie alle müde und schliefen ein.

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6 Mitten in der Nacht aber erscholl der Ruf: Siehe, der Bräutigam!

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             Kommt heraus, zur Begegnung mit ihm!1

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7 Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht.

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8 Die törichten aber sagten zu den klugen:

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             „Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus!“

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9 Die Klugen erwiderten ihnen:

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             „Niemals! Es würde nicht für uns und für euch reichen2;

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             geht lieber zu den Händlern und kauft es euch!“10

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Während sie noch unterwegs waren, um es zu kaufen, kam der Bräutigam.

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       Die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal

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       und die Tür wurde zugeschlossen.

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11 Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen:

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             „Herr, Herr, mach uns auf!“

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12 Er aber antwortete ihnen und sprach:

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             „Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.“

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13 Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde. (NEÜ)3

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2. „Seid also wachsam!“ – Eine verschärfte Warnung an Christen

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Noch einmal vergleicht Jesus das Himmelreich mit einem Hochzeitsfest. Ähnliches geschieht drei Kapitel früher im Gleichnis von der Einladung zum Hochzeitsmahl:

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„Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der die Hochzeit seines Sohnes vorbereitete ...“ (Mt 22,2).
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Mit diesem früheren Gleichnis warnt Jesus die verstockten Führenden von Jerusalem. Er beschreibt sie als jene geladenen Gäste, die die wiederholten Einladungen des göttlichen Königs ausschlagen und ihre Übermittler verfolgen. Als Konsequenz wird ihre Stadt in Schutt und Asche gelegt. Noch schärfer jedoch warnt Jesus jene, die der Einladung folgen, ohne aber genügend vorbereitet zu sein: Wehe, wenn sie kein Hochzeitsgewand anhaben!4

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Diese Warnung wird weitergeführt mit dem Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen, das nun – wie zwei kleine vorausgehende Gleichnisse5 – ausdrücklich an die Jünger gerichtet ist. Dass auch jene, die leidenschaftlich die Ankunft des Christus-Bräutigams erwarten, vom himmlische Hochzeitsmahl ausgesperrt werden können – von einem Christus, der sagt, dass er sie nicht kennt – ist irritierend und erschütternd. Wie können wir diese Warnung an Christen, die faktisch auf eine Höllendrohung hinausläuft, so verstehen, dass die Frohbotschaft von einem bedingungslos liebenden Gott nicht verdunkelt wird?

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3. „Dann reicht es weder für uns noch für euch“ – Die Antwort von klugen HeilsegoistInnen?

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Stellen wir uns eine antike Hochzeit vor: Der Bräutigam holt die Braut in ihrem Haus ab. In einem feierlichen, nächtlichen Fackelzug werden Bräutigam und Braut zum Haus mit dem Hochzeitssaal geführt. Dafür sind die Brautjungfern zuständig, die den Weg mit Ölfackeln beleuchten.

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Verwendet wurden dafür nicht Öllampen, die zur Beleuchtung des nächtlichen Wegs zu wenig hell wären, sondern sogenannte Gefäßfackeln: Stangen, die mit ölgetränkten Lappen umwickelt sind und an denen ein Ölgefäß angesteckt ist. Das ist nötig, weil Fackeln viel mehr Öl als Öllampen brauchen.6 Dass es sich eigentlich um Fackeln und nicht um Lampen handelt, ist nicht unbedeutend, denn im Gleichnis geht es darum, dass wir – entzündet von Gottes Liebe – wie Fackeln brennen; und dass wir Öl in uns haben, damit unser Licht nicht wie ein Strohfeuer in uns verlischt. Weil aber bei diesen Fackeln ein Ölgefäß angebracht ist, will ich im Folgenden, wie traditionell üblich, weitherhin von Öllampen sprechen.

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Das Gleichnis zeigt uns zehn solche Brautjungfern, die im Haus der Braut – die im Gleichnis unerwähnt bleibt – auf den Bräutigam warten. Alle haben ihre Lampen dabei, aber nur fünf von ihnen das nötige Öl. Der Bräutigam lässt lange auf sich warten, und so schlafen alle ein.

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Als dann mitten in der Nacht mit Geschrei der Bräutigam angekündigt wird, wachen die Brautjungfern auf und machen ihre Lampen zurecht. Bei fünf von ihnen ist der Schreck groß, weil sie feststellen, dass sie nicht genügend Öl für den Fackelzug zum Hochzeitssaal haben.

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„Die törichten [Jungfrauen] aber sagten zu den klugen:
‚Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus!‘
Die Klugen erwiderten ihnen:
‚Niemals! Dann reicht es nicht für uns und für euch;
geht lieber zu den Händlern und kauft es euch!‘“ (Vers 8-9)
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Das ist eine erste Stelle, die manche LeserInnen irritiert. Sind fünf von ihnen zwar klug, aber zugleich egoistisch? Sie stürmen in den himmlischen Hochzeitssaal und lassen die Armen ohne Öl zurück. Sollten sie es nicht eher so halten, wie der vierte König in der Weihnachtslegende? Auf dem Weg zum neugeborenen Messias, den ihnen der Stern weist, bleibt er zurück, weil er sich im Gegensatz zu seinen Gefährten von drei Menschen in Not aufhalten lässt. So versäumt er die Begegnung mit dem Jesuskind. Aber Jesus erscheint ihm, um ihm zu offenbaren, dass er ihm in Gestalt der drei Armen begegnet ist: „Wahrlich, ich sage dir, was du für einen meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan“.7

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Das ist eine schöne Geschichte, aber das Gleichnis lautet anders. Der Verdacht gegen die fünf klugen Jungfrauen, dass sie rücksichtslose Heilsegoistinnen sind, wird allerdings auch vom Gleichnis selber abgewiesen: Das geteilte Öl würde für keinen reichen.8 So wäre auch den Bedürftigen nicht geholfen, und der Fackelzug würde überhaupt nicht ans Ziel kommen.

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Um das besser zu verstehen, müssen wir von der Bildebene des Gleichnisses auf die damit angezielte Wirklichkeit schauen, indem wir fragen: Wofür stehen überhaupt die Fackeln und das Öl?

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4. Ihr seid die Lampen, die ihr tragt – Lasst euch mit Heiligem Geist füllen!

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Die meisten Auslegungen der vergangenen zweitausend Jahre deuten die Lampen auf den Glauben an Christus und das Öl auf die guten Werke bzw. auf den Gehorsam einer gelebten Christusnachfolge.9 Das entspricht auch den Worten Jesu am Ende der Bergpredigt:

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„Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.“ (Mt 7,21)
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Diese Bibelstelle ist wichtig für ein richtiges Verständnis des Jungfrauengleichnisses. Wir werden sie mit ihrer Fortsetzung noch brauchen, um eine weitere schwierige Stelle unseres Gleichnisses besser zu verstehen.10 Allerdings geht es bei dem Öl in unserem Gleichnis nicht nur um gute Werke, die vorzuweisen sind, sondern um etwas Tieferes und Innigeres: nämlich die seinsmäßige Verwandlung, die ein Mensch durchmacht, wenn er sich glaubend den Gnadenerfahrungen Gottes öffnet und von daher – mit der erfahrenen Gnade mitwirkend – sein Leben ändert. Lampen und Öl sind also keine äußerlichen Dinge, die man haben oder Leistungen, die man vorweisen müsste, um an der Tür des himmlischen Hochzeitssaals nicht abgewiesen zu werden, sondern innere, seinsmäßige Bestimmungen, die wachsen müssen. Wir haben nicht nur Lampen, wir sind Lampen – mit oder ohne Öl. In der Bergpredigt sagt Jesus:

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„Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14)
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Und er sagt das nicht zu fertig ausgebildeten Jüngern, sondern zu den frisch berufenen Aposteln und zum ganzen anwesenden Volk, bei dem vielleicht sogar Heiden dabei waren (Mt 4,25). Ihnen allen sagt er nicht etwa, dass sie Licht sein sollen, sondern dass sie Licht sind. Sie sind es im aktuellen Gnadenmoment (biblisch: Kairos) der Bergpredigt, wo sie sich vom ausstrahlenden Licht Christi erfassen ließen. Sonst wären sie ihm nicht auf den Berg gefolgt. Auf diese Weise sind sie Licht, Feuer, Fackeln oder schlicht Lampen. Und sie sind leuchtende Lampen in diesem Moment, da sie „angeschlossen“ sind an den Gnadenstrom Jesu, – im Bild: an das von Jesus überfließende „Öl“.11 Aber dieses Leuchten hat noch keinen Bestand. Die Menschen, die Jesus zuhören, sind noch ein Strohfeuer, das im nächsten Moment verlöschen kann;12 sie sind Salz, das seinen Geschmack zu verlieren droht. Hier setzt Jesus mit seiner Aufforderung an, Licht und Salz zu sein, indem man sich dieses gnadenhaft überfließende göttliche Sein innerlich aneignet und sich durch und durch von ihm verwandeln lässt. Dies geschieht dadurch, dass man im Einklang mit diesem durchströmenden göttlichen Sein handelt und auf diese Weise das innerlich angeeignete Licht nach außen ausstrahlt:

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„Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht eine Leuchte an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet sie allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen. (MT 5,14-16 NEÜ)
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Deshalb ist ein Kairos oder Gnadenmoment – wie exemplarisch jener der Bergpredigt – für die, die dabei sind, Gabe und Aufgabe zugleich. Sie haben Feuer gefangen, aber sie müssen sich erst ganz davon erfassen lassen, um von innen heraus zu brennen:

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„Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lk 12,49)
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Gott will uns zum Brennen bringen, indem er uns die Gnade der Begegnung mit seinem Sohn schenkt. So war es vor zweitausend Jahren für Jesu Zeitgenossen, die ihm begegneten, und so ist es auch heute, – immer wieder, in kleineren und größeren Gnadenerfahrungen (biblisch: Kairoi) unseres Lebens. Paulus macht das Gemeinte in einem Aufruf deutlich:

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„Berauscht euch nicht mit Wein – das macht zügellos –, sondern lasst euch vom Geist erfüllen!“ (Eph 5,18)
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Das griechische Wort (pleróō) bedeutet wörtlich füllen, oder abfüllen, – so wie man eine Öllampe oder ein Ölkännchen füllt. Nur dass wir nicht bloß passive Behälter sind, sondern uns öffnen oder auch verschließen können. Deshalb der Aufruf Jesu: „Lasst euch ... füllen“. Dass wir uns öffnen, dass wir guter Brennstoff für das Feuer oder guter Grund für den Samen sind (vgl. Mt 13), geschieht dadurch, dass wir mit Gottes Gnade mitmachen und uns noch weiter für sie öffnen, – auch mit jenen Anteilen unserer Persönlichkeit, die sich – wie nasses Holz – nicht anzünden lassen wollen. Eine der Möglichkeiten, wie man das machen kann, spricht Paulus in direktem Anschluss an seine Aufforderung an:

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„Lasst euch mit Geist füllen, indem ihr zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern redet und dem Herrn mit eurem Herzen singt und spielt!“ (Eph 5,19 ELB)13
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5. Gottesliebe vor Nächstenliebe: Warum die klugen Jungfrauen ihr Öl nicht teilen durften

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Von daher wird verständlich, dass die klugen Jungfrauen ihr Öl nicht einfach teilen können: weil das Öl keine äußere, sondern eine innere, seinsmäßige Wirklichkeit ist. Deshalb kann das Öl nicht geteilt werden, und deshalb kann man es auch nicht einfach irgendwo kaufen. Wie aber sind dann ebendieser Rat und dieser Versuch im Gleichnis zu aufzufassen?

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... geht lieber zu den Händlern und kauft es euch!
Während sie noch unterwegs waren, um es zu kaufen ... (Vers 9-10)
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Das macht nur Sinn als Rückruf in die langwierigen Wachstumsprozesse des Lebens, wo die Menschen Gottes Gnadenmomente erfahren und sich dadurch – mitwirkend – mit Geist füllen und zu geistgefüllten Lampen wandeln lassen.

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Aber müssten die klugen Jungfrauen nicht genau dazu einen Beitrag leisten, indem sie sich liebevoll den Verzweifelten zuwenden? So könnten sie ihnen jene göttliche Barmherzigkeit vermitteln, die einen Menschen noch in seiner letzten Minute verwandeln kann?14

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Das könnten sie zwar versuchen, aber sie dürfen es nicht: „Dann reicht es weder für uns noch für euch.“ (Vers 9, EÜ)15 — Warum nicht? — Weil es in diesem Gleichnis und der Metaphorik von Fackeln und Öl um die Vermittlung von Heil geht, und dabei können wir stets nur geben, was wir von Gott empfangen. Wer sich von der göttlichen Quelle entfernt, um einem Bedürftigen zu trinken zu geben, wird ihn nicht retten, sondern mit ihm verdursten.16 „Der Fluss strömt einzig, weil die Quelle beharrt“17, oder, wie der heilige Bernhard von Clairvaux predigte:

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„Lerne auch du, nur aus dem Vollen auszugießen, und wünsche nicht, freigebiger als Gott selbst zu sein. Die Schale ahme die Quelle nach: Jene ergießt sich nicht in den Bach oder breitet sich zu einem See aus, ehe sie sich an den eigenen Wassern gesättigt hat. Die Schale schäme sich nicht, daß sie nicht verschwenderischer als ihre Quelle ist.“18
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In diesem Sinn steht die Gottesliebe über der Nächstenliebe, die Treue zu Gott über der Solidarität zu den Mitmenschen. Und zwar so, dass dadurch die Nächstenliebe und die Solidarität nicht begrenzt, sondern als fruchtbare erst freigesetzt wird. Denn Gott ist es, der uns zum Nächsten ruft, – nach seiner Wahl, zu seiner Zeit, an seinem Ort. So führt es Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter vor:

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„Als er ihn [den unter die Räuber Gefallenen] sah, hatte er [übernatürliches] Mitleid mit ihm. Er ging zu ihm hin ...“ (Lk 10,33)19
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Aber das ist gerade nicht die Situation der klugen Jungfrauen. Denn eben jetzt erfahren sie den Ruf, dem Bräutigam zu folgen.20 Dieser wird sie auch zu den Bedürftigen rufen, aber zu seiner Zeit.

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Bernhard von Clairvaux hat diesen Vorrang der Gottesliebe vor der Nächstenliebe in einer Predigtreihe über das Hohelied Salomos scharf herausgestellt:

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„Wenn ich nur noch einen kleinen Rest Öls habe, um mich damit zu salben (2 Kön 4,2-5), glaubst du, ich müßte ihn dir geben und selbst mit leeren Händen zurückbleiben? Ich behalte ihn für mich und schaffe ihn nur auf ausdrückliches Geheiß des Propheten herbei. Sollten mich aber manche von denen, die mich etwa über das hinaus beurteilen, was sie an mir sehen oder von mir hören, mit ihren Bitten bestürmen, dann wird ihnen geantwortet werden: ‚Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht doch zu den Händlern und kauft was ihr braucht.‘ (Mt 25,9) — Aber ‚die Liebe‘, sagst du, ‚sucht nicht das Ihre.‘ (1 Kor 13,5) — Und weißt du, warum? Sie sucht nicht das Ihre, weil es ihr nicht fehlt.“21
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Ich glaube allerdings, dass Bernhard hier überzieht. Mutter Teresa ist ein Beispiel für eine Nachfolgerin Christi, die jahrelang Gottes Liebe nicht mehr spüren konnte und sich dennoch im Dienst für die Ärmsten verausgabte. Sie gab nicht nur alles, was sie hatte, sondern noch extremer: Sie gab, obwohl sie (vermeintlich) nichts für sich selber hatte. In ihrem Dienst fühlte sich völlig ausgebrannt.22 Und dennoch war ihr Tun fruchtbar.

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Das war möglich, weil sie mit ihrem Dienst treu einem göttlichen Ruf folgte, den sie (lange zuvor) mit großer Sicherheit empfangen hatte. Sie hatte sich also nicht von der göttlichen Quelle entfernt, als sie den Ärmsten zu trinken gab, auch wenn sie von den durch sie strömenden Gnaden selber nichts spüren konnte.

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6. Ein erbarmungsloser Gott, der keine zweite Chance gibt?

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„Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: ‚Herr, Herr, mach uns auf!‘
Er aber antwortete ihnen und sprach: ‚Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.‘“ (Vers 11-12)
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Hart erscheint im Gleichnis, dass Christus jene abweist, die zu ihm wollen. Wir tun uns schwer, die Worte des Christus-Bräutigams „Ich kenne euch nicht“ mit seiner Liebe und Barmherzigkeit zu vereinbaren. Deshalb hat man immer wieder versucht, die Schärfe des Gleichnisses und ähnlicher harter Aussagen des Evangeliums abzumildern.

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6.1 „Lasst alle hereinkommen!“ – Sympathische Umdeutungen des Gleichnisses

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In seinem großen Matthäus-Kommentar kritisiert Ulrich Luz die versöhnliche Uminterpretation eines Exegeten, der „eine neue (nach ihm ursprüngliche!) Geschichte erfindet. Nur die dummen jungen Frauen schlafen ein, aber es dürfen trotzdem alle am Hochzeitsfest teilnehmen!“ Diesen Vorschlag kommentiert Luz ironisch: „Das ist nett vom Βräutigam, schön für die dummen parthénoi [= Jungfrauen] und im übrigen das, was man aus mannigfaltigen theologischen Gründen gerne hören würde!“23

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Luz selber hütet sich vor solchen Uminterpretationen. Allerdings beschließt er seine umfangreiche Abhandlung über das Gleichnis mit einer „sachkritischen Überlegung“:

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„Zerstört das Ende der Parabel den Grundton der Freude, der in ihr steckt? Hätte nicht Jesus, der Künder von Gottes unendlicher Liebe, die Türe zu seinem Freudenfest auch für diejenigen öffnen sollen, die Gott aus ihrem Leben verdrängt haben?“24
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Und Luz empfiehlt die Neuerzählung des Jungfrauengleichnisses durch den griechischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis:

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„‚Was würdest du tun, wenn du der Bräutigam wärest, Nathanael?‘, fragte Jesus und richtete seine großen dunklen Augen auf ihn. Nathanael schwieg. Er sah noch nicht ganz klar, was er tun sollte. Teils wollte er sie fortjagen, das Tor war ja νerschlossen, so gebot es das Gesetz, teils taten sie ihm leid, und er wollte ihnen öffnen ... ‚Ich würde öffnen‘, sagte er leise, damit der Dorfälteste ihn nicht hören sollte. Er konnte seinem Blick nicht widerstehen,
‚Recht getan, Nathanael‘, sagte Jesus froh und streckte seine Hand aus, als ob er ihn segnete. ‚In dieser Stunde bist du lebendigen Leibes ins Paradies eingegangen‘.
Das gleiche tat auch der Bräutigam. Er rief den Dienern zu: Öffnet das Tor, dies ist eine Hochzeit, alle sollen essen und trinken und fröhlich sein! Laßt die gedankenlosen Jungfrauen hereinkommen und sich die Füße waschen, denn sie sind weit gelaufen‘.“25
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6.2 „Ohne Öl in der Kanne haut dich Jesus in die Pfanne“ – Eine Höllenpredigt für Jugendliche

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Andere sehen in solchen Umdeutungen einen faulen Kompromiss, der das Evangelium halbiert, indem man sich nur die Rosinen herauspickt. Damit würde man genau jene törichten Jungfrauen produzieren, vor denen das Gleichnis warnt. So sieht es Theo Lehmann, ein evangelischer Pfarrer, Jugendevangelist und Buchautor in einer veritablen Höllenpredigt für Jugendliche (!), die er vor fünfundzwanzig Jahren zum Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen hielt:

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„Mir begegnen immer wieder Menschen, die sagen: ‚Na klar bin ich Christ, na klar lese ich die Bibel, aber was ich da lese, zum Beispiel über Ehe und über Ehebruch und über das letzte Gericht und über Wahrhaftigkeit und die Verdammnis und so, also was Jesus da sagt, das kann man doch so nicht mehr sagen [...] Meiner Meinung nach geht das heute so alles nicht mehr!‘ — Das ist die Sprache der halben Christen. Die glauben nur noch die Hälfte von dem, was Jesus sagt. Und die machen nur noch die Hälfte von dem, was Jesus sagt, und die lassen nur noch die Hälfte gelten von dem, was die Bibel sagt. Solche Leute gibt es ganz bestimmt in jeder Versammlung, also jetzt auch heute Abend hier. — Und die Frage ist, was wird denn mit denen? Was wird Jesus mit den halben Christen machen? Und um die Frage zu beantworten, da brauchen wir uns selber gar keine Gedanken machen, da brauchen wir nur die Bibel aufzuschlagen. Jesus hat sich ganz eindeutig dazu geäußert, und zwar in einer ganz scharfen Ausdrucksweise. In der Offenbarung sagt er: ‚Ich weiß, dass ihr weder kalt noch warm seid. Wenn ihr nur eines von beiden wärt! Aber ihr seid weder warm noch kalt. Ihr seid lauwarm. Das ekelt mich, und deswegen werde ich euch aus meinem Munde ausspucken‘ (Offb 3,15). — Das heißt also: Jesus kotzen halbe Christen an.26
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Immer wieder gerieten christliche Prediger – wie hier Theo Lehmann – in Versuchung, Gottes Liebe Grenzen zu setzen: Letztlich liebt Jesus nur jene Menschen, die ihn als gläubige Christen angenommen haben. Im Gleichnis wären das jene, die mit Lampen auf den himmlischen Bräutigam warten. Aber auch unter diesen glaubenden Christen liebt Jesus letztlich nur jene, die die ihm kompromisslos nachgefolgt sind: nicht bloß salopp einhändig, sondern mit beiden Händen: mit der Lampe in der Linken und dem vollen Ölgefäß in der Rechten. Alle anderen bleiben aus dem himmlischen Hochzeitssaal ausgesperrt. Das heißt, sie gehen in die Hölle. Genau so interpretiert Theo Lehmann das Jungfrauengleichnis, und er bringt seine Botschaft mit einem markigen Spruch auf den Punkt:

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„Ohne Öl in der Kanne haut dich Jesus in die Pfanne.“27
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Die Tragik dieses Ansatzes liegt darin, dass er Menschen unter Druck setzt, sich restlos einem Christus anzuvertrauen, der zugleich als abstoßend beschrieben wird. Wie sollen halbwüchsige Mädchen ein kompromissloses Ja zu Jesus sprechen, wenn sie zugleich fürchten müssen, von ihm „in die Pfanne gehaut zu werden“, falls sie sich daneben noch für Jungs und Partys interessieren?28 Solche „double-binds“ – das heißt innere Widersprüche zwischen dem was man verlangt (sich Jesus anvertrauen) und dem was man tut (Jesus als abstoßend beschreiben) – können (zumal bei jungen Menschen) zu psychischen Verletzungen und Verbiegungen führen, die der Psychotherapeut Tilmann Moser als „Gottesvergiftung“ gebrandmarkt hat.29

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6.3 Auf der Suche nach einem starken Mittelweg

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Die bleibende Herausforderung von Extrempositionen wie der eben beschriebenen besteht darin, dass sie bei aller Verbiegung des Gottesbildes auch etwas Richtiges sehen, das von gemäßigteren Bibelinterpreten und Christen gerne verwässert wird: den bedingungslosen Ernst und die äußerste Schärfe der Warnung Jesu vor einem Zu spät, einem „Rien ne va plus“ („Nichts geht mehr“), das definitiv auf Hölle hinausläuft.30 So stellt sich die dringende Frage: Gibt es einen Mittelweg zwischen dem Straßengraben einer liberal-christlich verwässerten und deshalb wirkungslosen Frohbotschaft und dem entgegengesetzten Straßengraben einer antiliberalen Drohbotschaft, die die HörerInnen einer „Gottesvergiftung“ aussetzt? Dieser Mittelweg darf kein schwacher Kompromiss sein, sondern muss die berechtigten Anliegen von beiden Extrempositionen einfangen.

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6.4 Viele zweite Chancen – mit der Warnung, dass es eine letzte gibt

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Schauen wir dazu genauer, worin die Anstößigkeit des Gleichnisses besteht: Obwohl die als töricht bezeichneten Jungfrauen ernsthaft auf Christus warten, mit Lampen und auch mit (leider zu wenig) Öl, und obwohl sie sich bemühen, mitten in der Nacht das fehlende Öl zu organisieren, weist der Christus-Bräutigam sie ab, als sie verzweifelt an die Tür des Hochzeitssaals klopfen und um Einlass bitten. Ihr Fehler scheint nicht wiedergutzumachen zu sein. Es gibt keine zweite Chance für sie. Wie geht das zusammen mit Christus, dem guten Hirten, der den verlorenen Schafen nachgeht – wieder und wieder – und sogar sein Leben für sie hingibt (Joh 10)?

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Für eine Antwort müssen wir berücksichtigen, dass dieses Gleichnis vom Jüngsten Gericht handelt.31 Damit ist ein letztes Gericht nach unserem Tod im Angesicht des wiedergekommenen Christus gemeint, wobei dieses auf viele Entscheidungs- und Gerichtssituationen zurückgreift, die sich – oft unbemerkt – mitten in unserem Leben abspielen. Das Gleichnis vom Weltgericht, das bald nach dem Jungfrauengleichnis folgt, macht diesen Zusammenhang deutlich: Beurteilt wird nicht, wie die Menschen zum Zeitpunkt des Weltgerichts zu Jesus stehen, sondern wie sich während des Lebens zu jenem Christus gestellt haben, der sich mit den Bedürftigen in der Welt identifiziert hat:

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„Wann haben wir dir (nicht) zu essen, zu trinken, anzukleiden ... gegeben? — Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder (nicht) getan habt, habt ihr mir (nicht) getan“ (Mt 25,40.45).
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Das heißt, der Ruf „Der Bräutigam kommt, geht ihm entgegen“ ergeht nicht bloß einmal, sondern viele Male, – allerdings auf eine Weise, die man leicht überhört. Er erklingt in jedem Gnaden-Kairos, in dem Gott unser Herz für ihn – vor allem in Gestalt bedürftiger Geschöpfe – öffnet. So ist es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, wo dieser (ebenso wie vor ihm der Priester und Levit) den unter die Räuber Gefallenen sah (was ein Gnadenereignis war: Gott öffnete ihm die Augen), und von einem übernatürlichen Mitleid erfasst wurde, das Gott jenen schenkt, die der Gnade des Sehens nicht (wie zuvor der Priester und der Levit) ausweichen.32 Genau so ereignet sich das Kommen des Herrn – das Aufleuchten seiner Gegenwart vermittelt durch den Heiligen Geist – als Gnaden- und Gerichtssituation mitten in unserem Leben. So müssen wir einen Schlüsseltext für das Jungfrauengleichnis verstehen, der diesem Gleichnis vorausgeht:

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„Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die mit derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen.“ (Mt 24,40f)
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Übertragen wird diesen Vergleich auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Dieser ließ sich von Christus mitnehmen, während der Priester und der Levit zurückgelassen wurden. Denn sie hatten sich nicht vom (inkognito) ankommenden Jesus Christus mitnehmen lassen.

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Es gibt also nicht bloß eine, sondern viele „Ankünfte“ Jesu. Er ist nicht nur vor zweitausend Jahren gekommen, um am Ende der Zeiten wiederzukommen. Vermittelt durch den Heiligen Geist kommt er in zahllosen größeren und kleineren Gnaden-Kairoi – für einzelne oder für viele zugleich – immer wieder an. Dabei ereignet sich jeweils Gericht, je nachdem, ob und wie weit wir den Ankommenden annehmen oder ablehnen. Nur deshalb, weil die letzte Ankunft, die Parusie,33 sich durch zahllose kleine Ankunftsereignisse mitten in unserem Leben vorschattet, macht die Dringlichkeit von Jesu Warnung einen Sinn:

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„Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.“ (Mt 24,44)
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Wie sollten wir denn mit unausgesetzter Wachsamkeit jetzt schon zweitausend Jahre lang auf jene Wiederkunft Christi warten, die wir in jeder Eucharistiefeier hoffend erbeten: „... bis du kommst in Herrlichkeit“? Und selbst wenn wir dies auf den eigenen Tod beziehen, weil er uns in das Jüngste Gericht bringt, ist das Ereignis des erwarteten eigenen Todes viel zu weit weg, als dass wir deswegen jederzeit wachsam und bereit sein könnten. Dasselbe Problem stellt sich sogar für jene fundamentalistischen Christen, die den Weltuntergang und die Ankunft Christi auf den Wolken des Himmels als buchstäbliches Ereignis für die nächsten Jahre erwarten: Selbst wenn ich wüsste, dass in zwei Jahren die Welt untergeht, wäre das immer noch zu weit weg, um, wie Jesus es uns einschärft, jederzeit wachsam und bereit zu sein.

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Ganz anders verhält es sich hingegen, wenn mit der Wiederkunft Christi jene Gnaden- und Gerichtsereignisse mitten in unserem Leben mit gemeint sind, die die endgültige Ankunft Christi ein Stück weit vorwegnehmen. Ein solcher Kairos, ein solches Aufleuchten seiner Gegenwart kann buchstäblich jederzeit passieren, – vielleicht sogar gerade jetzt, wo Sie diese Zeilen lesen.34

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„Der Bräutigam kommt, geht ihm entgegen“ (Vers 6): Dieser Ruf kann sich also buchstäblich jederzeit ereignen. Und wenn er erklingt, wird eine(r) dafür bereit sein, während es andere am falschen Fuß erwischt: „Ach, bitte nicht jetzt, das würde meine Pläne durcheinanderbringen!“

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Solche Ereignisse mitten in unserem Leben sind die konkreten Anwendungsfälle für das Jungfrauengleichnis, und hier gilt im Normalfall, dass die törichte Jungfrau, als die wir uns erweisen, noch eine zweite Chance hat. Es bleibt ihr eine Frist, Öl zu kaufen in den noch ausstehenden Kairoi ihres Lebens, wo Gott das Fehlende und Versäumte zu seiner Zeit nach seinem Maß verteilt:

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„Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser! Auch wer kein Geld hat, soll kommen. Kauft Getreide, und esst, kommt und kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung!“ (Jes 55,1)
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6.5 Das berechtigte Anliegen der sympathischen Umdeutungen des Gleichnisses

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Aber hat damit Nikos Kazanzakis nicht doch recht, wenn er das Gleichnis optimistisch neu erzählt: „Lasst die gedankenlosen Jungfrauen hereinkommen und sich die Füße waschen, denn sie sind weit gelaufen“? — Ja, er hat absolut recht dort, wo wir das Gleichnis auf die Kairoi, also die Gnaden- und Gerichtssituationen mitten in unserem Leben anwenden.35Darum – nicht erst um das Ende der Zeiten, wo alles bereits entschieden und unter Umständen zu spät ist – geht es doch in den Wachsamkeitsgleichnissen: „Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.“ (Vers 13) Mit dieser Wachsamkeit ist die jederzeitige Bereitschaft gemeint, Gott anzunehmen, wenn er sich zeigt. Diese Bereitschaft soll ich durch Erfahrungen angenommener und auch verpasster Kairoi – manchmal als kluge, manchmal als törichte Jungfrau – einüben, solange noch Zeit dafür ist. Dass diese Zeit der Vorbereitung und auch des gnädigen Aufschubs der Wiederkunft Christi genutzt wird, ist das eigentliche Anliegen dieser Warngleichnisse. Aber diese Zeit des Lernens in Versuch und Irrtum, mit verpassten Kairoi, auf die Gott immer wieder gnädig eine zweite Chance eröffnet, ist nicht unbegrenzt. Und du weißt nicht, wann die Frist endet. Deshalb darf man niemals auf eine zweite Chance spekulieren.

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„Der Herr zögert nicht mit der Erfüllung der Verheißung, wie einige meinen, die von Verzögerung reden; er ist nur geduldig mit euch, weil er nicht will, dass jemand zugrunde geht, sondern dass alle sich bekehren. Der Tag des Herrn wird aber kommen wie ein Dieb.“ (2 Petr 3,9-10)
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Es gibt den Punkt, wo die Zeit der Chancen vorbei ist. Und das genau ist jene endgültige, allen offenbare Parusie, von der das Matthäusevangelium beginnend mit Kapitel 24 berichtet. Es gibt den Zeitpunkt, an dem nichts mehr zu entscheiden ist, weil alles schon entschieden ist: im persönlichen Tod und in Ereignissen, die den Tod mitten im Leben vorschatten: Vorfälle oder Entwicklungen, von denen her Gott als Gegenstand der Wahl nicht mehr zugänglich ist.

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Diese biblische Warnung, dass die Zeit des Reifens nicht nur unserer Sehnsucht, sondern auch unserer Bereitschaft für Gott begrenzt ist, darf nicht unterschlagen werden. Genau das ist gemeint mit der Tür zum Hochzeitssaal, die so verschlossen ist, dass sie nicht wieder aufgehen wird. Und im Blick auf die geradezu zahllosen, aber doch begrenzten Kairos-Situationen, in denen Gott uns verlorenen Schafen nachgeht, ist dieses Bild des strengen Richters ein zugleich maximal barmherziges: Gott gibt unvorstellbar viele zweite Chancen, aber eine davon – und wir wissen nicht welche – wird die letzte sein.

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6.6 „Ich stehe an der Tür und klopfe an ...“ – Was in Lehmanns Höllenpredigt zu kurz kommt

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Schauen wir von da aus nochmals auf Theo Lehmanns Jugend-Höllenpredigt: „Jesus kotzen halbe Christen an.“ – Das ist zwar unflätig ausgedrückt, aber im Blick auf Offb 3,15 nicht abzuweisen. Doch man beachte die Fortsetzung:

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„Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich wirst; und kaufe von mir weiße Kleider, und zieh sie an, damit du nicht nackt dastehst und dich schämen musst; und kaufe Salbe für deine Augen, damit du sehen kannst.“ (Offb 3,18)
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Der Rat, beständiges Gold zu kaufen, erinnert an die Aufforderung im Jungfrauengleichnis: „Geht doch zu den Händlern und kauft, was ihr braucht.“ Das feuerbewährte Gold entspricht dem Öl im Jungfrauengleichnis und steht für den Heiligen Geist, mit dem wir uns füllen lassen sollen (Eph 5,18)36. Die „Händler“, bei denen wir diese Gaben „kaufen“ können – und zwar kostenlos, wie Jes 55,1 betont – sind die Diener und Mittler Jesu Christi, die sich bereits ein Stück weit von ihm verwandeln ließen. Für sie stehen auch die Knechte, die der König auf die Straßen hinaussendet, um alle zum Hochzeitsmahl einzuladen, Böse und Gute (Mt 22,10).

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Die weißen Kleider, die man kaufen und anziehen soll, entsprechen dem Hochzeitsgewand, das man nicht nur anzieht, sondern in das man hineinwächst, um einst im himmlischen Hochzeitssaal nicht nackt vor dem Bräutigam zu stehen (Mt 22,11f).37 Zu erwerben ist es bei den Dienern und MittlerInnen Christi sowie in jeder geschöpflichen Wirklichkeit, die Christus, der Schöpfungsmittler erwählt hat, um dadurch mitten in dieser Welt anzukommen.

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Die Salbe für die Augen schließlich ist Gabe des Heiligen Geistes, durch den Christus „die Augen unseres Herzens öffnet, damit wir verstehen, zu welcher Hoffnung wir durch ihn berufen sind, welchen Reichtum die Herrlichkeit seines Erbes den Heiligen [d.h. den zur Heiligkeit Erwählten] schenkt“ (vgl. Eph 1,18). Diese augenöffnende Salbe oder „Salbung“ entspricht der Geistesgabe der Weisheit, die sich begreifen lässt als „das Gespür für den Ewigkeitsaugenblick meines Lebens“38, – also für den jeweiligen Kairos, in dem Christus mitten in dieser Welt ankommt.

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Und das prophetische Christuswort aus der Johannesoffenbarung an die Gemeinde von Laodizea fährt fort:

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„Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir.“ (Offb 3,20)
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Dieser Wunsch, Mahl zu halten ist das Gegengewicht zur vorhergehenden Warnung vor dem Ausspeien. Mit beiden Gewichten muss das Bild Christi austariert werden, um nicht zu kippen.

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Damit müsste man in Theo Lehmanns Christusbotschaft – in seinem Sprachstil – folgendermaßen korrigieren:

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„Liebe Leute aus der Gemeinde. Auch wenn mich eure Lauheit ankotzt, so möchte ich doch nichts lieber, als mit euch zum Essen, Trinken und zum Feiern zusammenzusein. Lasst mich also bitte rein, auch wenn das bedeutet, dass ihr euren Lebensstil ändern müsst.“
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Bei Jesus ist beides maximal: die Kritik und die Solidarität. Wer nur die Kritik hervorhebt, verfehlt den wahren Jesus ebenso wie jene, die seine Warnungen und seine harte Kritik verschweigen, um ihn als uneingeschränkt menschenfreundlich erscheinen zu lassen.39

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Theo Lehmann betont Jesu Kritik so sehr, dass er dafür seine Barmherzigkeit verdunkelt, und das hat konkrete Auswirkungen für seinen Umgang mit Jugendlichen. In seiner Predigt beklagt er sich über zwei halbwüchsige Mädchen, die zwar beim Gemeindechor fromme Lieder mitsingen, aber in ihrem Lebensstil eine eindeutige Entscheidung für Jesus vermissen lassen. Worauf sie nicht verzichten wollen: „Disco, Jungs, Freiheit, in der Liebe selber bestimmen und so“. Lehmann schließt seine Beispielerzählung mit dem Urteil:

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„Wieder das Rumgeeiere, wieder keine Entscheidung – weil sie Jesus nicht ganz gehören wollten, sondern eben bloß halb. Sie dachten gar nicht daran, aus der Kirche auszutreten, aber sie bedachten nicht, dass halbe Christen am Schluss draußen vor der Türe stehen, wenn Jesus sagt: Ich kenne euch nicht!
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Hier folgt die Gretchenfrage, das Schibbolet, mit dem man anscheinend Farbe bekennen muss, ob man ein moralisch laxer Liberaler oder ein konservativer Hardliner ist: Hat der Prediger mit diesem Urteil recht oder nicht? — Allerdings liegt die richtige Antwort jenseits von einem einfachen Ja oder Nein. Theo Lehmann hat Unrecht, aber nicht dadurch, wie er urteilt, sondern weil er urteilt.

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Sein Urteil ist vorschnell, weil er zwar weiß, dass er den Jugendlichen die herausfordernde Botschaft Christi vermittelt hat, aber nicht wissen kann, wie weit diese Vermittlung sie wirklich innerlich erreicht hat. Er weiß nicht, ob und wie weit die bisher gehört Glaubensverkündigung für die Jugendlichen zum Kairos wurde, also zu einem Ewigkeitsmoment, an dem einem Gott wirklich so tiefer aufgeht, sodass man mit seinem nicht geänderten Lebensstil eine wirkliche Entscheidung gegen Gott treffen würde. Lehmann hat zwar recht: Halbe Christen stehen am Schluss draußen vor der Tür. Und ihm ist wohl auch zuzustimmen, dass die Mädchen das nicht bedachten. Aber konnten sie es schon wirklich bedenken? Es gibt die Zeit des letzten Gerichts. Es gibt aber auch eine vorausgehende Zeit der schier endlosen Geduld Gottes, wo Christus auch jene, die ihn schon mehrfach zurückgewiesen haben, nochmals neu und tiefer in sein Gottesreich einlädt, – immer wieder. Die Wachsamkeitsgleichnisse, zu denen das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen gehört, markieren den Abschluss einer langen Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu, wo er Menschen immer wieder einlud; und sie stehen knapp vor Jesu Passion und seinem Kreuzestod, durch welche er selbst den Verstocktesten, die er durch Worte und Taten nicht mehr erreichen konnte, noch einmal einen Weg zur Erlösung öffnet. Dieses Vorspiel und dieses Nachspiel von Jesu Gerichtsworten dürfen wir nicht unter den Tisch fallen lassen, wenn wir seine Warnungen vor einem ewigen Heilsverlust verkünden.

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Deshalb dürfen wir nicht vorschnell urteilen. Wir müssen zwar auf das Jüngste Gericht und die Gefahr der Hölle hinweisen, müssen aber das Richten ihm überlassen. Im Gleichnis vom Weizen und Unkraut hat Jesus darauf hingewiesen:

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„Da sagten die Knechte [zum Gutsherren]: Sollen wir gehen und [das Unkraut] ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte. Wenn dann die Zeit der Ernte da ist, werde ich den Arbeitern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune.“ (Mt 13,27-30)
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7. Ein Gott, der Menschen nicht kennen will?

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Allerdings: Auch wenn wir die lange Zeit der Geduld und des Bemühens Gottes – mit vielen Heils-Chancen, die er uns gewährt – berücksichtigen, tun wir uns mit den Worten des Christus-Bräutigams im Gleichnis schwer:

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„Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf! Er aber antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.“ (Vers 25,12)
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Seit ungefähr fünfzig Jahren haben wir uns daran gewöhnt, das Jüngste Gericht als Selbstgericht zu verstehen: Gott liebt jeden Menschen und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass jeder Mensch in den Himmel kommt. Aber der Mensch hat die abgründige Freiheit, alle göttlichen Heilsangebote bis zum Letzten zurückzuweisen. Hölle ist letzte Verweigerung des Menschen Gott gegenüber, niemals aber eine letzte Verweigerung Gottes gegen den Menschen..

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Aber wird diese Sichtweise nicht durch den Schluss unseres Gleichnisses widerlegt? Ebenso wie durch eine ähnlich ausgerichtete Stelle gegen Ende der Bergpredigt?

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„Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und haben wir nicht in deinem Namen viele Machttaten gewirkt? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. (wörtlich: Niemals kannte ich euch) Weg von mir, ihr Gesetzlosen!“ (Mt 7,21-23)
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Zunächst eine Klarstellung, die hier wichtig ist: Die Aussage „ich kenne euch nicht“ bedeutet: „Ihr gehört nicht zu mir“. Analog in Mt 7,23: „Obwohl ihr in meinem Namen aufgetreten seid, habt ihr niemals (d.h. nicht damals und auch nicht jetzt) wirklich zu mir gehört.“40 Die Bergpredigt nennt den Grund dieses harten Urteils deutlich: „weil ihr zwar zu mir Herr! Herr! sagtet, aber nicht den Willen meines Vaters im Himmel getan habt“.

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Dieser göttliche Wille ist nicht auf ein vordergründiges Tun und Leisten – etwa von verdienstlichen guten Werken – beschränkt, sondern bezieht sich auf ein Mittun mit dem, was Gott in den Herzen der Menschen bewegt. Dadurch wird die Gnaden-Gabe zur Gnaden-Aufgabe: zum Auftrag, mit dieser Gnade mitzuwirken, – so wie der barmherzige Samariter mit der gottgegebenen Mitleids-Bewegung in seinem Herzen mitgewirkt hat.41 Dieses Mit-Wirken ist in gesteigertem Maß ein Selber-Tun, und zwar gerade dadurch, dass es sich ganz im Gnadenstrom Gottes vollzieht.42 In solchem verdankt-autonomen Selber-Mit-Tun wird nicht nur Gottes Wille in der Welt umgesetzt, sondern zugleich der im Einklang mit Gott handelnde Mensch geheiligt; er oder sie wird innerlich Gott anverwandelt oder, wie einige alte Kirchenväter sagten, vergöttlicht (vgl. auch: 2 Petr 1,4). So wächst man in eine das ganze eigene Wesen durchdringende Gemeinschaft mit Gott – man wird „himmelsfähig“.

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Ohne diese innere Verwandlung kann der Mensch Gottes herrliche Gegenwart nicht aushalten – so wie ein krankes Auge das gleißende Sonnenlicht nicht erträgt. Es würde für ihn oder sie gelten, was das Alte Testament sagt: „kein Mensch kann [Gott] sehen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20), und nicht weniger das Neue Testament: „Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Hebr 10,31)43 – dann nämlich, wenn man unvorbereitet und unverwandelt ist. So ist es nicht Gott, der den Menschen rauswirft, sondern der Mensch, der vor Gott flieht. Gericht erweist sich als Selbstgericht. Aber das ist deshalb so, weil der Mensch sich im Angesicht Gottes als einen erkennt, der Gott zutiefst wesensfremd ist und deshalb mit ihm keine Gemeinschaft haben kann. Und diese Selbsterkenntnis kommt ihm oder ihr von Gott her – durch die unaushaltbare Begegnung mit ihm – zu. So ist es Gott, der – nicht durch ein richtendes Wort, sondern durch sein göttlich-wahrhaftiges Sein – dem nicht bereiten Menschen innerlich aufgehen lässt, dass dieser mit Gott keine Gemeinschaft hat und sie nicht haben kann. Diese abgrundtiefe, allen falschen Schein und alle unausgegorene Gottesliebe wegbrennende Seins-Mitteilung sagt das Gleichnis mit dem schlichten Christuswort aus: „Ich kenne dich nicht“ – Im Sinn von: „Ich habe keine Gemeinschaft mit dir“. Daraus spricht also kein göttlicher Unwille, mit bestimmten Menschen Gemeinschaft zu haben, sondern die Durchkreuzung dieses göttlichen Gemeinschaftswillens durch die bittere Wahrheit einer Nicht-Gemeinschaft, die das ganze Sein eines Menschen prägt:

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„Wie oft wollte ich euch um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt.“ (vgl. Mt 23,37 = Lk 13,34).
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Anmerkungen

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1 In der revidierten Ausgabe der Einheitsübersetzung von 2017 (im Folgenden kurz: NEÜ) heißt es: „Geht ihm entgegen.“ Die wörtliche Übersetzung „Kommt heraus“ verdeutlicht, dass die Jungfrauen nicht im Freien warten, sondern (vermutlich) im Haus der Braut.

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2 „Niemals“ ist in der NEÜ nicht mitübersetzt.

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3 NEÜ = Einheitsübersetzung, revidierte Ausgabe von 2017. Auf Änderungen zu dieser Übersetzung habe ich durch Unterstreichungen und Fußnoten hingewiesen.

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4 Das Matthäusevangelium bezieht sich damit auf die Vernichtung Jerusalems. Vgl. meinen Aufsatz: In den Himmel ohne Vorbedingungen? Zur Dramatik von Gnade und Gericht im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1-14). Online im Innsbrucker Theologischen Leseraum: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1214.html

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5 Nach Matthäus enthalten Jesu letzte Reden in Jerusalem zwei Dreiergruppen von Gleichnissen: Zuerst erzählt Jesus im Tempel drei Gleichnisse an die verstockten religiösen Führenden von Jerusalem: erstens das Gleichnis von den beiden Söhnen (Mt 21,28-32), wo es um den rechten Gehorsam geht, zweitens das Gleichnis von den bösen Winzern (Mt 21,33-46) mit dem Thema Gericht und drittens das Gleichnis von der Einladung zum Hochzeitsmahl (Mt 22,1-14), das sich auf den Zugang zum ewigen Leben im Gottesreich bezieht. Später mahnt Jesus mit drei Gleichnissen seine Jünger, wachsam zu sein, da der Menschensohn völlig überraschend ankommen wird, „zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet“ (Mt 24,44). Es sind dies: erstens das Gleichnis vom Hausherrn und dem Dieb in der Nacht (Mt 24,43-44), zweitens das Gleichnis vom klugen und vom bösen Knecht (Mt 24,45-51), drittens unser hier zu besprechendes Hochzeitsgleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen.

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6 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Band 3, (Mt 18-25) (EKK I/3). Zürich 1997, 470f. Im Folgenden kurz wie Luz 3,470f.

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7 So schließt die Version der Legende von Henry van Dyke aus dem Jahr 1892. Vgl. dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_vierte_K%C3%B6nig

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8 So übersetzt die Einheitsübersetzung von 1980 (im Folgenden kurz: EÜ) den Text: „Dann reicht es weder für uns noch für euch“. Wörtlich übersetzt kann der Urtext auch schwächer verstanden werden: „Dann reicht es nicht für uns und für euch“. Gemäß meiner Interpretation, die ich im Folgenden geben werde, würde das Öl auch für die Bittenden nicht reichen.

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9 Vgl. die paränetische Deutung in der Interpretationsgeschichte des Gleichnisses, die Luz, ebd. 481-483 bespricht.

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10 Ich meine die Frage, wie wir Jesu harsches Wort „Ich kenne euch nicht“ verstehen können. Vgl. dazu unten Kap. 7.

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11 Man kann hier an Ps 133 denken: „Seht doch, wie gut und schön ist es, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen. Das ist wie köstliches Salböl, / das vom Kopf hinabfließt auf den Bart, auf Aarons Bart, das auf sein Gewand hinabfließt. Das ist wie der Tau des Hermon, / der auf den Berg Zion niederfällt. Denn dort spendet der Herr Segen und Leben in Ewigkeit.“

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12 Im Gleichnis vom Sämann beschreibt Jesus dies als das Samenkorn, das in die Dornen gefallen ist: „In die Dornen ist der Samen bei dem gefallen, der das Wort zwar hört, aber dann ersticken es die Sorgen dieser Welt und der trügerische Reichtum, und es bringt keine Frucht.“ (Mt 13,22)

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13 ELB = Elberfelder Bibel, revidierte Fassung von 1993.

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14 So wie Jesus am Kreuz zum rechten Schächer spricht: „Ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

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15 Die Übersetzung der EÜ „weder für uns noch für euch“ ist etwas frei, – wörtlich heißt es schwächer: „nicht für uns und euch“, was auch bedeuten könnte: „Dann reicht es vielleicht für euch, nicht aber für uns.“ Aus Gründen, die ich gleich vorlegen werde, halte ich diese freie Übersetzung aber für stimmig.

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16 Dieses Thema wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Sündenmystik literarisch verarbeitet (in Werken von Dostojewskij, Graham Greene, Gertrud von LeFort) und theologisch diskutiert. Sündenmystik ist die faszinierende, aber verführerische Idee, dass jemand sich bewusst in Sünde begibt und so sein eigenes Heil aufopfert (indem er sich in die Sünde begibt), in der Hoffnung, dadurch eine in der Sünde verstrickte Person erlösen zu können. Solche Stellvertretung ist allerdings eine Pervertierung der stellvertretenden Erlösung Christi durch sein Kreuz. Nach 2 Kor 5,21 hat Gott den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde [nicht: zum Sünder!] gemacht.

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17 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik 2/1, 31.

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18 Bernhard von Clairvaux, 18. Predigt zum Hohen Lied, II.3, zitiert nach ders., Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. G. Winkler, V, 259.

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19Sehen ist im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ein Schlüsselwort (Lk 10,31.32.33). Gemeint ist ein gesteigertes, übernatürlich freigesetztes Sehen: Gott ist es, der dem Priester, dem Leviten und dem Samariter die Augen öffnet. Während die ersten beiden sich dem unbequemen Sehen entziehen, indem sie „auf der entgegengesetzten Seite vorüber gingen“ (antiparérchomai: Lk 10,31.32), setzt sich der Samariter diesem Blick aus. So wird er von Mitleid erfasst. Dafür verwendet das Gleichnis ein ganz besonderes Wort: esplagchnísthē. Das heißt, er wurde in seinem Innersten (seinen Eingeweiden) bewegt, und zwar – passivum divinum – von Gott. Dieses Wort „splagchnízomai“ kommt im Neuen Testament nur zwölfmal vor, und zwar durchwegs an Schlüsselstellen, wo Gott einen Menschen dazu berührt, dass er durch ihn machtvoll handeln kann. Achtmal ist das auf ein wunderbares Handeln Jesu bezogen, einmal als Bitte an Jesus, und dreimal kommt es in wichtigen Gleichnissen vor: dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, vom barmherzigen Samariter und vom unbarmherzigen Gläubiger, dem der Herr voller Erbarmen die ganze Schuld erlässt. So stehen im Gleichnis vom barmherzigen Samariter die Begriffe Sehen und Mitleid jeweils für ein freisetzendes und ermächtigendes Wirken Gottes, das einen Menschen dazu bestimmt, einem von Gott ausgewählten Anderen gegenüber zum Nächsten zu werden (vgl. Lk 10,36). Allein auf diese Weise wird es möglich, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, – ohne angesichts der zahllosen Bedürftigen überfordert zu werden. So gründet auch hier die barmherzige Nächtstenliebe in einer kompromisslos gehorsamen Ausrichtung auf Gott.

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20 Vgl. Bernhard von Clairvaux, ebd.

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21 Ebd. 259.261.

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22 Vgl. B. Kolodiejchuk (Hrsg.), Komm, sei mein Licht. Die geheimen Aufzeichnungen der Heiligen von Kalkutta, München 2007.

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23 Luz, ebd. 471f.

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24 Ebd. 486.

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25 N. Kazantzakis, Die letzte Versuchung, München 1988, 215. Zitiert nach Luz, ebd. 486.492.

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26 Theo Lehmann, Jugendgottesdienst Nr. 146. Abschrift der Predigt vom 8. November 1992 über Matthäus 25,1 (Die fünf klugen und die fünf törichten Jungfrauen). Online: http://docplayer.org/22570730-Theo-lehmann-jugendgottesdienst-nr-146.html, Hervorhebungen W. S. — Zur Person und zum Wirken von Theo Lehmann vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Theo_Lehmann_(Pfarrer).

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27  Die Formulierung kommt gleich zweimal vor in Lehmann, ebd.https://de.wikipedia.org/wiki/Theo_Lehmann_(Pfarrer)

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28 Genau darauf bezieht sich Theo Lehmann in seiner Predigt.

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29 Vgl. Tilmann Moser, Gottesvergiftung, Über Ursprünge von Religion im frühen Kindesalter. Frankfurt 1976.

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30 Zwar nicht ausdrücklich in diesem Gleichnis, wohl aber in zahlreichen anderen Texten der Evangelien.

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31  Das Gleichnis ist Teil der großen Endzeitrede, bei der es um die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten geht. Vgl. ab Mt 24,26.

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32 Vgl. oben, Anm. 19.

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33 ... die nicht mehr verborgen, sondern für alle sichtbar erfolgen wird. Vgl. Mt 24,27: „Denn wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein.“

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34 Vgl. W. Sandler, Kairos und Parusie. Kairos als Ereignis des in Christus angekommenen und angenommenen Gottes. In: ZkTh 136 (2014), 10-31. Ausführlichere Fassung im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/1018.html. — Sowie stärker auf die christliche Lebenspraxis bezogen: „Nutzt den Kairos!“ Biblische Grundlagen für ein christliches Leben aus der Kraft und Führung Gottes. Gekürzt in: J. Panhofer / N. Wandinger (Hg.), Kirche zwischen Reformstau und Revolution. Vorträge der 13. Innsbrucker Theologischen Sommertage 2012 (theologische trends 22). Innsbruck: innsbruck university press 2013, 53-87; ungekürzt im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/1006.html

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35 Hier würde sich allerdings mit dem Gleichnis von der Einladung zum Hochzeitsmahl ergeben, dass einige der Jungfrauen diese Einladung ausschlagen würden: „Nö, jetzt lieber doch nicht, vielleicht ein andermal“.

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36 Vgl. oben, Kap. 4.

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37 Vgl. dazu W. Sandler, In den Himmel ohne Vorbedingungen? Zur Dramatik von Gnade und Gericht im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1-14). Online im Innsbrucker Theologischen Leseraum: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1214.html

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38 So formulierte Roman Siebenrock in einer Predigt über das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen am 12. November 2017 in der Innsbrucker Jesuitenkirche.

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39 Zur jeweils maximal gesteigerten kritischen Solidarität Jesu vgl. W. Sandler, „Schrecklich ist̓s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“. Gratwanderungen zwischen dem liebenden und dem zornigen Gott im Licht einer Erzählung von Dostojewskij. In: Sandler, Willibald; Wandinger, Nikolaus (Hrsg.): Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001 (theologische trends 11). Thaur - Wien 2002, 47-84; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/264.html. — Weiters W. Sandler, Kreuz-Weg zwischen Aggression und Resignation. In: J. Niewiadomski, R. Siebenrock (Hg.) Opfer – Helden – Märtyrer. Das Martyrium als religionspolitologische Herausforderung (Innsbrucker theologische Studien 83) Innsbruck - Wien, 311-320. Ungekürzt im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/830.html

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40 Nach der Interpretation von Mt 7,23 durch Ulrich Luz „verleugnet der Weltrichter die Gemeinschaft mit diesen Charismatikern und bestreitet, sie je erwählt zu haben“ (ders., Das Evangelium Nach Matthäus, Teilbd. 1, 52002, 529).

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41 Vgl. oben die Anmerkung zu „Mitleid haben“ als splagchnízomai.

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42 Deshalb ist Ludwig Weimer zuzustimmen, wenn er von einem Je-Ganz-Verhältnis zwischen Gottes Gnadenwirken und eigenem menschlichen Tun spricht. Vgl. ders., Die Lust an Gott und seiner Sache. Oder Lassen sich Gnade und Freiheit, Glaube und Vernunft, Erlösung und Befreiung vereinbaren? Freiburg i.Br.-Basel-Wien 1982. — Dieses Je-Ganz-Verhältnis zeigt sich deutlich beim barmherzigen Samariter, der effektiv und zielgerichtet die nötigen Schritte zur Hilfe veranlasst (beschrieben durch sieben Verben, die Schlag auf Schlag einander folgen), und ihn dann mühelos loslässt, ohne sich an ihn oder ihn an sich gebunden zu haben.

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43 Vgl. dazu W. Sandler, „Schrecklich ist̓s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“. a.a.O.

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