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Der Schlüssel zum Schlüsselroman

Johannes Franzens Studie über die Gattung "Schlüsselroman" und deren Rolle in der Literaturkritik. Von Renate Giacomuzzi

 

Johannes Franzen: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960-2015. Göttingen: Wallstein 2018. ISBN 978-3-8353-3217-1. 456 S. Preis [A]: 41,10 €


Jede/jeder glaubt zu wissen, was ein Schlüsselroman ist, doch setzt man sich ernsthaft mit der Bedeutung und  vor allem mit der Funktion auseinander, die dieser Begriff im Literaturbetrieb einnimmt, wird es kompliziert. Johannes Franzen nimmt sich mutig dieses Schmuddelkinds der Literatur an, mutig vor allem deshalb, weil es ich bei den Werken, die mit diesem ‚Totschlägerwort’ erledigt wurden oder werden, um eine äußerst heterogene Gemengelage handelt. Es ist verständlich, dass der Autor eine Abkürzung wählt und darauf verzichtet, den gesamten historischen Weg zu rekonstruieren, für den dieser Begriff die Richtung weist. Als Ursprungsort würde man nämlich nichts anderes als die Grunddefinition für Literatur finden, und diese lautet quer durch alle Theorien – um es auch hier zu vereinfachen – dass in Literatur auch immer ein Körnchen Wirklichkeit steckt, die Frage aber, was Wirklichkeit wirklich ist, mindestens so viele Antworten hat, wie es literarische Werke gibt.

Franzen setzt dort an, wo sich das Phänomen als greifbares Medienereignis darstellt und als solches beschreiben lässt. Als deutlich erkennbare zeitliche Zäsur für den Siegeszug der ‚Gattung’ Schlüsselroman nennt er die 1960er Jahre, denn:

„Die Reichweite einer massenmedialen Literaturberichterstattung macht es möglich, dass Schlüsselromanlektüren zu gesamtgesellschaftlichen Ereignissen anwachsen, die nicht mehr auf eine exklusive Gruppe von Eingeweihten beschränkt bleiben. Dadurch verstärkt sich auch die Schlagkraft des Schlüsselromans als Waffe, sei es zur Kritik öffentlicher Institutionen, sei es zur persönlichen Abrechnung. Das mediale Interesse, verbunden mit einem gesteigerten Skandalpotential, führt dazu, dass Schlüsselromanen der Platz einer festen diskursiven Größe im literarischen Feld der letzten Jahrzehnte zukommt.“ (S. 21)

Ohne Medien also kein Schlüsselroman. Warum auf Medien hierbei unbedingt Verlass ist,  hat Luhmann unwiderlegbar erklärt: Medien kann es nicht um Moral, sondern lediglich um den Code der Moral gehen, denn deren Aufgabe ist nichts anderes als Informationen zu produzieren, die auf Interesse stoßen (vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 1995). Schlüsselromane sorgen immer für Interesse, meist für Aufregung und im besten Fall für einen Skandal.

Prominente Beispiele solcher literarischer Waffengänge sind  Mephisto (1933) von Klaus Mann, Holzfällen  (1984) von Thomas Bernhard, Tod eines Kritikers  (2002) von Martin Walser, Esra (2003) von Maxim Biller oder gleich zwei Romane von Norbert Gstrein, nämlich Das Handwerk des Tötens (2003) sowie Die ganze Wahrheit (2010).  Johannes Franzen ‚fischt’ aber auch weniger bekannte Beispiele aus der „Mülltonne der Literaturgeschichte“ (S. 15), in der die „anrüchige Textsorte“ (ebd.) dann meist landet, nämlich etwa Klaus Rainer Röhls Roman Die Genossin (1975). In ein- und derselben Mülltonne sollten laut Franzen aber nicht alle unter dem Label „Schlüsselroman“ vermittelten Werke landen, denn hier gebe es eine ganz wichtige Trennlinie zu beachten: Während Röhlers Werk über dessen ehemalige Frau Ulrike Meinhof in Wahrheit kein fiktionaler Text, sondern lediglich von Autor und Verlag als Fiktion kaschiert worden sei, um sich vor zu erwartenden Sanktionen zu schützen, handle es sich bei Romanen wie etwa jenen von Norbert Gstrein um „reflektierte[…] Schlüsselromane, die das problematische Verhältnis von Kunst und Leben, Fiktion und Realität, Öffentlichkeit und Privatsphäre verhandeln“  (S. 22). Doch wie subtil und poetologisch ambitioniert die Fragen auch sein mögen – in dem Augenblick, wo ein Werk unter dem Schlagwort „Schlüsselroman“ kursiert, sinkt es automatisch in der öffentlichen Bewertung auf „das Niveau angeblich boulevardesker Exzesse“ (S. 22). Da die Gattung per se aber nicht nur häufig Persönlichkeitsrechte verletzt, sondern auch das zentrale ‚Gebot’ des autonomen Feldes (du sollst den Autor nicht mit dem Erzähler und die Erzählung nicht mit der Wirklichkeit verwechseln), erkennt Franzen hier noch ein zusätzliches Provokationspotential, das wie geschaffen scheint, um „ein Sittengemälde des Feuilletons seit den 1960er Jahren zu entwerfen.“ (S. 23) – Soweit zu Thema und Anspruch dieser Arbeit, die uns hier auf literaturkritik.at natürlich primär in Bezug auf die Erkenntnisse interessiert, sie sich daraus in Hinblick auf den Literaturbetrieb und die Literaturkritik gewinnen lassen. Als Phänomen des Literaturbetriebs ist das Thema bereits unter dem Überthema der Skandalforschung behandelt worden, so u.a. in dem auch vom Autor angeführten umfangreichen ‚Skandalband’, der von Stefan Neuhaus und Johannes Holzner 2007 herausgegeben worden ist und nicht nur aufschlussreiche Beiträge zur Praxis, d.h. zu einzelnen ‚Schlüsselfällen’ dieser Art des Literaturskandals enthält (beispielsweise zu Esra oder Mephisto), sondern auch einen umfangreichen Teil zur „Theorie des Skandals“ bietet, in dem ausführlich auf die Rolle des Skandals im Literaturbetrieb eingegangen wird.[1]

Nach einem umfangreichen erzähl- und gattungstheoretischen Teil der Arbeit beginnt der für die Literaturbetriebsforschung aufschlussreiche Teil mit dem vierten Kapitel, in dem es unter dem Titel „Das Schlüsselromanereignis“ um „Kontext und Wertung“ geht (S. 139-185). Da es sich bei dem Begriff „Schlüsselroman“ um eine literarische Gattung handle, „die sich allein aus ihrer eigentümlichen Kommunikationssituation heraus erklären lässt“ (S. 139), müsse zuerst geklärt werden, welcher Art von Kontext es bedarf, damit es zu einem solchen ‚Schlüsselromanereignis’ überhaupt kommt. Anders als bei der gattungstheoretischen Definition der ‚Schlüsselliteratur’, die – Klaus Kanzog folgend (vgl. auch Franzen S. 24f.) – immer die Intention verfolge, vom Leser entschlüsselt zu werden, das Verbergen also letztlich immer der Enthüllung diene,[2] lassen sich mit dem Begriff des ‚Ereignisses’ auch Werke miteinschließen, denen sich diese Intention nicht nachweisen lasse, die aber als Schlüsselromane rezipiert worden seien. Diese Abgrenzung von dem üblichen literaturwissenschaftlichen Zugang ist sinnvoll, da aus der Perspektive des Lesers nicht per se hinterfragt werden muss, ob es sich beim Blick durch das ‚Schlüsselloch’ um einen selbst zu verantwortenden Akt oder um eine dem Autor anzulastende Nötigung handle. Franzen nennt hier als Beispiel die Buddenbrooks, da der Roman wie ein Schlüsselroman rezipiert worden sei, ohne dass er gattungstheoretisch als solcher bezeichnet werden könne (vgl. S. 140).

Leider hält die Arbeit dann aber nicht ganz, was sie verspricht, denn anstatt konsequent bei der Beschreibung und Analyse des Schlüsselromans als reines Medienereignis zu bleiben, verliert sie sich doch immer wieder in langwierige Nacherzählungen der Fälle und Erörterungen von Details und Definitionsversuchen, die letztlich in Wertungen münden, die ebenso anfechtbar wären wie die vom Autor unter die kritische Lupe genommenen Bewertungen durch die Literaturkritik. Hierzu nur zum Beispiel des Romans Esra, der zu den am ausführlichsten behandelten ‚Fällen’ in der Studie von Franzen gehört. Der Autor entwickelt auf Basis der bereits zu Beginn erläuterten Unterscheidung zwischen ‚reflektierten’ Schlüsselromanen und  – hier vereinfacht gesagt –  vom Autor ‚ungeplanter’ Entschlüsselung die These einer Poetologie des „radikalen Realismus“, dessen „berühmtestes Beispiel“ der Roman Esra darstelle (S. 272). In dem Augenblick aber, in dem der Schüsselroman als Mittel für höhere Zwecke erkannt wird (i.e. Engagement für die Freiheit der Kunst, die Erziehung der Leser etc.) geht damit auch eine positive Wertung einher. Findet sich für eine solche Interpretation jedoch kein Argument, bleibt der Verdacht persönlicher Ranküne an Werk und Autor haften, wie etwa bei Sabine Grubers Roman Zumutung (2003), der laut Franzen „als Angriff auf Gstrein“ (S. 349) und „narrativer Präventivschlag“ (S. 350) gelesen werden könne.

Wie man auch das ‚Ding’ Schlüsselroman dreht und wendet – in dem Augenblick, in dem es als Gattungsbezeichnung angewendet wird, öffnen sich zu viele Fragen, als dass diese in einem Werk abgehandelt werden könnten. Es ist deshalb auch nicht der inhalts- und detailreichen Arbeit von Franzen anzulasten, dass sie diese Sisyphos-Aufgabe nicht bewältigt. Interessant und aufschlussreich ist die Arbeit immer dort, wenn sie an zahlreichen Beispielen aus der Literaturkritik zeigt, wie diese in einem systemimmanenten Widerspruch gefangen ist, aus dem es keinen Ausweg gibt: Zum einen zeigt sich nämlich in der Literaturkritik ein deutlicher „Widerwillen“ gegen die Zuschreibung von einzelnen Werken zur ‚Gattung’ Schlüsselliteratur, andererseits gehe die „Beteuerung, es handele sich nicht um Schlüsselromane, [...] einher mit eben jenen Entschlüsselungen, die einen Roman für die Leser überhaupt erst als solchen rezipierbar machen“ (S. 176). Erklären ließe sich diese „rezeptionstechnische ‚Schizophrenie’ [...] aus dem diskursiven Widerspruch [...], der sich zwischen der inoffiziellen Komplizen-Rolle der Medien und den herrschenden Wertmaßstäben etabliert hat“ (ebd.). Kommt es allerdings zu einer Zuordnung eines Werks zu der einhellig negativ konnotierten Gattung, wird dieses automatisch abgewertet, aber gleichzeitig als „Skandalereignis“ auch beworben (vgl. S. 156). Ein Mittel der Aufmerksamkeitserregung ist die Verführung mit dem Schlüsselloch allemal, wie das aktuelle mediale Interesse[3] zeigt, das Christian Krachts ‚Entschlüsselung’[4]  seines eigenen Werks erfährt. Die Variante, dass ein Autor selbst sein eigenes Werk im Nachhinein als Schlüsselliteratur erkennt, ist allerdings neu und stößt auch sogleich auf Misstrauen, denn schließlich ist doch Kracht  „der Autofiktion so unverdächtig wie sonst keiner“[5] – warum sollte man also ausgerechnet ihm trauen? Diese Frage wird mit Sicherheit Stoff für zahlreiche Artikel und neue Arbeit für Literaturwissenschaftler bieten.

Eine Forschungsfrage, die die hier besprochene Arbeit außer Acht lässt, aber auch noch zu stellen wäre, ist ganz einfach: Wie sieht es mit der  geschlechterbezogenen Rollenverteilung in diesem Spiel mit dem Guckloch und dem Schlüssel aus?

 

Renate Giacomuzzi, 18.01.2019
Renate.Giacomuzzi@uibk.ac.at

 


Anmerkungen:

[1] Stefan Neuhaus u. Johannes Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.

[2] „Literarische Werke fiktionalen Charakters, in denen ,wirkliche‘ Personen und Begebenheiten mittels spezifischer Kodierungsverfahren verborgen und zugleich erkennbar gemacht sind.“ Klaus Kanzog: Schlüsselliteratur. In: Braungart, Georg/Harald Fricke/Klaus Grubmüller/Jan-Dirk Müller/Friedrich Vollhardt/Klaus Weimar (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bände. München: De Gruyter 2007, S. 380-383, hier: 380.

[3] Claudia Dürr twittert am 21. Mai 2018, dass laut ihrer Analyse der Kritik von Poetikvorlesungen die Reaktion auf die Vorlesung von Christian Kracht weit über dem Durchschnitt (4 Rezensionen in 3 Zeitungen) liegt: „Kracht schon nach der 1.: 10 Printrezensionen (plus Radio, TV, Online)“. Siehe @claude_duerr, 21.5.2018, 02:48 Uhr.

[4] Im Rahmen der Poetik-Dozentur an der Goethe-Universität Frankfurt im Sommersemester 2018 hat Christian Kracht in seiner ersten Vorlesung zum ersten Mal öffentlich über einen in der Kindheit erlebten sexuellen Missbrauch in einem kanadischen Internat erzählt und die ‚Spuren’ dieses Erlebnisses in seinem Werk nachgezeichnet.

[5] Christoph Schröder: Flucht in die Offenbarung. In: Die Zeit, 23. Mai 2018.