Literaturhaus am Inn

Programm Mai–Juni 2000

Editorial Lesen ist wie Urlaub

Naheliegend wäre es zwar, im Editorial eines Literaturhaus-Programms die neuesten kulturunfreundlichen Maßnahmen einer Regierung analysierend zu bedenken, etwa die Stornierung des begünstigten Zeitungsversandtarifs oder -


Heute tun wir das aber nicht. Vielmehr tun wir etwas Verpöntes, wir schweigen uns aus, wir hören nicht hin, wir schimpfen nicht, wir sagen nur: lesen ist wie urlaub! Nicht daß wir eine derartige Haltung generell propagieren, das wäre ja unerhört. Das wäre ja unpolitisch. Das wäre ja Mißbrauch der Literatur, ein Rückschritt in biedermeierliche Zeiten. Nein, grundsätzlich wollen wir natürlich mitreden, dagegen aufstehen. An und für sich möchten wir unsere Meinung angeben. Vieles möchten wir beseitigt wissen, am besten noch heute, gleich ... Und wir wollen eine Literatur, die die Wirklichkeit kennt, die ebenfalls mitredet. Aber gegenwärtig leisten wir uns einfach den Luxus -


lesen: ein u-boot. lesen: reines vergnügen, besser als badengehen und eisessen und bergsteigen und tanzen und reisen. kein besonderer ort, kein meer, kein berg, kein ziel, nur das buch. oder die zeitung. bloß buchstaben, zu geschichten geformt, zu abenteuerlichen sätzen gefügt. logische sätze, unlogische sätze. gewohntes, unbekanntes. harte wörter. seichte worte. schönes, fremdes, abgründiges. abenteuer im gehirn, im herzen. zwischen den buchstaben wieder u-boote, u-boote zwischen wort und wort: pausen. sich versenken. lesen ist wie urlaub, einmal nichts sagen wollen, die eigene meinung für sich behalten, einmal nur zuhören, aufnehmen. ein wenig abschweifen -


Weitere zwei Monate mit interessanten Lesungen/Buchpräsentationen und österreichischen sowie fremdsprachigen Schwerpunkten. Im Juni ein Skater-Literatur-Fest für Jugendliche, gemeinsam mit der Stadtbücherei Innsbruck im Colinhof: SkaterInnen lesen aus ihren Büchern. Junge Leute, die Bücher kennen und mitmachen wollen, können sich noch bei uns im Literaturhaus melden! Die Sommerpause wird eingeleitet mit einem Abend über Elfriede Jelinek und mit Kofferinhalten von Gotthart Kuppel (siehe Kleines Inn-Lesebuch). Wenn im Juli und August dann die Pforten des Literaturhauses verschlossen bleiben, kann es sein, daß Sie uns antreffen: auf dem Adolf-Pichler-Platz, der hoffentlich der Adolf-Pichler-Platz bleibt, an einem Waldrand der Umgebung, vor dem Museum, an der Bushaltestelle, am Fluß. Mit einem Buch, seltener mit einer Zeitung. Sie sehen dann eine Leserin, einen Leser. Die verdichten gerade Meinungen. Sie bereiten sich vor, denken nach. Sie machen gerade Urlaub.


P.S. Informieren Sie sich gezielt über kulturpolitisches Geschehen in Österreich, z.B. mit der Homepage des Literaturhauses Wien:Literaturhaus Wien
Die beste Literaturseite Österreichs

" ... aber ich komme aus Wien."

Platzhalter

Lesung und Buchpräsentation Peter Henisch. Aus dem neuen Roman: Schwarzer Peter (Residenz 2000). Eintritt frei.

"Sie werden lachen, aber ich komme aus Wien. Auch wenn ich möglicherweise nicht ganz so aussehe. Vienna. Austria. Europe. Ob Sie es glauben oder nicht. Ich bin dort geboren und habe meine ersten dreißig Jahre dort verbracht."
Peter Henisch, "ein Sonderfall der österreichischen Literatur" (Helmut Schödel, Die Zeit), erzählt die Geschichte von Peter, der nicht völlig schwarz, aber schwarz genug ist. Etwas zu schwarz für die Verhältnisse, in die er 1946 als Sohn einer Straßenbahnschaffnerin und eines amerikanischen Soldaten hineingeboren ist. Der Roman reicht "aus der Enge der Nachkriegszeit über den antiautoritären Geist der späten sechziger bis zur Fremdenfeindlichkeit der neunziger Jahre" (Die Presse). Ein Buch über Vielfalt und Anderssein, ein Thema von brennender Aktualität. Peter Henisch (Jg. 1943) war Gründungsmitglied von wespennest, Texte und Sänger der Musikgruppe Wiener Blut und arbeitet seit 1989 mit den Jazzmusikern W. Schabata und H. Zinkl. Autor zahlreicher Romane und Erzählungen, zuletzt Amerika landete und Kommt eh der Komet (Residenz 1994 und 1995).


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Das Unerklärliche erklären

Montag, 8. Mai, 20 Uhr:
Lesung und Buchpräsentation Jürg Amann / A.T. Schaefer:
Kafka (Haymon 2000).

Eintritt frei.

Der Schriftsteller Jürg Amann und der Photograph A.T.Schaefer setzen sich, im Bereich ihres jeweiligen künstlerischen Ausdrucks, mit dem Verhältnis von Leben und Schreiben Franz Kafkas, eines unerbittlichen, konsequenten Künstlers auseinander. Amanns Text, vor 20 Jahren bei Piper erschienen und längst vergriffen, versucht "das Unerklärliche zu erklären", wie Kafka in seinem "Prometheus"-Mythos schreibt. Der Bild-Essay von Schaefer lotet die Grenze zum nicht mehr Darstellbaren aus. A.T. Schaefer (Jg. 1944) stammt aus Westfalen und hat Malerei und Design studiert. Seit 1981 hauptsächlich als Photograph tätig, zahlreiche Ausstellungen und Bücher. J. Amann (geb. 1947 in Winterthur), freier Schriftsteller und Träger literarischer Auszeichnungen, hat eine Dissertation über Franz Kafka geschrieben. Zahlreiche Publikationen, zuletzt Rondo Erzählungen (1996) und Ikarus. Roman (1998).


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Die Maccheroni sind das Totem der neapolitanischen Gemeinschaft

Donnerstag,11. Mai, 20 Uhr:
Zweisprachige Lesung Italienisch und Deutsch;
Buchpräsentation Marino Niola: Totem und Ragù. Neapolitanische Spaziergänge (Luchterhand 2000). Mit Beiträgen der Übersetzer Anton Holzer und Benedikt Sauer.

Eintritt frei.

Marino Niola, Dozent für Ethnologie an der Universität von Neapel und Autor anthropologischer Bücher, in Neapel geboren und aufgewachsen, führt die Leser in einer Sammlung von Essays auf Spaziergängen durch seine Stadt, in ihre Zentren, Vororte, Friedhöfe und Untergründe. Wir erfahren etwas über die anthropologischen Grundlagen der Pasta und über die Mamma als zentrale Institution der süditalienischen Gesellschaft. Camorra, Mamma, Maccheroni - Totem und Ragù ist ein Vielgängemenü, seine Happen sind mit Ironie gewürzt, sie machen Appetit auf mehr und haben Biß. Von Anton Holzer und Benedikt Sauer vorbildlich übersetzt, ist dies ein Buch für Italiensehnsüchtige und Liebhaber intelligenter, barocker, tiefgründiger Gedankenspiele: Eine Annäherung an die Wirklichkeit einer Stadt abseits der Klischees von Schmutz, Armut, Korruption und protzig zur Schau getragenem Reichtum.


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"wer bin ich, wenn ich nicht schreibe..."

Montag, 29. Mai, 20 Uhr:
Rose Ausländer, Gedichte.
Gelesen von Ilse M. Seifried.
Elfriede Pöder führt ein Literaturgespräch mit Ilse M. Seifried über Rose Ausländer. (Reihe Jüdische Themen)

Eintritt frei.

Rose Ausländer ist 1901 in Czernowitz geboren und 1988 in Düsseldorf gestorben. Zwischen diesen beiden Daten erstreckt sich ein von starken Bewegungen, von Vertreibung und Abschied gezeichnetes Leben: Flucht, Neubeginn, Veränderung, kraftvoller Versuch und wieder Flucht - das sind nur einige schwache Begriffe für einen Weg von der Bukowina über Wien nach New York und wieder zurück, nicht nur einmal. Parallel dazu Erfahrungen von Elend, Hunger und Tod der Ghettos, von Erfahrungen des Weiterlebens und doch Getriebenseins, des ewigen Fremdseins. "Schreiben war Überleben", schrieb R. Ausländer wohl in dem Bewußtsein, durch das Schreiben ihren eigenen psychischen Tod verhindert zu haben. Die Wiener Lyrikerin und Literaturvermittlerin Ilse M. Seifried (Jg. 1956), stellt in einer Auswahllesung das lyrische Werk Rose Ausländers vor, ein Literaturgespräch mit Elfriede Pöder gibt Einblick in das Leben und in die literarische Entwicklung der Dichterin.



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Zwei Meistererzählungen aus Rußland

Dienstag, 6. Juni, 20 Uhr: Zweisprachige Lesung Russisch und Deutsch; Buchpräsentation Olga Sedakova: Reise nach Brjansk. Zwei Erzählungen (Folio 2000).
Mit einer Einführung des Übersetzers Erich Klein.

Eintritt frei .

In den beiden Erzählungen des kleinen Bandes skizziert die wohl berühmteste lebende russische Dichterin anhand zweier entscheidend zeitverschobener Reisen das klassische Verhältnis von Geist und Macht. Die titelgebende Erzählung charakterisiert die Sowjetunion kurz vor ihrem Niedergang und beschreibt eine Provinzgesellschaft voll Skurrilitäten und Fantastereien. Reise nach Tartu und zurück führt eine Gruppe russischer Intellektueller von Moskau nach Estland zum Begräbnis des großen Literaturwissenschaftlers Jurij Lotman: Symbol für den Abgesang einer großen Epoche - jener der sowjetischen Dissidenz und des verbindenden Selbstverständnisses von Demokratie und der Vorstellung vom Westen. Olga Sedakova ist 1949 in Moskau geboren, Professorin für Literaturtheorie an der Russischen Staatsuniversität, seit 1991 zahlreiche Gastprofessuren und Vorträge in Europa und den USA. Sedakova ist Lyrikerin und Übersetzerin, zahlreiche Buchveröffentlichungen (in mehrere Sprachen übersetzt) und Literaturpreise. Die Einführung eines ihrer Übersetzer, Erich Klein, wird dazu beitragen, daß die Begegnung mit dieser Autorin zu einem Erlebnis wird.


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Burgenland trifft Tirol

Mittwoch, 7. Juni, 20 Uhr:
Schriftbilder. Portraits und Texte aus dem Burgenland (Bibliothek der Provinz 1999).
Mit Lesungen von El Awadalla, Karin Ivancsics, Andreas Novosel und Jakob Michael Perschy.
Kurzvortrag zur gegenwärtigen Literatur im Burgenland von Barbara Tobler (Literaturhaus Mattersburg) und einer Fotoausstellung Burgenländische AutorInnen von Hans Wetzelsdorfer.

Eintritt frei.

Während in Tirol 1999 der Literatur Hauskalender mit Präsentationen von 53 SchriftstellerInnen erschienen ist, hat das Literaturhaus Mattersburg zur selben Zeit eine Anthologie mit Fotos und Texten zur burgenländischen Gegenwartsliteratur herausgegeben - eine bemerkenswerte Publikation unter mehreren Gesichtspunkten. Zum einen stellen die Fotografien von Hans Wetzelsdorfer einen eigenwilligen Zugang zur Welt der Literaten dar. Zum anderen erhalten die LeserInnen einen hervorragenden Einblick in die literarische Vielschichtigkeit, in die Qualität und den Abwechslungsreichtum der Burgenländer.
Jetzt werden Kostproben geboten: Es lesen El Awadalla (geb. 1956, Texte, Dialektgedichte, Bierdeckellyrik, Theaterstücke); Karin Ivancsics (geb. 1962, zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien, Prosabände); Andreas Novosel (geb. 1948, Lyrik, Kurzprosa, Märchen & Fabeln, in kroatischer und deutscher Sprache) und Jakob Michael Perschy (geb. 1960, publizierte im Rundfunk und in verschiedenen Zeitschriften).
Der Fotograf und Barbara Tobler, Leiterin des Literaturhauses Mattersburg, geben Auskunft zur Szene. (Die Parallelveranstaltung Tirol trifft Burgenland mit einer Ausstellung von Porträts Tiroler AutorInnen und Lesungen findet in Mattersburg am 26. Mai 2000 statt.)



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Lesen Skater? Skater lesen!

Mittwoch, 21. Juni, 15.30 bis 20 Uhr: Literatur-Jam im Colinhof.
5 Skaterinnen und Skater lesen aus ihren Büchern vor. Dazu Fest mit DJ und Graffitti-Wand (gemeinsam mit der Stadtbücherei Innsbruck).

Eintritt für alle Jugendlichen und Erwachsenen frei. .

Sie stehen bei der Markthalle, sie lungern vor dem Museum, sie fetzen über Straßen und Gehsteige, drehen kunstvoll und springen halsbrecherisch: die Jugendlichen mit den nämlichen Bretteln, über die dann in Fachgeschäften oder vor einschlägigen Videos auch entsprechend gefachsimpelt wird. Was man im allgemeinen nicht sieht: Skaterinnen und Skater nehmen zuweilen auch ein Buch zur Hand. Zum Beispiel anläßlich des Literatur-Jams im Colinhof, wo allerdings nicht nur vorgelesen, sondern mit Musik, Farben und Quarter Pipe auch ordentlich gefeiert wird. Daß sich beides verbinden läßt, daß Bretteln und Buchdeckel einander nicht ausschließen müssen, das werden einige Jugendliche vor versammelter Gesellschaft vorführen: mit jenen Geschichten, die ihnen in letzter Zeit am besten gefallen haben. Vielleicht ist die eine oder andere Skateboard-Kuriosität dabei.


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"Natur bin ich, erinnere daher oft an Kunst".

Freitag, 30. Juni, 20 Uhr:
Öffentlicher Vortrag Dr. Sieglinde Klettenhammer (Institut für Germanistik)
Eintritt frei. .

Elfriede Jelineks Auseinandersetzung mit Liquidationen des Lebendigen. Im Rahmen der Ringvorlesung am Institut für Erziehungswissenschaften zum Thema: Die Gegenwart der Zukunft des menschlich Lebendigen. Das Literaturhaus am Inn zeigt dazu Fotografien von Elfriede Jelinek in Innsbruck 1969. Eintritt frei Vor dem Hintergrund des Unbehagens an einer mechanistisch-technizistischen Einstellung zum Lebendigen und an der technischen Reproduzierbarkeit der Natur hat sich seit den 70er Jahren auch die Literatur wieder verstärkt dem Thema Natur zugewandt. Im Unterschied zur ökologischen Naturästhetik, die die sinnlich-ekstatische Naturerfahrung ins Zentrum rückt und Natur als nicht entfremdeten(Selbst-)Erfahrungsraum neu entdeckt, steht in den provokanten Texten Elfriede Jelineks die ideologiekritische Entmystifizierung des Natur-Begriffs mit den Mitteln der Satire im Vordergrund. Die Auseinandersetzung mit dem Roman Die Kinder der Toten (1995) und dem Drama Ein Sportstück (1999) soll sichtbar machen, daß Jelineks sprachkritische Durchquerung des Natur-Diskurses vor allem auch eine Durchquerung des Todes ist, weil sich die gesellschaftliche Rede über Natur als synthetisches Produkt erweist, das Herrschaftsverhältnisse verschleiert und Bilder kreiert, die auf Verdrängung der Geschichte und auf die Vernichtung des Subjekts ausgerichtet ist.
Dr. Sieglinde Klettenhammer (Jg. 1957) ist Assistentin am Institut für Germanistik, zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zur österreichischen Literatur und zur regionalen Literaturdebatte.

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