Literaturhaus am Inn

Programm Jänner–Februar 1999

Editorial

1998 geht zu Ende, und das letzte Jahr dieses Jahrtausends beginnt. Lassen Sie sich davon nicht irritieren. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß 90 Prozent dieses scheinbar besonderen Jahres aus Alltag bestehen wird. Und sollten Sie sich 1999 zwischendurch tatsächlich ganz besonders fühlen, so liegt das höchstwahrscheinlich an dem Buch, das Sie gerade lesen. Oder an der Tatsache, daß Sie sich in einer Lesung befinden und einer Stimme lauschen, die etwas zu sagen hat. Oder: Sie begegnen wieder einmal einem der großen orangen Literaturhaus-Plakate...


Die Literatur rückt weiter vor. Wie Sie in diesem Programmheft sehen, beginnen wir das neue Jahr mit einem Schwerpunkt Frauen und Literatur und beenden damit eine Ringvorlesung an der Universität Innsbruck zum Thema Das Geschlecht, das sich (un)eins ist? Dieser Vorlesungszyklus lockt derzeit eine Reihe von Kulturwissenschaftlerinnen aus ihren Arbeitszimmern ans Rednerpult (Programm am Institut für Germanistik erhältlich). Das Literaturhaus am Inn hat das Rahmenprogramm dazu übernommen: Vier bekannte Autorinnen aus Deutschland und Österreich stellen neue und neueste Texte vor. Außerdem wird eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Nachkriegsliteratur, Irmtraud Morgner, von drei Tiroler Frauen verschiedener (literaturnaher) Berufssparten gewürdigt und inter-pretiert.


Die weiteren Veranstaltungen zu Beginn des Jahres bringen ganz Unterschiedliches zu Gehör: Christian Wallner greift den politischen, kulturellen und ökonomischen Alltag mit Gedankenschärfe und Wortwitz an. Für Bosko Tomasevic, laut Milo Dor einer der talentiertesten Dichter seiner Generation, ist "ontologische Dichtung die poetische Analytik des Ursprungs". Und der "Dädalus"-Preisträger 1998, der geschichtskundige Autor Wolfgang Schlüter, präsentiert den anspruchsvollenLesern seine Neu-Übersetzungen der im 16. Jahrhundert entstandenen Dramen von Christopher Marlowe. Darüber hinaus wird im Februar die Scherer-Ausstellung mit der großangelegten Verlesung von Bösem beendet.


Der einzige gerichtlich anerkannte Schriftsteller Tirols empfiehlt uns von Zeit zu Zeit: "Haltet durch!" Wir sagen: Dank der wirklich erfreulichen literarischen Produktion hierzulande und anderswo ist das nicht schwierig. Die Arbeit für die Literatur macht Freude. Aber während wir arbeiten, stapeln sich auf unseren Regalen und Nachtkästchen die vielen interessanten Bücher, die wir noch...(wann? irgendwann!)...zu lesen gedenken. Um das Problem der Zunahme ungelesener Bücher ins Bewußtsein zu rücken, werden wir im Laufe dieses Jahres eine entsprechende Veranstaltung bringen. Einstweilen empfehlen wir: Lesen Sie. Leben Sie. Aber machen Sie sich nichts draus, wenn Sie soundsoviele Bücher nicht lesen.

Brevier für QuerdenkerPlatzhalter

Freitag, 15. Jänner, 20 Uhr: Lesung Christian Wallner aus der Sammlung MotzArt. Kolumnen, Satiren, Parodien (Otto Müller).
Eintritt frei.

Kolumnen, Satiren, Parodien (Otto Müller) - Wallners "Brevier für Querdenker" ist die Sammlung seiner seit 1991 erschienenen Kolumnen in den Salzburger Nachrichten.

"motzart aus Mozart, Motzen und Art. Motzart ist also eigentlich die Kunst zu motzen, wie Mozart zu motzen. Aber das Wort enthält auch zart. Es wird also eher mit der feinen Klinge gefochten als mit der Saubolle zugeschlagen." (Alois Brandstetter, Klagenfurt, in einer Rede über das Buch). Seit 1991 veröffentlicht der Schriftsteller und Kabarettist Christian Wallner unter dem Titel "Motzart" vielgelesene und vieldiskutierte Kolumnen in den Salbzurber Nachrichten, die nun in einem Band versammelt sind. Diese angriffige Abhandlung tragi-komischer Phänomene des öffentlichen Alltags bedient sich vieler Formen und silistischer Möglichkeiten - vom subtil-ironischen Brief bis zur bissigen Parodie.

Christian Wallner (geb. 1948 in Gmunden) lebt seit 30 Jahren in Salzburg, wo er als Dramaturg, Dozent, Schriftsteller, Publizist und Kabarettist arbeitet.


nach oben

Entfremdeter Alltag

Donnerstag, 21. Jänner, 20.30 Uhr: Lesung Sabine Gruber / Elfriede Kern. Reihe Frauen und Literatur.
Eintritt frei.

In Kopfstücke, dem letzten Buch von Elfriede Kern, verwandelt sich der ländliche Alltag in ein kafkaeskes (Beziehungs-)Labyrinth, das die weibliche Figur gefangenhält. In Aushäusige, dem Roman von Sabine Gruber, ist der Alltag von monströsen Szenen einer zu Ende gehenden Liebe durchsetzt. Entfremdung und Beziehungskälte sind ein Thema beider Autorinnen, dem sie sich aber auf ganz unterschiedliche Weise annähern. Kern und Gruber lesen aus ihren Büchern bzw. aus neuen und noch nicht publizierten Texten.
Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran. Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Wien und Innsbruck. Lektorin und Stadtschreiberin in Venedig. Buchveröffentlichung: Aushäusige, (Wieser 1996). Reinhard-Priessnitz-Preis 1998.
Elfriede Kern, geb. 1950 in Bruck an der Muhr, lebt seit 1983 in Linz, seit 1988 freie Autorin. Buchveröffentlichungen: Geständert (edition wehrgraben 1994); Etüde für Adele und einen Hund (Residenz 1996); Kopfstücke (Residenz 1997). Max-von-der-Grün-Förderungspreis für Literatur zur Arbeitswelt 1995.


nach oben

... sonderbare, abseits der Gesellschaft stehende Menschen

Freitag, 22. Jänner, 20.30 Uhr: Lesung Kerstin Hensel / Emine Sevgi Özdamar. Reihe Frauen und Literatur.
Eintritt frei.

Zwei in Berlin lebende, aber ganz unterschiedliche Autorinnen präsentieren ihre neuesten Bücher und Texte. Das Fremdsein als Lebensgefühl ist Hensel und Özdamar gleichermaßen "vertraut", ihre Hintergründe und literarischen Verfahrensweisen sind dennoch ganz anders. Geht es bei Özdamar um den rasanten Wechsel zwischen Sprachen und Kulturen, so entwirft Hensel Figuren, die im Alltag leben und dennoch Alltägliches entfremden.
Kerstin Hensel, geb. 1961 in Chemnitz, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie zählt zu jenen jungen Autorinnen, die noch in der ehemaligen DDR Aufmerksamkeit erregten, u.a. mit dem Lyrikband Stilleben mit Zukunft. Seit 1983 Lyrik- und Prosaveröffentlichungen, darunter Im Schlauch (Erzählungen 1993); Tanz am Kanal (Roman 1995) und Neunerlei (Erzählungen 1997). U.a. Leonce-und-Lena-Preis 1991.
Emine Sevgi Özdamar, geb. 1946 in Malatya, Türkei, studierte Schauspiel in Istanbul und in Berlin, arbeitete als Dramaturgin an der Volksbühne Berlin. Später Regiearbeit am Schauspielhaus Frankfurt, dann mehrere Bühnen- und Filmrollen und schließlich eigene Stücke. Buchveröffentlichungen: Mutterzunge (1990), Das Leben ist eine Karawanserei (1994) und Die Brücke vom goldenen Horn (1998). Ingeborg-Bachmann-Preis 1991 und Walter-Hasenclever-Preis 1993.


nach oben

Dichtung als Erfahrung des Seins

Mittwoch, 27. Jänner, 20 Uhr: Lesung und Literaturgespräch Bosko Tomasevic. Mit dem Autor spricht Univ. Prof. Dr. Allan Janik.
Eintritt frei.

Bosko Tomasevic liest Gedichte, die aus dem Serbokroatischen ins Deutsche übersetzt wurden, anschließend wird er mit Univ. Prof. Allan Janik über Dichtung und Philosophie diskutieren. Wie Tomasevic in seiner Poetik darlegt, entspricht Heideggers Ontologischem Denken in der Philosophie das ontologische Dichten in der Dichtung. Ontologische Dichtung führt in den Ursprung ein und ist so poetische Analytik des Ursprungs, sie stellt die Frage des anderen Anfangs der Dichtkunst.
Bosko Tomasevic , wurde 1947 in Becej (Voivodina, Ex-Jugoslawien) geboren. Studien der Literaturtheorie und Literaturwissenschaft in Belgrad. Zahlreiche Gastprofessuren in der Schweiz, in Deutschland, Österreich und Frankreich. Neben vielen wissenschaftlichen Publikationen, vornehmlich zu literaturtheoretischen Themen, auch zahlreiche Gedichtbände, z.B.: Landschaft mit Wittgenstein und andere Ruinen (1995), Plan der Rückkehr (1996), Gespräch in Heidelberg (1998).


nach oben

Recherche + Komposition = Literatur

Donnerstag, 4. Februar, 20 Uhr: Lesung Wolfgang Schlüter aus seinen übersetzten Dramen Christopher Marlowes (Eichborn).
Eintritt frei.

Wolfgang Schlüter, Jg. 1948, insbesondere im irisch-englischen Sprachraum beheimateter poeta doctus, Lektor, Rezensent, Essayist und Übersetzer, hat in den letzten Jahren durch bibliophile und in ihrer Eigenheit hervorstechende Publikationen Aufmerksamkeit erregt: Schlüter recherchiert im Schrifttum der Vergangenheit und legt Persönlichkeiten frei, deren Lebenszusammenhang er neu komponiert und so den zeitgenössischen Lesern nahebringt. So ist etwa sein Roman John Field und die Himmels-Electricität (Eichborn) weit mehr als eine Musikerbiografie. Bei Schlüter sind historischer Text und geschichtliche Figur Stoff für seine Lust am virtuosen Umgang mit Sprache. In Innsbruck wird Schlüter, der "Dädalus"-Preisträger 1998, seine Neuübertragung der dramatischen Werke Christopher Marlowes lesen (erscheint im Herbst 1999 bei Eichborn).


nach oben

Böse Texte / Texte über das Böse

Donnerstag, 18. Februar, 20 Uhr: Finissage zur Ausstellung "Der Scherer. Ein Innsbrucker Blatt der Jahrhundertwende". SchauspielerInnen, KritikerInnen und AutorInnen lesen Böses von damals und heute.
Eintritt frei.

Die bis 18. Februar verlängerte Scherer-Dokumentation (siehe Programmheft 8/98) ist zu besichtigen: Mo-Fr 9-12, 14-17 Uhr. Führung für Schulklassen nach Voranmeldung.
Der Scherer, politisches Witzblatt, vielverfolgtes und dauerzensuriertes Organ deutschnationaler Kreise in Tirol, böses Hetzblatt gegen kirchliche und konservative "Volksschädlinge", gibt uns nicht nur Anlaß zu ideologiekritischen Überlegungen und Aktualisierungen, sondern auch zu einem Lese-Fest des Bösen. Vertreter der Literatur, der Literaturkritik und des Schauspieles werden aufgerufen, alte und neue, schriftlich niedergelegte Boshaftigkeiten auszuheben und vorzulesen. Interessenten und Kundige des Bösen können sich im Literaturhaus am Inn zur Lesung anmelden. Ein teuflisches Vergnügen!


nach oben

Eine Frau namens Hero

Freitag, 26. Februar, 20 Uhr: Irmtraud Morgner: Das heroische Testament (Luchterhand). Lesung mit biografischem Kommentar von Hedy Danneberg, Barbara Hundegger und Gabi Plattner.
Eintritt frei.

Weiß hier jemand Näheres über eine Frau namens Hero? Die Dissertation, die Herta Kowalczik, genannt Hero, einem Professorengremium vorstellt, hat sie sich aus den Rippen geschnitten und steht nun leibhaftig als ansehnlicher Mann namens Leander neben ihr. Der Roman Das heroische Testament, Irmtraud Morgners (1933-1990) Schlußband der Salman-Trilogie, ist ein kunstvolles Gewebe von glaubhaften Lügen und unerwarteten wahren Begebenheiten, es spielt in einem Niemandsland zwischen Kaltem Krieg und Sommernachtstraum. Die mit namhaften Preisen ausgezeichnete Autorin der ehemaligen DDR (Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz, 1974; Amanda. Ein Hexenroman, 1983) starb während ihrer Arbeit am Schlußband der Trilogie. Das Werk wurde aufgrund von mehreren tausend Seiten Typoskripte und Notizen unlängst von Rudolf Bussmann bei Luchterhand herausgegeben.
Hedy Danneberg (Schauspielerin), Barbara Hundegger (Autorin) und Gabi Plattner (Pädagogin) haben bereits mehrmals einen Leseabend gemeinsam erarbeitet und geben nun einen persönlich fundierten Eindruck der bedeutenden Schriftstellerin und ihres nachgelassenen Romanes.


nach oben