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Alles was zählt

Warum Feuilletonforschung statistische Methoden braucht. Von Marc Reichwein

 

Statistik macht Spaß – spätestens seit Mark Twain auf seinem Bummel durch Europa ausgezählt hat, wieviele Wörter Kulturlesestoff deutsche Zeitungen im Vergleich zu amerikanischen aufbieten und wie umfänglich sich Wagneropern im Gegensatz zu vermischten Meldungen ausnehmen. Nur Spott hat Twain für den Feuilletonroman übrig („Tageszeitungen verabreichen täglich einen Eßlöffel“), und gar kein gutes Haar lässt er an der Literaturkritik:

"Einmal in der Woche lockert die führende deutsche Tageszeitung ihre gewichtigen Spalten auf – das heißt sie glaubt, sie aufzulockern – mit einer tiefgründigen, einer abgründigen Buchkritik; einer Kritik, die einen tief, tief hinabführt in die wissenschaftlichen Eingeweide des Themas – denn der deutsche Kritiker ist zuallererst wissenschaftlich –, und wenn man endlich auftaucht und wieder die frische Luft spürt und das liebe Tageslicht erblickt, entscheidet man einstimmig, daß eine Buchkritik der falsche Weg ist, eine deutsche Tageszeitung aufzulockern."1

Nun ist das alles lange her (Twains Aussagen beziehen sich auf den Münchner Tages-Anzeiger vom 25. Januar 1879).  Und es ist nicht so, dass es seither keine Bemühungen mehr gegeben hätte, das Feuilleton auch mit quantitativen Mitteln zu vermessen. Doch es ist eben schon so, dass die Feuilletonforschung empirische Methoden noch wesentlich besser einüben und in ihre Forschungsdesigns integrieren könnte. Das gilt auch und insbesondere für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literaturkritik.

Der nachfolgende Beitrag versteht sich als Plädoyer für mehr quantitative Literaturkritikforschung. Er skizziert in aller Kürze die Tradition und die aktuelle Situation des Forschungsgebiets und zeigt sodann zwei Anwendungsfelder für mehr statistische Methoden auf: Den Bereich der Interaktion zwischen Buch-PR und journalistischer Literaturvermittlung und den Bereich der eigentlichen Textsorten. Ein kleiner Kanon beispielhafter Studien zeigt abschließend: Auch was zählbar ist, stiftet geisteswissenschaftlich anregende Erzählungen.

Tradition

Feuilletonforschung (und somit Literaturkritikforschung, verstanden als Auseinandersetzung mit der journalistischen Vermittlung von Literatur) steht traditionell zwischen zwei akademischen Disziplinen. Da wäre auf der einen Seite die Kommunikations- und Publizistikwissenschaft; sie misst kommunikative Leistungen der Medien (auch solche des Feuilletons) mit sozialwissenschaftlichen, so genannten quantitativen Methoden. Auf der anderen Seite agieren die Geistes- und Kulturwissenschaften, die den Bereich der Literaturkritik mit traditionell qualitativen, etwa: diskursanalytischen, mentalitätsgeschichtlichen, narratologischen, rhetorischen, stilistischen und und und … – also im weitesten Sinne „weichen“’ Mitteln vermessen.

Verzahnungen zwischen beiden Disziplinen finden bislang kaum statt, wären aber unbedingt wünschenswert. Bislang scheint es eher so, dass beide Teildisziplinen ihre eigenen Defizite einkapseln statt von gegenseitiger Osmose zu profitieren. So räumt die Publizistikwissenschaft ein, Kulturjournalismus als Forschungsfeld notorisch vernachlässigt zu haben; einen öden „Brachlandstreifen“ ihres Fachs konstatieren Günter Reus und Lars Harden.2 Und auch die geisteswissenschaftlich-germanistisch motivierte Feuilleton- und Literaturkritikforschung hat Desiderate zu notieren. Nach wie vor vermisst wird die „pragmatische Wende in der Feuilleton-Forschung“.3  „Gesichtspunkte, um die es einer heutigen Feuilletonforschung gehen muß“, sind Almut Todorow zufolge zum Beispiel auch „Fragen, wie der Textkorpus der Tageszeiung heute seine Gegenstände und Themen kommunikativ vermittelt, mit Hilfe welcher medialen und intermedial transformierten Aussageformen er sie organisiert und diskursiv verknüpft und welche Rolle darin dem Feuilleton zukommt“.4 Noch Christian Prüver beklagt 2007, dass es zum Feuilleton nach 1945 viel zu wenig inhaltsanalytische Auswertungen und sonstige quantitative Erhebungen gebe.5 

Könnte Statistik ein probates Mittel sein, um Literaturkritikforschung germanistischer Machart und Kulturjournalismus publizistikwissenschaftlicher Machart stärker zu verzahnen? Warum sie bei der Erforschung journalistischer und kritischer Literaturvermittlung zum beiderseitigen Nutzen wäre, versucht der folgende Abschnitt zu erläutern.

Aktuelle Situation

Der Zürcher Publizistikwissenschaftler Heinz Bonfadelli hat 2008 eine lesenswerte Synopsis quantitativer Feuilleton-Studien erstellt.6 Darin vergleicht er Inhaltsanalysen zur Kulturberichterstattung der letzten Jahrzehnte in der deutschsprachigen Presse. Zwar fällt sein Forschungsbericht als Sekundäranalyse (zwangsläufig) etwas oberflächlich aus; auch zeigt sich das Dilemma der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Samples. Doch unterm Strich sei dieser Text allen Literaturkritikforschern, die stärker mit quantitativen Methoden arbeiten wollen, als Ausgangslektüre empfohlen.

Man erhält einen instruktiven Einblick in grundsätzliche Forschungsdesigns und die Frage: Welche Kategorien in der Feuilleton- bzw. Literaturkritikforschung sind mithilfe von Inhaltsanalysen überhaupt quantifizierbar? Bonfadellis Aufzählung nennt u.a.

In praktisch allen Punkten verweist Bonfadelli auf weiterführende Studien; teilweise auch solche, die im Normalfall nur selten publik werden (Examensarbeiten).

Zusammenspiel von Buch-PR und Literaturkritik

Zum letzten Gliederungspunkt in Bonfadellis Liste sei ein Hinweis auf eine an der Universität Eichstätt entstandene Diplomarbeit ergänzt. Die Studie von Anja Beer hat das Zusammenspiel von Verlags-PR und Buchkritik bei ausgewählten Belletristik- und Sachbuchtiteln der Random-House-Verlagsgruppe untersucht.8 Dabei kam heraus, dass 50,3 Prozent aller Zeitungs- oder Zeitschriften-Artikel Pressemitteilungen komplett oder in Teilen übernommen haben. Bei einzelnen Büchern taten dies sogar 93 Prozent, das heißt: Die redaktionellen Beiträge fielen fast zur Gänze im Sinne der Verlags-PR aus. Weitere solcher Input-Output-Analysen wären unbedingt wünschenswert, Literaturkritikforschung sollte viel stärker, als sie das bisher tut, auch die verlegerischen Paratexte beachten.

Dabei geht es gar nicht nur um die „Degradierung der Rezension zur Buchanzeige“9 – die insbesondere für Regionalzeitungen geltend gemacht wird. Unter Stichwörtern wie „Agenda Setting“ bzw. „Framing“10 wäre auch einmal zu prüfen, ob und inwieweit Verlags-PR auch komplexere Lesarten in den Feuilletons vorgeben oder anstiften kann. Um ein konkretes Beispiel zu bringen:

Als 2009 Unendlicher Spaß von David Foster Wallace postum auf deutsch erschien, fiel auf, wie der Verlag Kiepenheuer & Witsch zeitgleich zum Erscheinen des wuchtigen Werkes ein 90-seitiges Gratis-Booklet in die Buchläden brachte. Das ohne ISBN aufgelegte Büchlein trägt den Titel David Foster Wallace: Unendlicher Spaß. Zusatzmaterial und war im Herbst 2009 in diversen Buchhandlungen zu finden. Eine opulente PR-Offensive, um das Gewicht des ohnehin schon 1648 Seiten starken Wallace-Schmökers für Leser und Kritiker noch einmal extra zu unterstreichen. „Helge Malchow habe die Leute ‚so bequatscht, dass alle Angst hatten irgendwie, dieses sehr schlechte Buch schlecht zu finden‘“, äußerte in diesem Zusammenhang Rainald Goetz – was die gefühlte Wucht der Begleitkampagne angeht, ist dies durchaus nachvollziehbar.

In Anbetracht einer zunehmenden Professionalisierung der Kommunikationspolitik seitens der Buchbranche – Stichwort „Bücher kommunizieren“11 – dürfte der Anteil der verlagsmäßig bereitgestellten Paratexte, die den Diskurs um ein Buch mitbestimmen, jedenfalls weiter steigen. Intelligente Literaturkritikforschung könnte hier inhaltsanalytisch auswerten, nicht nur den konkreten kritischen und werblichen Diskurs um einzelne Werke, sondern auch die zunehmend konzertante Inszenierung von Dichter-Gedenkjahren, Jubiläen usw. Dass Verlags-PR Literaturredakteure unterstützt, ist ausgemacht. Heute stellt sich eher die Frage, „wie Verlags-PR Literaturkritiker unterstützen kann“.12

Der Bereich der journalistischen Darstellungsformen …

…scheint für statistische Erhebungsmethoden besonders prädestiniert: Seit  Jahren heißt es unisono, dass die klassische Rezension als Königsdisziplin der Kritik auf dem Rückzug sei. Demnach „gewinnen die unterhaltsamen personenenbezogenen Darstellungsformen […] an Dominanz“ (Hubert Winkels).13 Und: „Die klassische Rezension wird zunehmend eine journalistische Randsportart“ (Elmar Krekeler).14  Doch wo ist die Literaturkritikforschung, die das auch mal validiert? Bislang konnten nämlich die wenigsten Studien nachweisen, dass die Rezension wirklich auf dem Rückzug ist.

Laut Becker 2005 (siehe: Ein kleiner Kanon beispielhafter Studien ) haben klassische Darstellungsformen ab- und popularisierende Textsorten zugenommen. So waren 1985 noch 55 Prozent aller Feuilletonbeiträge Rezensionen, 2005 lag der Anteil der „Königsdisziplin“ der Kritik bei nurmehr 38 Prozent.

Günter Reus und Lars Harden fragten in ihrer Längsschnittanalyse deutscher Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003: „Verliert die Rezension im Zeitverlauf zugunsten von personalisierenden Formen?“ Ihre Ergebnisse zeigen, „dass von einem Verschwinden der Rezension aus dem Feuilleton keine Rede sein kann“: Sie macht immer noch rund ein Viertel aller Feuilletonbeiträge aus.15

Wenn die Forschung also offensichtlich eine andere Sprache spricht als der Diskurs der einschlägigen Symposien16 und Diagnosen17 – wäre es dann nicht gerade eine Aufgabe der Literaturkritik- und Feuilletonforschung, der Kluft zwischen „gefühlter“ und „gemessener“ Wahrnehmung stärker nachzugehen?

Textsortenforschung als Desiderat

Neben der klassischen Kritik wären indes auch andere und neue Formen der Literaturberichterstattung zu beleuchten. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vielfalt des Literaturjournalismus findet bislang faktisch nicht statt, weder synchron noch diachron. Gerade eine literaturkritische Genreforschung könnte jedoch gewinnbringend auf das Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) zurückgreifen.

Die Datenbank bzw. Suchmaske des IZA bildet das Textsortenspektrum journalistischer Beschäftigung mit Literatur in voller Breite ab, und zwar bis hinein in die bibliografischen Metadaten jedes einzelnen Artikels. Grundsätzlich unterschieden wird unter anderem nach Sparten wie „Biografisches“, „Besprechung“ oder „Nachricht“. Jeder im IZA abgelegte Artikel ist weiteren Subsparten18 zugeordnet, und so kann man sich mithilfe der erweiterten Such-Einstellungen verschiedenste Artikelgattungen anzeigen lassen: zum Beispiel sämtliche Buchkritiken eines Jahres oder nur die Hörbuch-Kritiken bestimmter Zeiträume oder nur die Nachrufe bestimmter Zeitungen und und und …

Literaturkritikforschung muss sich also keineswegs immer nur an klassischen Parametern (Autor, Werk, Epoche oder Kritiker) orientieren. Sie kann und sollte auch einmal den Weg einer (kulturjournalistischen) Textsortenforschung gehen. Inhaltsanalyen in den vom IZA dokumentierten Artikel-Sparten „Biographisches: Portrait“ und „Wörtliches: Interview“ könnten Phänomenen wie der journalistischen Personalisierung nachgehen (Stegert 1998 – siehe: Ein kleiner Kanon beispielhafter Studien ).

Überhaupt ist es mit Brigitte Schwens-Harrant „sonderbar“, dass es in der Literaturkritikforschung „mehr Beiträge über den Versuch einer definitorischen Grenzziehung zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik“ gibt „als über die heikle Grenzziehung […] zwischen Literaturkritik und Literaturjournalismus“.19 Vielleicht könnte gerade Textsortenforschung – auf quantitativer und qualitativer Basis – dazu beitragen, diese Thematik verstärkt in den Blick zu bekommen.

Genreforschung darf natürlich nie im luftleeren Raum stattfinden, sondern muss auch die von Geisteswissenschaftlern oft vernachlässigte Ökonomik der Kulturberichterstattung einbeziehen. So wenig die Ökonomie alles erklärt, so sehr sind journalistische (qualitative) Veränderungen im Feuilleton aber doch oft auf medienökonomische (quantifizierbare) Rahmenbedingungen zurückzuführen.20

Ein kleiner Kanon beispielhafter Studien

Die nachfolgend vorgestellten Studien zur Feuilleton-, Literaturbetriebs- und Literaturkritikforschung zeichnen sich durch eine gelungene Verbindung quantativer und qualitativer Methoden aus. Sie integrieren statistische und/oder empirische Elemente, aber nie zum Selbstzweck, sondern zur Erörterung übergreifender Thematiken. Empfehlenswert sind die Studien auch deshalb, weil sie sich explizit und transparent zur Methodik ihrer Untersuchungen äußern. 

Peter Glotz: Buchkritik in deutschen Zeitungen. Hamburg: Verlag für Buchmarkt-Forschung 1968. – Der 2004 verstorbene, langjährige Bildungsexperte der SPD hatte seinerzeit über Literatur-Vermittlung in der deutschen Presse promoviert. Weil die Literaturwissenschaft Glotz’ Begriff der Buchkritik (der auch Sachbücher integriert) zugunsten des Terminus Literaturkritik ablehnte, hat sie leider auch die ganze Dissertation ignoriert. Diese forderte – und insofern war sie sehr zeitgeistig – nichts Geringeres als einen populären Literaturjournalismus. Dass sich dieser Jahrzehnte später Bahn brechen sollte, zeigt die Studie von Gernot Stegert aus dem Jahr 1998. Teile von Glotz’ Dissertation flossen übrigens in seine viel zitierte (zusammen mit Wolfgang Langenbucher verfasste) Publikation ein: Der missachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1969. In diesem Buch wird das Feuilleton als (zu) elitäres Ressort kritisiert, Literaturseiten werden als „Rezensionsfriedhöfe“ charakterisiert: „Die für die Buchkritik zuständigen Journalisten verschmähen die ganze Bandbreite der ‚populären’ journalistischen Darstellungsformen“ (S. 83). 

Hans Mathias Kepplinger: Realkultur und Medienkultur. Literarische Karrieren in der Bundesrepublik. Freiburg/München: Alber 1975. – Gerade weil diese frühe empirische Studie zur literarischen Öffentlichkeit noch keinen Bourdieu kannte (und sein Modell unterschiedlicher Kapitalsorten im literarischen Feld auch nicht), liest sie sich sehr visionär. Denn der Medienforscher Kepplinger definiert in seiner Auseinandersetzung mit dem Erfolg von Autoren der Gruppe 47 unterschiedliche Faktoren der Karriere: publizistischen Erfolg, Verkaufserfolg, Bekanntheit und literarische Bedeutung.  Auch zur methodischen Arbeit mit Zeitungsausschnitten hat sich Kepplinger geäußert: Der Schriftsteller in der Öffentlichkeit (am Beispiel Hans Magnus Enzensbergers). Ein Vorschlag zur Anlage repräsentativer Untersuchungen der Presseberichterstattung. In: Helmut Kreuzer / Rainer Viehoff (Hrsg.): Literaturwissenschaft und empirische Methoden. Eine Einführung in aktuelle Projekte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981, S. 74–95. 

Gernot Stegert: Feuilleton für alle. Strategien im Kulturjournalismus der Presse. Tübingen: Niemeyer 1998. – Die in der Literaturkritikforschung immer noch viel zu wenig rezipierte Studie analysiert Strategien des populären Journalismus, die auch die Literaturberichterstattung in weiten Teilen prägen. Stegert diskutiert seine Befunde anschaulich, an und mit Beispielen bis in die Sprache hinein. Das macht seine Studie neben aller Statistik so lesbar. Der Berliner Feuilletonforscher Erhard Schütz würdigte Stegerts Studie als eine Arbeit, von der „in verschiedenster Hinsicht wichtige Impulse […] ausgehen könnten“: „Sie hat den Vorzug, daß sie statistische mit inhaltsanalytischen Fragstellungen zu einer Strategienanalyse verbindet“.21 Als Blaupause für Anschlussstudien zur Kultur- und Literaturberichterstattung, namentlich ihren Textsorten und -strategien, kann man diese Arbeit gar nicht hoch genug einschätzen. 

Steffen Becker: Lasst uns eine Show machen. Eine inhaltsanalytische Untersuchung über das populäre Feuilleton und seinen Stellenwert 1985 bis 2005. Diplomarbeit an der Universität Eichstätt. München: Grin-Verlag für akademische Texte 2005. – Die am Fachbereich Journalistik der Uni Eichstätt entstandene Arbeit untersucht die inhaltliche, stilistische und visuelle Popularisierung der Feuilletons in den letzten 20 Jahren. Mithilfe quantitativer und qualitativer Parameter wertet sie Seitenumfang, Bebilderung, Textsorten, Stilformen, Themen sowie den Fokus der Berichterstattung aus (emphatische Ich-Perspekive oder distanzierte Man-Perspektive?). Alle diese Untersuchungskategorien können ein Gradmesser für populäres Feuilleton sein. Und sie erzählen das vorerst letzte Kapitel printmedialer Erfolgsgeschichte: Denn der Ausbau der U-Themen ging nachweislich mit der Expansion der Feuilleton-Nettoseiten einher. Bedingt durch den Anzeigenboom der späten 1990er Jahre hatten die Zeitungsredaktionen bis ungefähr 2002 schlicht und einfach überbordend Platz, um neue Formate auszuprobieren und junge Feuilletonleser anzusprechen. Man denke auch an das jetzt-Magazin der Süddeutschen Zeitung oder die Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zwar war der Erfolg dieser publizistischen Formate wegen des Anzeigeneinbruchs Anfang der Nuller Jahre nur vorübergehend und das populäre Feuilleton hat wieder Marktanteile abgeben müssen. Doch, so Becker, zum ganz klassischen „Old School Feuilleton“ sei man nirgends zurückgekehrt. Auch die Tatsache, dass viele der Jungen Wilden unter den Feuilletonisten längst auf arrivierten Posten im Medien- oder Kulturbetrieb angekommen seien, zeige, dass sich das populäre Feuilleton durchaus etabliert habe. Beckers Studie enthält lesenwerte Leitfadeninterviews mit führenden Feuilletonisten. 

Stefanie Heinen: Kampf um Aufmerksamkeit. Die deutschsprachige Literaturkritik zu Joanne K. Rowlings „Harry-Potter“-Reihe und Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Berlin/Münster: LIT-Verlag 2007. – Die hier besprochene Studie zu zwei publizistischen Großereignissen im Feuilleton der letzten Jahre demonstriert vor allem, wie systematisch Literaturberichterstattung (übrigens auf Basis des IZA) ausgewertet werden kann: Sie kontrastiert einen Erfolg und einen Skandal (in diesem Sinn auch ein Erfolg) auf der Grundlage aufmerksamkeitsökonomischer Konzepte.

Fazit

Alles was zählt heißt ein Roman des Münchner Anwalts und Schriftstellers Georg M. Oswald. Das Buch spielt in einer Bankangestellten-Welt, in der Geldgeschäfte und quantifizierbare Transaktionen scheinbar alles sind, was ein Individuum determiniert. So weit soll der wissenschaftliche Blick auf Feuilleton und Literaturkritik sicher nicht gehen. Aber es wäre schön, wenn Zahlen überhaupt etwas zählten.

Marc Reichwein, 5.9.2011

marc_reichwein@yahoo.de

 

Anmerkungen:

[1] Mark Twain: Deutsche Zeitungen. In: Gesammelte Werke. Band 3. Die Arglosen im Ausland. Bummel durch Europa. Deutsch von Ana Maria Brock. München: Hanser 1985, S. 1097–1104, hier 1098.

[2] Günter Reus / Lars Harden: Politische „Kultur“. Eine Längsschnittanalyse des Zeitungsfeuilletons von 1983 bis 2003. In: Publizistik, 50 (2005), 2, S. 153–172, hier 153.

[3] Kai Kauffmann / Erhard Schütz (Hrsg.): Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin: Weidler 2000, S. 18.

[4] Almut Todorow: Das Feuilleton im medialen Wandel der Tageszeitung im 20. Jahrhundert. Konzeptionelle und methodische Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Feuilletonforschung. In: Kauffmann/Schütz (wie Anm. 3), S. 25–39, hier 28.

[5] Vgl. die knappen  Ausführungen zum allgemeinen Stand der Feuilletonforschung bei Christina Prüver: Willy Haas und das Feuilleton der Tageszeitung „Die Welt“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 17-20.

[6] Heinz Bonfadelli: Kulturberichterstattung im Wandel. In: [Ders.] / Kurt Imhof  / Roger Blum  / Otfried Jarren (Hrsg.): Seismographische Funktion von Öffentlichkeit im Wandel. Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 300–319.

[7] Vgl. Bonfadelli (wie Anm. 6), S. 305 ff.

[8] Anja Beer: Der lange Weg zum Bestseller. Das Zusammenspiel von Verlags-PR und Literaturkritik. Universität Eichstätt, Diplomarbeit im WS 2006/2007. Eine vierseitige Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse dieser Diplomarbeit findet sich unter dem Titel: Vertrauensselige Kritiker. In: Message. Internationale Fachzeitschrift für Journalismus, 2007, 3, S. 76–79.

[9] Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung. Konstanz: UVK 2009 (UTB 3285), S. 205.

[10] Urs Dahinden: Framing. Eine integrative Theorie der Massenkommunikation. Konstanz: UVK 2006.

[11] Ralf Laumer (Hrsg.): Bücher kommunizieren. Das PR-Arbeitsbuch für Bibliotheken, Buchhandlungen und Verlage. Bremen: Falkenberg 2005.

[12] Vgl. Elmar Krekeler: Keine Langeweile – nirgendwo. Wie Verlags-PR Literaturredakteure unterstützen kann. In: Ralf Laumer (Hrsg.): Verlags-PR. Ein Praxisleitfaden. Bielefeld: transcript 2003, S. 139–142. Kursive Hervorhebung von mir.

[13] Hubert Winkels: Die Schöne und der Markt. Wohin strebt die Literaturkritik? In: [Ders.]: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 34–54, hier 50.

[14] Krekeler (wie Anm. 12), S. 141.

[15] Reus/Harden (wie Anm. 2), S. 168.

[16] Thomas Steinfeld (Hrsg.): Was vom Tage bleibt. Das Feuilleton und die Zukunft der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland. Frankfurt am Main: Fischer 2004.

[17] Andrea Höhne / Stephan Russ-Mohl: Das Geld beugt den Geist. Feuilletons unter dem Druck der Ökonomisierung. In: Neue Zürcher Zeitung, 11.12.2004. Dieser Text ist über das IZA abrufbar.

[18] Es wäre notwendig und nützlich, dass das IZA an irgendeiner Stelle transparent macht, was die entsprechenden Artikelarten denn eigentlich definiert bzw. voneinander unterscheidet.

[19] Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: Studien-Verlag 2008, S. 53.

[20] Andrea Höhne / Stephan Ruß-Mohl: Der „Homo oeconomicus“ im Feuilleton. Zur Ökonomik der Kulturberichterstattung. In: Thomas Wegmann (Hrsg.): MARKT. Literarisch. Bern u. a.: Peter Lang 2005, S. 229–248.

[21] Vgl. Zeitschrift für Germanistik. 2002, 2, S. 441–445, hier 442.