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Von der Vielfalt des Literaturjournalismus

Volker Hage: Kritik für Leser. Vom Schreiben über Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2009. 336 S. ISBN 978-3-518-46107-5. Preis [A]: € 12,40

 

Klagen über die Monotonie des Literaturjournalismus sind alt: Schon 1968 monierte der SPD-Bildungspolitiker (und Feuilletonforscher) Peter Glotz die bis heute viel zitierten „Rezensionsfriedhöfe“. Seine Kritik: „Es gibt in der Bundesrepublik kaum ein Presseerzeugnis – der ‚Spiegel’ ist eine der wenigen Ausnahmen –, das sich um einen ‚populären’ Kulturteil bemühte [...].“

Kein Zufall, eher ein Glücksfall scheint es vor diesem Hintergrund, wenn mit Volker Hage nun tatsächlich ein Redakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel seine Arbeit dokumentiert, und zwar in ihrer ganzen Textsortenvielfalt: „Der Literaturjournalismus lebt nicht von Kritik allein, und dieses Buch möchte die Vielfalt seiner Möglichkeiten zeigen.“ (S. 14)

Angesichts des in vielen Kulturredaktionen notorischen Konflikts um Rezensionsfeuilleton und so genannten zeitgemäßen Journalismus erscheint ein solches Buch schon länger überfällig. Salopp könnte man sagen: Endlich hat einer aus dem viel zitierten Gemeinplatz, Kritik sei ja viel mehr als das Rezensieren von Texten, mal einen anständigen Genreführer gemacht.

Ein Lese- und kein Lehrbuch will Kritik für Leser sein, weswegen die Dokumentation konkreter Schriftproben im Vordergrund steht. Gegliedert ist das Kompendium in fünf Sektionen: Ein erster Abschnitt versammelt Vorträge und Grundsatzartikel, in denen Hage sein eigenes Berufsverständnis darlegt: „Der Journalist ist nicht nur Kritiker, er ist auch Reporter, Porträtist, bestenfalls – im bescheidenen Sinne – Erzähler.“ (S. 44) Daneben reflektiert er aber auch Kriterien, Prämissen und Methoden seiner Mitbewerber: „Es gibt Kritikerkollegen, die die persönliche Begegnung mit Künstlern scheuen, ja, ausdrücklich ablehnen. Sie sind ausschließlich am Endprodukt interessiert, an den Werken und Büchern.“ (S. 30) Weiter macht Hage (zeit seines Lebens Literaturredakteur) einige treffende Bemerkungen zur unterschiedlichen Perspektive von Redakteur und freiem Kritiker. Letzterer mag sich exklusiv auf Rezensionen beschränken, ersterer kann und will sein Blatt – so es sich um kein explizites Rezensionsorgan handelt – niemals nur mit Kritiken füllen.

In diesem Sinne prägt Hages Rolle auch das journalistische Repertoire, das in den weiteren vier Sektionen des Buches ausgebreitet wird: Vom Autorenporträt bis zum Tagungsbericht, vom Hörbuch-Hinweis bis zur Kritik einer Literaturverfilmung oder literarischen Bühnenadaption kommen verschiedenste, auch seltenere Anwendungsformate journalistischer Literaturberichterstattung zur Darstellung. Allen Originaltexten hat Hage kurze, instruktive Hinweise vorangestellt, getragen auch von dem Bewusstsein, dass nicht jedes Medium jede Textsorte kultiviert: Ein schnell bereitzustellender Gedenkartikel zum Tod von John Updike für Spiegel Online, die knappe, lexikonähnliche Würdigung von Ulrich Plenzdorf für die Rubrik „Gestorben“ im gedruckten Spiegel oder aber der große, literarisch-essayistisch umgesetzte Nachruf auf Max Frisch in der Zeit – alles jeweils sehr verschiedene Arten von literaturkritischer Bestattungskultur.

Zum Können und Wissen des Profis gehört es, für die unterschiedlichen Belange unterschiedlicher Medien adäquat zu schreiben. Hier fließen Hages verschiedene Stationen als Literaturredakteur (1975 bis 1986 als Reich-Ranicki-Schüler bei der FAZ, 1986 bis 1992 bei der Zeit und seither beim Spiegel) durchaus produktiv in das Buch mit ein. Auch ganz persönliche Lese- bzw. Lebenserinnerungen (Die rote Zora als sein liebstes Kinderbuch) bleiben nicht außen vor. Schließlich kommen „Aufgaben des Kritikers jenseits des Publizierens“ (S. 38) zur Sprache, etwa Laudationes, Moderationen von oder Teilnahme an Literaturveranstaltungen, Medienumfragen usw.

Eine Hage-Spezialdisziplin scheint die so genannte Porträtkritik zu sein, ein im Spiegel relativ häufiges Format, das „die Rezension einer Neuerscheinung mit der Biographie ihres Autors“ verbindet. Auch ein Beitrag zu Daniel Kehlmanns Roman Ruhm, der 2009 zu juristischen Verwicklungen führte, fällt in diese Kategorie: Für den Rowohlt-Verlag war Hages Artikel eine Rezension unter Missachtung der für dieses Buch festgesetzten Sperrfrist. Der Spiegel sprach von einem Porträt bzw. Werkstattgespräch. Letztlich empfahl das Gericht eine außergerichtliche Einigung, wohl auch, weil man zeilenweise hätte auszählen müssen (und trotzdem nicht zweifelsfrei hätte entscheiden können), was an diesem Artikel denn nun Porträt mit Inhaltsangaben Kehlmanns und was Rezension mit Inhaltsangaben von Seiten Hages gewesen wäre. Der nicht justiziable Fall illustriert, dass journalistische Darstellungsformen keineswegs trennscharf zu definieren sind. Ein Aspekt, den auch Hage selbst einräumt, wenn er auf die etwas künstliche Unterscheidung mancher Artikelsorten in seiner Anthologie hinweist.

Und dann ist da noch der sprichwörtliche blinde Fleck: Im Spiegel-Originallayout stehen die Artikel nämlich selten so nüchtern und nackt da wie in diesem Buch. Wenn Hages Beitrag zum 125. Geburtstag von Franz Kafka die visuelle Präsenz dieses Dichters betont (vgl. S. 210), dann referiert er auf etwas, das er selbst forciert. Gerade ein Literaturredakteur beim Spiegel ist ja niemals nur Texter, sondern beinahe immer auch ein Akteur mit visuellen Mitteln. Dank der gratis verfügbaren Original-Artikel aus dem Spiegel-Archiv (PDF) kann und sollte man die opulente Bebilderung in diesem Zusammenhang unbedingt nachvollziehen.

Alles in allem ist Kritik für Leser eine verdienstvolle Zusammenstellung und Kurzbeschreibung literaturjournalistischer Textsorten: Geeignet als Grundlage für jedes Praxisseminar zu Schreibgenres über Literatur, anregend zugleich als Fundus, den man mit eigenen oder Beispieltexten anderer Kritiker jederzeit weiter füllen kann.

Marc Reichwein, 08.03.2010

marc_reichwein@yahoo.de