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Kritik im Kampf um Aufmerksamkeit

Stefanie Heinen: Kampf um Aufmerksamkeit. Die deutschsprachige Literaturkritik zu Joanne K. Rowlings „Harry-Potter“-Reihe und Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Berlin/Münster: Lit-Verl., 2007. (Literatur - Kultur - Medien, Bd. 8). 627 S. ISBN: 978-3-8258-0460-2. Preis [A]: € 41,10

Rezensionen in der Regionalzeitung nur zum Wochenende, der Büchertalk im Fernsehen selten vor Mitternacht – dass Literaturkritik einen „Kampf um Aufmerksamkeit“ führt, glauben wir Stefanie Heinen sofort. Ihre Dissertation nimmt unter dem gleichnamigen Titel nun gleich zwei Fälle unter die Lupe, denen es an Aufmerksamkeit gewiss nicht fehlte: Sie betrachtet den Skandal um Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers und den Erfolg von Joanne K. Rowlings Kinderbuchserie Harry Potter. Was charakterisiert solche Großereignisse der Literaturberichterstattung? Die Analyse dieser Frage beleuchtet vielfältige Verfahren und Strategien, mit denen Journalisten – in Konkurrenz zu anderen Themen- und Mediensparten – Aufmerksamkeit für Literatur erzeugen, bewirtschaften, gestalten. Deutlich wird: Die Öffentlichkeit eines Walser-Skandals oder Potter-Hypes erlaubt der Literaturkritik nicht nur, sich zu profilieren, sie verlangt es auch.

So detailbeflissen die auf der Dokumentation des Innsbrucker Zeitungsarchivs basierende Studie geraten ist, so exemplarisch zeigt sie, wie systematisch Literaturberichterstattung ausgewertet werden kann. Und zwar mit Blick auf unterschiedlichste Faktoren. Chronologie, thematische Schwerpunkte und Akteure der Berichterstattung interessieren Heinen ebenso wie die eigentliche Machart der Artikel. Gefällige Grafiken visualisieren eine Berichterstattungsintensität, die bei Harry Potter naturgemäß äußerst zyklisch verlief: Rund um den Erstverkaufstag eines neuen Bandes schwoll das Medieninteresse jeweils zu Rekordspitzen an. Diese Fieberkurve verschob sich bei den letzten Potter-Bänden zunehmend zur englischen Originalausgabe – dergestalt, dass einige Zeitungen sogar auf eine spezielle bzw. weitere Rezension der deutschsprachigen Ausgabe verzichteten. Ein Phänomen, das auch einmal bei anderen internationalen Spitzentiteln des Buchmarkts interessant zu beleuchten wäre.

Insgesamt stellt Heinen ein deutliches Übergewicht außerliterarischer Aspekte fest. Als journalistische Nachrichtenfaktoren motivieren sie natürlich die Berichterstattung, drängen aber auch die spezifisch literaturkritische Betrachtung in den Hintergrund. So nahmen Beiträge zu Harry Potter ganz oft gar nicht mehr das Buch, sondern das Phänomen „HP“ in den Blick: seine Fans, seine Autorin, seine Übersetzer, die Logistik seiner Auslieferung usw. Umgekehrt zeigt Heinens vergleichende Analyse von Amazon-Kundenrezensionen, dass die Auseinandersetzung der Leser mit dem Werk(-inhalt) unabhängig von der etablierten Literaturkritik im Internet stattfand. Die Zeitungen reagierten, indem sie ihrerseits Potter-Umfragen, Fan-Porträts u.ä. abdruckten und dem Leser damit eine Wertschätzung zubilligten, die im Normalfall journalistischer Literaturvermittlung eher zu kurz kommt. Das zeigt gerade auch die Gegenüberstellung mit Walser.

Wurde der Leser in der „HP“-Berichterstattung tendenziell hofiert, blieb er beim Tod eines Kritikers außen vor. Hier drehte sich die Debatte um ein Buch, das zum Zeitpunkt des Skandals nur für Eingeweihte veröffentlicht war. In der „Selbstreflexivität“ der Kommentatoren kam dem Publikum überhaupt „keine aktive, sondern lediglich eine passive Rolle zu“ (S. 460). Immerhin deutet der hohe Anteil an abgedruckten Leserbriefen darauf hin, dass die Redaktionen dieses Manko nachträglich zu kompensieren versuchten.

Sehr aufschlussreich lesen sich Heinens Befunde zur Soziologie der Berichterstatter, also zur simplen Frage: Sind sie Festangestellte/Freie, männlich/weiblich? So waren es während des relativ unspektakulären Erscheinens der ersten drei Harry Potter-Bände vor allem freie Journalistinnen, die über den Zauberlehrling schrieben. Mit wachsender Popularität der Reihe stieg aber der „Prominenzgrad der nunmehr verstärkt männlichen und fest angestellten Rezensenten“ (S. 439). Ganz anders beim Tod eines Kritikers. Hier war aufgrund der „Prominenz der Skandalisierer und Skandalisierten“ „von Anfang an ein großer Anteil bereits bekannter und renommierter Kommentatoren zu verzeichnen“ (S. 456). Auch in der Folge drängte es vor allem namhafte Feuilleton-Akteure dazu, sich zu Walser zu positionieren.

Die theoretische Perspektive der Arbeit stellt beide Fallstudien in einen übergeordneten Kontext, sie umkreist die Frage, in welchem Ausmaß sich der Literaturbetrieb als „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Georg Franck) organisiert. Demnach bildet Literaturvermittlung einen Aufmerksamkeitskreislauf, an dem viele Akteure in wechselseitiger Korrelation teilhaben – Journalisten bzw. Literaturkritiker sicherlich in einer der prominentesten und deshalb verantwortungsvollsten Positionen: Einerseits fungieren sie als Aufmerksamkeitsbeschaffer für Literatur, anderseits beeinflusst das Wissen um die Aufmerksamkeit, die ihr Gegenstand (mutmaßlich) genießt, auch die Art und Weise, wie sie über diesen Gegenstand schreiben. Das muss nicht automatisch zu ethisch fragwürdigen Eskalationen führen – wie im Fall von Frank Schirrmachers Überraschungsangriff auf Walser („Kein Vorabdruck in der FAZ“). Im Fall von Harry Potter verschwamm vor allem die Grenze zwischen klassischer Literaturkritik und populärjournalistischer Literaturberichterstattung, die weiter zu beobachten und zu beschreiben sicherlich ein Desiderat der Forschung bleibt.

Marc Reichwein, 05.04.2009

marc_reichwein@yahoo.de