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30.05.1962, Walter Ulbricht an Nikita S. Chruschtschow


30.05.1962, Walter Ulbricht an Nikita S. Chruschtschow


Teurer Genosse Chruschtschow!
Der Botschafter der UdSSR, Genosse Perwuchin, hat mich mündlich informiert über einen Beschluß des Präsidiums des ZK der KPdSU zu meinen Bemerkungen gegenüber den Genossen Grachin und Perwuchin. Ich habe bereits Genossen Perwuchin darauf aufmerksam gemacht, daß beide Genossen den Sinn meiner Bemerkungen nicht vollständig erfaßt haben. Meine Bemerkungen bezogen sich auf die gefährliche Lage an der Staatsgrenze der DDR gegenüber Westberlin. Wir waren und sind besorgt darüber, daß kleine Provokationen des Gegners an dieser Grenze zu großen politischen und militärischen Konsequenzen führen können.
Ich übermittle Ihnen mit diesem Brief eine Anzahl Materialien*, insbesonders den Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates vom 30.5.1962 über weitere Maßnahmen zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen und Provokationen und zur Erhöhung der Sicherheit der Staatsgrenze der DDR gegenüber Westberlin (siehe Anlage 1).
Zweifellos hat sich seit dem 13. August die Lage in der DDR gefestigt. Die Zahl der Grenzkonflikte ist geringer geworden. Die Auseinandersetzungen an der Grenze haben sich jedoch verschärft. Das kam zum Ausdruck in der Beschießung unserer Grenzposten vom Westberliner Territorium aus, in den Sprengstoffanschlägen an der Seite der Mauer, die von Westberlin zugänglich ist – also unter Verletzung des Territoriums der DDR – und in der offenen Propaganda zur Anwendung von Methoden der OAS in der DDR.
Die Kampagne begann mit einer Veröffentlichung des "Parlamentarisch-Politischen Pressedienstes" in Bonn (siehe Anlage 2) unter der Überschrift "OAS will Plastikbomben gegen die 'Mauer' legen". Durch die Rede von Adenauer in Westberlin wurde die Atmosphäre angeheizt. Die Presse des Springer-Konzerns macht offen Propaganda für den Mord, ebenso der amerikanische Sender in Westberlin, RIAS (siehe Anlage 3). In einer Westberliner Zeitung wurde direkte Anweisung gegeben zu Sprengstoffattentaten gegen Regierungsgebäude der DDR und gegen Eisenbahnlinien in der DDR (siehe Anlage 4). Für die Sprengstoffattentate an der Grenze wurden Westberliner Studenten ausgenutzt. Über die bewaffneten Provokationen und Sprengstoffanschläge informieren die anliegenden Materialien (Anlagen 5 und 6). Neuerdings wird auch mit Kleinkalibergewehren geschossen, deren Schuß nicht hörbar ist, aber ein Treffer noch auf 100 m tödlich ist.
In der Zeit vom 13. August 1961 bis 27. Mai 1962 gab es an der Staatsgrenze Berlin 22 Tote und 46 Verletzte. Es wurden 113 Spione imperialistischer Geheimdienste und 509 Helfer verhaftet (Anlage 7). Der Menschenhandel und die Republikflucht wurden in der Hauptsache organisiert mit Hilfe von ge- oder verfälschten Pässen westdeutscher Bürger. Das ist nicht schwer, da ein großer Grenzverkehr von Westdeutschland nach der DDR und von Westdeutschland nach Berlin zu verzeichnen ist. Am Dienstag, den 29. Mai wurden 2.296 Aufenthaltsgenehmigungen für Westdeutsche an der Grenze ausgestellt, am 27. Mai waren es 3.417. Werktags besuchen mehr als 1.000 westdeutsche Bürger die DDR. Am Ausländer-KPP passieren täglich ca. 700 Ausländer den Kontrollpunkt (das sind in der Mehrzahl Militärpersonen). Auf den Verbindungsstraßen zwischen Westberlin und Westdeutschland verkehren täglich 4.500 Kraftfahrzeuge und an Feiertagen über 10.000 pro Tag. Es ist verständlich, daß bei einem solchen Verkehr von einer Kontrolle kaum gesprochen werden kann.
Die Autofahrten auf den genannten Strecken werden vom Gegner für illegale Treffs und auch für die Flucht von Bürgern der DDR nach Westdeutschland ausgenutzt. Allein vom September bis Januar wurden im Bezirk Potsdam auf der Autobahn 700 illegale Treffs festgestellt (siehe Anlage 8).
Ich übermittle Ihnen dieses Material, das dem nationalen Verteidigungsrat heute vorlag, nicht etwa, weil wir das als eine akute Gefahr ansehen. Die Tatsachen zeigen aber, daß der Gegner systematisch sein Netz der Verbindungen und Stützpunkte in der DDR ausbaut. Selbstverständlich arbeiten die amerikanische, britische und französische Militärmission in der gleichen Richtung (siehe Anlage 9).
Man kann also sagen, daß gerade weil nach dem 13. August in der Deutschen Demokratischen Republik eine Stabilisierung eingetreten ist, die Spionagezentralen und die revanchistischen und militaristischen Organe von Westdeutschland und Westberlin aus zu schärferen Methoden der Provokation übergegangen sind. Die benutzten Plastik-Sprengkörper können ja nicht von Zivilisten hergestellt sein, sondern stammen offenkundig von Mitarbeitern des Gehlen-Apparates, der ja mit der OAS zusammenarbeitet.
Wir haben uns also einige Male gründlich mit der Frage beschäftigt: Wie kann verhindert werden, daß von der Hauptstadt der DDR aus durch Flüchtlinge oder durch organisierte feindliche Kräfte Grenzprovokationen herbeigeführt werden. Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß es auf unserer Seite keinen Schutzstreifen an der Staatsgrenze gegenüber Westberlin gibt. Deshalb haben die betreffenden Feinde an vielen Stellen die Möglichkeit, legal bis ganz nahe an die Mauer zu kommen. Wir haben den Postendienst verstärkt und auch die Parteiorganisationen darauf eingestellt mitzuhelfen, daß verdächtige Personen gehindert werden, sich der Grenze zu nähern. Am 30. Mai haben wir uns wiederum im Nationalen Verteidigungsrat damit beschäftigt, wie durch weitere Maßnahmen die Zahl der Provokationen an der Grenze vermindert werden kann. Es wurde beschlossen, die Grenzsicherungsmaßnahmen (Stacheldraht usw.) an bestimmten Stellen zu verstärken. Wie ich schon erwähnte, wurde der anliegende Beschluß angenommen, daß verstärkte Sicherungsmaßnahmen im Gebiet 10 m und unterschiedlich bis zu 100 m auf dem Territorium der DDR an der Staatsgrenze gegenüber Westberlin durchgeführt werden.
Im Politbüro wurde beschlossen, in einer Mitteilung des Presseamtes der Regierung der DDR zu den militärischen Provokationen der faschistischen Ultras Stellung zu nehmen.
Mit kommunistischem Gruß
W. Ulbricht
Anlagen: [hier nicht wiedergegeben]