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0.06.1961, Erich Mielke in der erweiterten MfS-Kollegiumssitzung


20.06.1961, Erich Mielke in der erweiterten MfS-Kollegiumssitzung

Streng geheim!
Persönlich!
[...]
Der Genosse Minister Mielke gab eine Einschätzung über die jüngsten politischen Ereignisse, der Lage in der DDR und die sich daraus ergebenden operativen Schlußfolgerungen.

Die Lage in der DDR ist so, daß bestimmte Schwierigkeiten bestehen, z. B. in der Industrie, auf dem Sektor Kohle und in der Chemie. Auch im Transportwesen und in der Landwirtschaft gibt es in gewisser Hinsicht eine schwierige Lage. Im Brief des Politbüros vom 13.6.1961 werden z.B. ganz konkrete Maßnahmen und Aufgaben in bezug auf die Senkung der Viehsterblichkeit festgelegt. Hier liegt die Notwendigkeit vor, mit allen Kräften diese Maßnahmen durchzuführen und alle Menschen dafür zu mobilisieren.
Schwächen bestehen in der Landwirtschaft auch in der Richtung, daß die Beschlüsse des VI. Deutschen Bauernkongresses, das Jahr 1961 zum Jahr der guten genossenschaftlichen Arbeit zu machen, oft nicht durchgeführt werden.
In einigen Bezirken arbeiten bis zu 40 % der Bauern noch nicht genossenschaftlich.
Ein Teil der LPG ist mit Maschinen unterbesetzt, andere können die vorhandenen Maschinen nicht genügend ausnutzen.
Es gibt auch solche Erscheinungen, wo die Viehsterblichkeit außerordentlich hoch ist. In den meisten Fällen ist die Ursache nicht in Feindtätigkeit, sondern in der ungenügenden Mobilisierung der Menschen für eine ordentliche und gründliche Arbeit zu suchen. Weiterhin gibt es solche Erscheinungen, daß Bauern aus LPGs austreten und auf kleineren Flächen einen intensiven Gartenbau betreiben und daraus ein hohes Maß an landwirtschaftlichen Produkten erzielen. Andererseits leiden die LPGs an Arbeitskräftemangel.
Auch im Handel und in der Versorgung gibt es einige Mängel, z.T. fehlt es nicht an Ware, aber durch subjektive Auslegung der Beschlüsse und Weisungen ist teilweise eine schlechte Verteilung vorhanden.
Teilweise gibt es eine gewisse Desorganisation in Teilen des Staatsapparates, die ihre Ursachen in subjektiven Auffassungen einzelner Mitarbeiter des Staatsapparates haben. Z.B. wird die Produktion und Verteilung der l000 kleinen Dinge nicht immer genügend beachtet. Alle diese Faktoren wirken in bestimmtem Maße auf die Bevölkerung und erzeugen örtlich Unzufriedenheit. Der Gegner "trommelt" auf diesen Problemen, um sie für seine Propaganda auszunutzen.

Die R[epublik]-Flucht steigt trotz angewiesener und eingeleiteter Maßnahmen weiter an. Örtlich und auch in einigen Großbetrieben gibt es bestimmte "positive" Unzufriedenheit, d. h. die Forderungen, mehr zu produzieren, werden bereitwillig aufgenommen, aber die Arbeiter verweisen auf Schwierigkeiten, die die Entwicklung der Produktion hemmen und Ausdruck ungenügender staatlicher und wirtschaftlicher Leistungstätigkeit sind.
Teilweise treten unsere Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre nicht immer richtig auf. Mitunter setzen sie sich an die Spitze der unzufriedenen Diskussionen.
Eine genaue Analysierung der Arbeitsniederlegungen zeigt solche Erscheinungen, daß vereinzelt in Großbetrieben Arbeitsniederlegungen auftreten, wie sie sich vor bestimmter Zeit in Klein-, halbstaatlichen und privaten Betrieben zeigten.
Es gibt eine zunehmende Hetze von seiten des Gegners gegen die DDR und es liegen Hinweise vor, daß die feindlichen Geheimdienste in der Richtung arbeiten, an bestimmten Stellen der DDR Stützpunkte für die Realisierung ihrer Pläne zu schaffen.
Alle Momente, wie sie im Zusammenhang mit der Lage in der DDR dargelegt sind, können dem Gegner erlauben, bestimmte Aktionen auszulösen. Deshalb ist es unerläßlich, daß wir alle Kräfte anspannen und mobilisieren, um die Mängel schnellstens zu beseitigen. Nichts ist gefährlicher, als sich zu beruhigen.
Die großzügige Hilfe der Sowjetunion enthebt uns nicht vor einer Steigerung unserer Produktion und Erweiterung unserer Erzeugnisse, sondern zwingt uns zur Ausnutzung aller Reserven.
In der DDR ist es richtig, daß wir die Erfolge unserer Republik feiern und preisen, aber man darf nicht die Augen vor Schlechtem und vor Schönfärberei verschließen.
Wir stehen jetzt unmittelbar vor dem 20. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion. Genosse Chruschtschow hat Kennedy in Wien alle Wahrheiten gesagt, was wird, wenn sie es unternehmen, einen neuen Angriff auf die Sowjetunion zu riskieren. Aber es zeigt sich, daß Kennedy andere, gefährlichere Wege als sein Vorgänger Eisenhower zur Durchsetzung der Absichten der Imperialisten einschlägt. Das Ziel seiner Pläne ist das gleiche wie bei Eisenhower. Es muß auch darauf verwiesen werden, daß sich im Westen die Stimmen mehren, die die Lage in der Welt real einschätzen und die an einer Festlegung der gegenwärtigen Verhältnisse in einem Friedensvertrag interessiert sind.

Welche operativen Aufgaben ergeben sich daraus?

a) Alle IM sind auf die Aufgaben zu orientieren, die mit der Vorbereitung und dem Abschluß eines Friedensvertrages verbunden sind.
b) Die Ergebnisse der Konsultationen der Westmächte und ihre Reaktion zum Memorandum der UdSSR sind aufzuklären. Dabei sind Möglichkeiten zur weiteren Verstärkung des Differenzierungsprozesses in Westdeutschland aufzudecken und auszunutzen.
c) Alle feindlichen Pläne und Maßnahmen, die den Abschluß eines Friedensvertrages verzögern oder stören sollen, müssen erkannt und entlarvt werden.
Von großer Wichtigkeit ist die Entlarvung der verständigungsfeindlichen Politik der Ultras in Westdeutschland. Die Gefährlichkeit der Weiterführung der Atomkriegspolitik der Bonner Militaristen muß noch stärker nachgewiesen werden.
Alle Möglichkeiten sind auszunutzen, um zu erkunden, mit welchen Maßnahmen der SU und der DDR der Westen in bezug auf den Abschluß eines Friedensvertrages und die Schaffung einer entmilitarisierten freien Stadt Westberlin rechnet und welche Gegenmaßnahmen von seiner Seite in bezug auf Westberlin geplant sind.
d) Bei Abschluß eines Friedensvertrages ist mit der Einstellung des Innerdeutschen Handels zu rechnen. Deshalb sind schon jetzt vorbeugende und Sicherungsmaßnahmen einzuleiten. Weiterhin sind die Bemühungen zur Herstellung der ökonomischen Unabhängigkeit von Westdeutschland zu forcieren.
e) Es muß in Erfahrung gebracht werden, welche Maßnahmen die Agenten- und anderen DDR-feindlichen Organisationen vorbereiten, um ihre Arbeit unter den veränderten Bedingungen von Westberlin und Westdeutschland aus durchzuführen.
Es ist mit der Zunahme der feindlichen Tätigkeit zu rechnen. Darum sind alle negativen Momente genau aufzuklären, zu untersuchen und zu beseitigen.
Die Kenntnis über die feindliche Agenturbasis in der DDR ist zu vervollständigen und genau unter Kontrolle zu halten.
f) Noch größere Anstrengungen zur Bekämpfung und Eindämmung der R-Fluchten sind zu unternehmen. Im Hinblick auf den Abschluß eines Friedensvertrages kann eine "Tor-Schluß-Panik" in der Richtung der Verstärkung der R-Flucht wirken.
(Die Materialien über die Bekämpfung der R-Flucht sind auf den neuesten Stand zu bringen).
Die Grenzgänger in Berlin und in den Randgebieten von Berlin sind für bestimmte politische und operative Maßnahmen auszunutzen.
g) Am Ring um Berlin sind die Sicherungsmaßnahmen zu überprüfen und die örtliche Verantwortlichkeit der Sicherungskräfte ist genau festzulegen.
In diesem Zusammenhang muß auch geprüft werden, ob nicht in den Kreisdienststellen der Grenzkreise am Ring um Berlin und an der Staatsgrenze West die befähigsten operativen Leiter eingesetzt werden sollten, die in der Lage sind, die gesamten Sicherungsorgane unter unsere Führung bzw. Kontrolle zu nehmen.
h) Im Hinblick auf die neuen Maßnahmen muß auch der Entwicklung neuer technischer Mittel in bezug auf die Herstellung der operativen Dokumente der IM Rechnung getragen werden. Es sind mehr Schweigepunkte zu schaffen.

Alle Diensteinheiten müssen ihren Beitrag zur Lösung der neuen Probleme bringen, indem sie alle Signale feindlicher Arbeit und andere wichtige Momente genau prüfen, sich in ihrem Bereich ein klares Bild erarbeiten und die Pläne des Feindes erkennen helfen.

Zu einigen anderen Fragen:

In den letzten Wochen gab es drei typische Beispiele, die zeigen, daß wir die operative Arbeit noch nicht voll beherrschen.
Es handelt sich um die Beispiele: Hennigsdorf, Halle und die Staatliche Plankommission.
Z. B. wurde in dem Fall Hennigsdorf klar, daß sich die Kreisdienststellen noch ernsthafter bemühen müssen, eine solche Arbeitsweise herbeizuführen, die die operative Arbeit ständig verfolgen muß und nicht erst dann, wenn sich Schwerpunkte herausgebildet haben. Es gilt darum, daß wir rechtzeitig die Konzentrierung negativer Elemente oder die Bildung anderer Schwerpunkte verhindern. In dieser Richtung ist auf allen Linien noch eine Verstärkung der Arbeit notwendig.
Diese Beispiele zeigen auch, daß sich die operativen Leiter noch mehr mit den Methoden der operativen Arbeit befassen müssen.
Es muß in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, daß bei uns das Prinzip der Einzelleitung herrscht und die Verantwortung nicht verschoben werden kann, indem man sich hinter "die Leitung" verschanzt. Die Einzelleitung hindert nicht, kollektiv zu arbeiten. Sie erfordert, daß man sich politisch berät, sich die Meinung sagt, als Leiter selbst den größten Beitrag im Kollektiv leistet, aber daß man selbst entscheidet und die Verantwortung trägt.
Es gibt auch noch solche Beispiele, daß in Parteiversammlungen – also im großen Kreis – über konkrete operative Fragen gesprochen wird. Es ist ein festes Prinzip der tschekistischen Arbeit, daß nur derjenige von bestimmten Maßnahmen Kenntnis haben darf, der mit deren Durchführung beauftragt ist. Der Gegner darf auf keinen Fall Kenntnis von unseren Maßnahmen und Plänen erhalten, weil wir dadurch die Sicherung unserer Republik schwächen. In diesem Zusammenhang ist eine noch strengere Abgrenzung in der Ar-beit erforderlich. Es muß darauf verwiesen werden, daß in der Vergangenheit eine Reihe von Maßnahmen und Auf-gaben nur lösbar waren, weil alle Vorbereitungen streng geheim getroffen wurden. Eine solche Arbeitsweise hat nichts mit Mißtrauen zu tun.

Zusammenfassend ergeben sich also 3 große Schlußfolgerungen,
a) alle Maßnahmen zur politischen und ökonomischen Stärkung der DDR durchzuführen,
b) ein großes Maß an patriotischer Wachsamkeit zu entwickeln, um rechtzeitig alle Möglichkeiten zur Sicherung der Republik ausnutzen zu können,
c) die DDR als Bastion des Friedens weiter zu stärken und keine Schwächung zuzulassen.

In der Aussprache ergriffen die Genossen
Generalmajor Wolf,
Oberst Weidauer,
Oberst Wagner und
Oberstltn. Mittig
das Wort.

Genosse Generalmajor Wolf gab eine Einschätzung der Lage in der SPD auf der Grundlage des Briefes des Genossen Götzl an einen sozialdemokratischen Bundestags-Abgeordneten.
Die Leiter der Bezirksverwaltungen wurden unterrichtet, daß die Leiter der Abteilungen XV auf der Dienstbesprechung am 19.6.1961 angewiesen wurden, persönlich die Be-schaffung von Informationen im Zusammenhang mit dem Abschluß eines Friedensvertrages und der Lösung der Westberlin-Frage zu kontrollieren und bei der Auftragserteilung an die IM mitzuwirken. Diese Aufgabenstellung muß auch ihren Niederschlag im Plan für das 2. Halbjahr 1961 finden.
Es wurde betont, daß die Aufgabenstellung, die sich aus der Einschätzung der Lage innerhalb der SPD ergibt, in engem Zusammenhang mit den vom Genossen Minister Mielke entwickelten Aufgaben gesehen werden muß.

a) Die Linie des Westens besteht darin, unter Vermeidung des Atomkrieges, in den befreiten Ländern die Entwicklung zum Sozialismus abzuwehren. In dieser Richtung gibt es verschiedene Konzeptionen.
Es ist bekannt, daß die z.B. in den USA bestehenden Guerilla-Einheiten in bestimmtem Maße auch auf Westdeutschland übertragen werden. In Westdeutschland werden bestimmte Gruppen konkret für Provokationen gegen die DDR in diesem Sinne ausgebildet.
b) Die Verwirklichung der Absichten der Militaristen steht in engem Zusammenhang mit der Lage in der SPD, weil sich die SPD nach ihrer Kapitulation das Programm der Militaristen zu eigen gemacht hat. Die rechten SPD-Führer haben offen die aggressiven militaristischen Forderungen auch zu den ihren gemacht.
Unsere operative Arbeit muß sich gegen diese Entwicklung richten und im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen auf die Schaffung einer echten Opposition orientieren.
c) Die rechte SPD-Führung identifiziert sich mit dem Bonner Staat als den ihrigen und auch mit den aggressiven Zielen des Bonner Staates. Das zeigt sich u.a. an der Bejahung der NATO und der Wehrpflicht.
Deshalb ist jeder Schlag gegen den Bonner Staat ein Schlag gegen die rechte SPD-Führung.
d) Das unter Brandt entstandene "Regierungsprogramm" wurde unter Umgehung des Parteivorstandes durchgepeitscht. Das zeigt, daß die SPD keine andere Politik als Adenauer will.
Es ist notwendig, dieses Programm zu entlarven als eine Machenschaft von Brandt, die er im Auftrag der USA-Imperialisten durchführt. Es ist das Programm einer von vornherein feststehenden Wahlniederlage der SPD.
e) Die Linie der rechten SPD-Führung beinhaltet keinerlei Auseinandersetzung mit der CDU. Das führt jetzt schon bei großen Teilen der Mitgliedschaft der SPD zu großem Unwillen.
Es muß alles getan werden, was der Auseinandersetzung und der Verstärkung der Differenzen dient. Die oppositionellen Kräfte sind zu verstärken und zu veranlassen, daß sie ihre Führer zu Auseinandersetzungen zwingen.
f) Die rechte SPD-Führung will die gegenwärtige CDU-Politik nicht ändern, sondern besser machen.
Darum sind die gegen Adenauer gerichteten Forderungen der fortschrittlichen Gewerkschaftler zu unterstützen und die Gegensätze zum sog. Leber-Plan aufzuzeigen.
g) Es ist notwendig, die konkrete Zusammenarbeit von Wehner u.a. mit den Ultras aufzuzeigen. In den Schulen des DGB und der SPD herrscht eine große Aktivität zur "Abwehr der kommunistischen Infiltration" und der Ausbildung von Agenten und Diversanten in der Arbeiterklasse.
h) Im Brief des Genossen Götzl wird die verbrecherische Arbeit des SPD-Ostbüros aufgezeigt.
Es geht darum, durch politische Maßnahmen (Erzeugung einer Massenstimmung gegen das SPD-Ostbüro)unsere operativen Maßnahmen wirksam zu unterstützen.

Aus diesen allgemeinen Schlußfolgerungen ergeben sich viele konkrete Maßnahmen, die genau zu bedenken und vor ihrer Durchführung mit der Leitung der Hauptverwaltung A bzw. mit der Leitung des Ministeriums abzusprechen sind.
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