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04.10.1960, Aufzeichnung Auswärtiges Amt: Zuspitzung des Ost-West-Konfliktes


04.10.1960, Aufzeichnung Auswärtiges Amt: Zuspitzung des Ost-West-Konfliktes

Chruschtschow hat die Pariser Gipfelkonferenz vor allem deswegen vereitelt, weil er angesichts der westlichen Geschlossenheit bei keinem Tagesordnungspunkt auf nennenswerte Fortschritte hoffen konnte. Seine kürzlichen Äußerungen auf der XV. Vollversammlung der Vereinten Nationen bestätigen den bisherigen Eindruck, daß er an einer neuen Gipfelkonferenz vor Anfang nächsten Jahres kaum interessiert ist. Einer der Gründe für diese Einstellung ist, daß der neue amerikanische Präsident sein Amt erst im Januar 1961 antritt. Ein weiterer Grund könnte sein, daß der sowjetische Vorsprung gegenüber den USA in der Produktion interkontinentaler Flugkörper im Frühjahr 1961 recht erheblich sein wird, worin Chruschtschow eine vorteilhafte Ausgangsposition für eine neue Erpressungspolitik sehen wird.
So aggressiv Chruschtschow bisher auf der XV. Vollversammlung der Vereinten Nationen auch aufgetreten ist, so bestätigt doch seine New Yorker Rede vom 23. September 1960 den im Mai 1960 in Paris und bei seinem anschließenden Besuch in Berlin gewonnenen Eindruck, daß er den Separatfriedensvertrag mit der SBZ, der früher oder später zur Auslösung einer akuten Berlin-Krise führen würde, nicht mehr in diesem Jahre abschließen will. Ebenso legt Chruschtschow in der Kuba-Frage, in der gleichfalls vitale Interessen der Vereinigten Staaten auf dem Spiele stehen, bisher Zurückhaltung an den Tag.
Sein Auftreten vor den Vereinten Nationen dient ihm nicht nur als große Propagandaschau im Sinne seines angeblichen Antikolonialismus, sondern stellt für ihn eine Etappe auf dem Wege zur neuen Gipfelkonferenz dar. Er will über die öffentliche Meinung der ungebundenen Welt Druck auf die Westmächte ausüben, zu seinen Bedingungen die Abrüstungsverhandlungen und damit das westöstliche Gespräch überhaupt wiederzueröffnen. Wenn ihm auch klar sein muß, daß sein Abrüstungsplan in der vorgeschlagenen Form vom Westen nicht akzeptiert werden kann, so scheint er doch auf Nebenergebnisse zu hoffen. Diese können einmal in faktischen Auswirkungen bestehen wie z.B. in der Lähmung der westlichen Verteidigungsbereitschaft, insbesondere in der Verlangsamung der westlichen Aufrüstung, und der Fortdauer des faktischen Moratoriums in der Frage der Kernwaffenversuche. Sie können zum anderen für die UdSSR vorteilhafte vertragliche Teilabsprachen sein.
Für den Fall, daß der Westen die sowjetischen Abrüstungsvorschläge ablehnt, so glaubt Chruschtschow sich gegenüber der Welt ein Alibi seines guten Willens verschafft zu haben. Es ist möglich, daß er dann eine neue Berlin-Krise auslöst. Sein einseitiges Vorgehen wird er damit begründen, daß er alle Verhandlungsmöglichkeiten erschöpft habe. Er wird so versuchen, den Westen in eine Lage hineinzumanövrieren, in der es diesem besonders schwer fällt, eine etwaige Gewaltanwendung zur Offenhaltung des Zugangs nach Berlin gegenüber der Welt zu rechtfertigen.
Eine solche krisenhafte Entwicklung in der Berlin-Frage könnte etwa im Frühjahr oder Sommer 1961 eintreten. Die kürzlichen Teilaktionen des Sowjetzonenregimes gegen Berlin bezwecken, die Ausgangsposition der Sowjets für die dann unter dem Druck der akuten Krise beginnenden neuen Verhandlungen mit dem Westen zu verbessern.
Die Erfahrung in Paris hat gezeigt, daß eine entschlossene Haltung des Westens diesen Absichten gegenüber geeignet ist, Chruschtschow auf das Maß seine realen Möglichkeiten zurückzudrängen. Dagegen könnte ein Zurückweichen des Westens gegenüber der sowjetischen Erpressungspolitik zur Folge haben, daß Chruschtschow den Grad der westlichen Entschlossenheit unterschätzt und seine eigenen Chancen überschätzt. Es könnte sich daraus eine Situation entwickeln, in der Ost wie West unter den Zwang überhasteter Entscheidungen geraten, womit die Gefahr des Zufallskrieges greifbar würde.

(Politisches Archiv, Auswärtiges Amt)