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01.07.1959, Zwischenbericht der DDR-Delegation über die Genfer Außenministerkonferenz


01.07.1959, Zwischenbericht der DDR-Delegation über die Genfer Außenministerkonferenz

[...]
VII.
(Zusammenfassende Einschätzung)
1. Die Einberufung der Außenministerkonferenz war ein großer Erfolg der Politik der Sowjetunion, der Deutschen Demokratischen Republik und der anderen sozialistischen Staaten sowie der Friedenskräfte in aller Welt.
Obwohl die Westmächte nicht an der Wiederaufnahme der Ost-West-Verhandlungen interessiert waren, konnten sie sich der Einberufung der Genfer Außenministerkonferenz nicht länger entziehen. Die Vorschläge der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik bestimmten den bisherigen Verlauf der Genfer Außenministerkonferenz. Die Westmächte waren gezwungen, sich eingehend mit diesen Vorschlägen auseinanderzusetzen.
2. Die Westmächte waren im bisherigen Verlauf der Konferenz bestrebt, ihre verständigungsfeindliche Politik fortzuführen. Sie waren nicht bereit, auf die Vorschläge zum Abschluß des Friedensvertrages mit Deutschland und zur Schaffung einer entmilitarisierten Freien Stadt Westberlin einzugehen.
Sie weigern sich nach wie vor, in diesen Fragen einen realistischeren Standpunkt einzunehmen, was trotz des weiten Entgegenkommens der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik eine Annäherung der Standpunkte verhinderte.
3. Ausdruck der unrealistischen Haltung der Westmächte in den Deutschland betreffenden Fragen ist der von ihnen auf der Konferenz vorgelegte Stufenplan, auf dessen Grundlage keinerlei Vereinbarung möglich ist. Der Stufenplan beweist, daß es der westdeutschen Regierung weitgehend gelungen ist, bei den Vorbesprechungen zwischen ihr und den Regierungen der Westmächte die weitere Aufrechterhaltung ihrer irrealen Deutschlandkonzeption durchzusetzen. Der im westlichen Stufenplan enthaltene vom bisherigen Bonner Standpunkt abweichende Vorschlag der Schaffung eines Gesamtdeutschen Ausschusses ist an Bedingungen geknüpft, die ihn praktisch gegenstandslos machen. Besonders bemerkenswert ist das aus dem Stufenplan ersichtliche Zurückweichen der britischen Regierung in der Frage der Schaffung einer entspannten Zone in Europa.
4. Da sich die Westmächte der Schwäche ihrer Stellung in Westberlin bewußt und sie daher an einer Neuregelung des Berlin-Status interessiert sind, ergibt sich die Möglichkeit einer Annäherung der Standpunkte hinsichtlich einer Zwischenlösung für Westberlin. Die Sowjetunion und die Deutsche Demokratische Republik sind angesichts der Weigerung der Westmächte, der Schaffung einer Freien Stadt Westberlin zuzustimmen, bereit, eine solche provisorische Lösung in Verbindung mit der Frage der Bildung eines gesamtdeutschen Organs durch die beiden deutschen Regierungen zu erörtern, um dadurch zu ersten Schritten zur Überwindung des Besatzungsregimes und zu einem ersten Schritt zur Annäherung beider deutscher Staaten zu gelangen.
Im Verlauf der bisherigen Erörterungen über die Vereinbarung eines provisorischen Berlin-Status wurden gewisse Fortschritte erzielt. Eine Annäherung ergab sich:
a) hinsichtlich der Erkenntnis, daß die gegenwärtige Lage anormal ist,
b) in der Frage der Nichtausrüstung der westlichen Truppen in Berlin mit Kern- und Raketenwaffen,
c) hinsichtlich des Eingeständnisses der Westmächte, daß Maßnahmen in Bezug auf die Einstellung der Spionagetätigkeit von Westberlin aus notwendig sind,
d) in der Frage der Ausübung der Kontrolle des Zugangs nach Westberlin durch deutsche Vertreter.
Eine weitere Annäherung der Standpunkte scheiterte bisher vor allem daran, daß die Westmächte nicht bereit sind, ihre Besatzungsrechte aufzugeben, sondern daß sie eine Zwischenlösung von der Bestätigung dieser Rechte abhängig machen. Ob es im weiteren Verlauf der Konferenz zu einer Vereinbarung über eine vorläufige Regelung für Westberlin kommen wird, hängt in der Hauptsache davon ab, ob die Westmächte diesen für die Sowjetunion und die Deutsche Demokratische Republik unannehmbaren Standpunkt aufgeben und auf den Vorschlag, die Bildung einer gesamtdeutschen Kommission zu empfehlen, eingehen.
5. Hinsichtlich einer vorläufigen Regelung für Westberlin bestehen zweifellos bedeutende Differenzen zwischen den Westmächten. Die westdeutsche und die französische Regierung sind scharfe Gegner jeder Vereinbarung, die den bisherigen Zustand zugunsten einer friedlichen Entwicklung verändert, da sie daraus ernste Rückwirkungen für die Fortführung ihrer Politik erwarten. Deshalb traten sie für den Abbruch der Konferenz ein.
Die britische Regierung scheint nach wie vor daran interessiert zu sein, einen gewissen Fortschritt zu erreichen. Deshalb war sie bestrebt, die Konferenz weiterzuführen. Auch die amerikanische Regierung hat sich offenbar gegen den Abbruch der Konferenz gewandt, da sie die Auswirkungen eines solchen Schrittes für das Prestige der USA befürchtet.
6. Die westliche Forderung nach einer Vertagung der Konferenz bis zum 15. Juli 1959 entsprang offensichtlich dem Wunsch, in der Zwischenzeit die Gegensätze zwischen den Westmächten zu verringern und eine gemeinsame Linie für die Fortführung der Konferenz zu finden.
Der westdeutschen Regierung ist es also nicht gelungen, ihre Forderung nach Abbruch der Konferenz durchzusetzen.
Die Bereitschaft, die Konferenz fortzusetzen, unterstreicht, daß die Westmächte unter dem Druck der Weltöffentlichkeit und der Friedenspolitik der Sowjetunion zu einer verständigungsbereiten Haltung gezwungen sind.
7. Die Genfer Außenministerkonferenz erweist sich bereits jetzt als ein bedeutender nationaler und internationaler Erfolg für die Deutsche Demokratische Republik:
a) Die Teilnahme der Deutschen Demokratischen Republik als Berater der Konferenz bedeutet ihre de-facto-Anerkennung. Der Anspruch der Bundesrepublik, als allein legitimierter Sprecher für Deutschland aufzutreten, wurde erneut überzeugend widerlegt. Das wird wesentlich zur Durchsetzung einer umfassenden internationalen Anerkennung der DDR beitragen.
b) Die gegnerischen Kräfte werden zweifellos verstärkte Anstrengungen unternehmen, um die für die DDR positiven Auswirkungen zunichtezumachen, weshalb eine besonders aktive Haltung seitens der DDR – insbesondere die maximale Ausnutzung der Konferenzteilnahme – geboten ist.
c) Das Eintreten der Deutschen Demokratischen Republik für die nationalen Interessen des deutschen Volkes hat ihre nationale Autorität erhöht.
d) Die Genfer Konferenz wird diejenigen Kräfte in Westdeutschland stärken, die für Verhandlungen zwischen den Regierungen beider deutscher Staaten eintreten. (Hierzu wird auch die Tatsache beitragen, daß die Bonner Forderung, den Prozeß der Wiedervereinigung mit gesamtdeutschen Wahlen zu beginnen, nicht länger aufrechterhalten werden konnte. Auch die Bonner These, es könnte keine politischen Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik geben, wurde durch den im westlichen Stufenplan enthaltenen Vorschlag der Bildung einer gemischten gesamtdeutschen Kommission widerlegt.)
8. Das Auftreten der westdeutschen Delegation auf der Genfer Außenministerkonferenz hat erneut bewiesen, daß die westdeutsche Regierung ein Feind der internationalen und nationalen Verständigung ist. Durch die Ablehnung aller Verständigungsangebote der Deutschen Demokratischen Republik hat sie gezeigt, daß sie an der friedlichen und demokratischen Wiedervereinigung Deutschlands nicht interessiert ist. Die westdeutsche Regierung befindet sich damit im Widerspruch zur überwiegenden Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung. Ihr Verhalten auf der Genfer Außenministerkonferenz verstärkt ihre nationale und internationale Isolierung."

(SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/20/78)