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15.6.1959: Otto Winzer (Genf) an Ulbricht, Grotewohl, Rau, Schwab


15.6.1959: Otto Winzer (Genf) an Ulbricht, Grotewohl, Rau, Schwab

Werte Genossen !

Es ist im Augenblick schwer, eine Einschätzung des Standes der Konferenz und ihrer voraussichtlichen weiteren Entwicklung zu geben. Im Telegramm hatte ich davon berichtet, dass Herter dem Gen. Gromyko vorgeschlagen hatte, über das Wochenende Besprechungen zu zweit zu führen. Gen. Gromyko hatte sich dazu jedoch nicht geäussert und wie das Auftreten Lloyds in der offiziellen Sitzung an Freitag zeigte, völlig zu Recht. Der betonte Hinweis Lloyds darauf, dass man sich über das Wochenende ausruhen und Gedanken machen müsse, war eine deutliche Absage gegenüber Herters Vorschlag auf zweiseitige Beratungen. Bekanntlich hat Lloyd heute früh vor dem britischen Kabinett über Genf berichtet und auch das französische Kabinett be-schäftigte sich heute vormittag noch mit der Konferenz. Die inoffizielle Besprechung ist um zwei Stunden vertagt, sie findet also erst um 1/2 6 Uhr statt, sodass uns die sowjetischen Ge-nossen nicht vor 9 oder 10 Uhr abends das Ergebnis mitteilen können. Ich werde darüber in der Nacht noch ein Telegramm schicken. Interessant ist, dass Couve de Murville gestern abend bei seiner Rückkehr aus Paris darauf hinwies, dass de Gaulle am 23.6. nach Italien fährt und dass es normal ist, dass er ihn begleitet. Das deutet auf den Wunsch hin, die Konferenz in dieser oder Anfang nächster Woche zu Ende zu bringen.

Bei dem Essen, das Brentano für die sowjetische Delegation am Freitag abend gab, kam nicht viel Neues heraus. Jede Seite vertrat ihre bisherigen Positionen. Genosse Sorin wies in dem Gespräch, das ich eben mit ihm hatte, nur auf folgendes hin: Duckwitz erklärte, dass die Hallstein-Doktrin überlebt wäre und dass man sich in absehbarer Zeit damit befassen müsse, die Beziehungen zu Polen und der CSR zu normalisieren. Eckardt, der daraufhin von Gen. Sorin angesprochen wurde, erklärte, dass [sic!] sei zwar richtig, aber das wäre jetzt nicht die Hauptfrage. Die Hauptfrage ist die DDR, mit der es nach wie vor keine offiziellen Verhandlungen geben würde. Grewe fragte die sowjetischen Genossen, auf welcher Grundlage sie die Stationierung von Truppen der vier Mächte in Westberlin für möglich halten; auf der Grund-lage der Okkupation oder einer Zustimmung der Bevölkerung? Die sowjetischen Genossen antworteten, auf der Grundlage eines Vier-Mächte-Abkommens. Mir scheint die Sache nur erwähnenswert, weil die Bonner und wahrscheinlich auch die Westberliner in dieser Richtung argumentieren werden. Auf eine entsprechende Frage des Gen. Gromyko erklärte Brentano einen Nichtangriffspakt zwischen den beiden großen Militärblocks für möglich. Grewe, der sich in das Gespräch einmischte, wollte die Sache dahin abbiegen, dass beide Seiten übereinkommen sollten, die bestehenden Abkommen nicht zu verletzen, was auf eine Garantie der Okkupationsrechte der Westmächte hinausliefe. Im Laufe der Diskussion lehnten die sowjetischen Genossen diesen Grewe-schen Gedanken scharf ab, während Brentano am Schluss nochmals versicherte, er wäre für einen Nichtangriffspakt. Gen. Gromyko empfahl ihm, diese Ansicht auch bei den Westmächten zu vertreten.

Nach Mitteilungen von Journalisten sollen Eckardt und Duckwitz in persönlichen Gesprächen zugegeben haben, dass allein Bonn einen Abbruch der Konferenz wünscht, der zu einer Verschärfung der internationalen Spannungen führt, da ihnen das die Überwindung der inneren Krise ermöglichen und gestatten würde, alle Parteien fest an die Kandare zu nehmen. Was Herter betrifft, so sei er daran interessiert, dass sein erstes selbständiges Auf-treten in der internationalen Arena erfolgreich ausläuft. Die britische Öffentlichkeit erwarte von ihrer Regierung Nachgiebig-keit in den Verhandlungen und Frankreich brauche – immer nach diesen Quellen – unbedingt außenpolitische Prestige-Erfolge.
Angeblich suche man nach einem Weg, die Konferenz, auf eine Art zu beenden, bei der der Westen keine wesentlichen Konzessionen macht. Die Westmächte sollen in der letzten Zeit die Bonner Vertreter weniger zu Rate gezogen haben, als früher. Die Bonner Delegation hatte große Hoffnungen auf das Auftreten von Brandt gesetzt. Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht, da die Westmächte Brandt nicht Gelegenheit zu einem internationalen Auftreten gaben.
Zu meinen früheren Mitteilungen über die Vorschläge der Westmächte in den inoffiziellen Besprechungen wäre noch nachzutragen: Der Vorschlag, die Truppen der Westmächte in Westberlin nicht zu erhöhen und evtl. sogar herabzusetzen, stellt nach Meinung der Gen. Gromyko und Sorin doch ein gewisses Zugeständ-nis dar, denn die Westmächte hätten auf Grund alter Abkommen das Recht, bis zu 50.000 Mann in Westberlin zu stationieren. Auch ihre Stellungnahme zur Frage der Propaganda und der Wühlarbeit würde ihre Stellung schwächen. Sie wollen aber mit diesen geringen Zugeständnissen die große grundsätzliche Entscheidung erzwingen, dass ihre Besatzungsrechte anerkannt werden; Genosse Sorin hält es nicht für ausgeschlossen, dass entsprechend englischen Pressemeldungen es in der heutigen inoffiziellen Besprechung Diskussionen über eine Verlängerung der in unseren Vorschlägen enthaltenen Frist geben wird.
Je nach den Vorschlägen, die die Westmächte heute zu machen haben, werden die sowjetischen Genossen evtl. an ihre beiden in der öffentlichen Sitzung gestellten Fragen erinnern und Antwort darauf verlangen.
Alles weitere heute Nacht im Telegramm.

Mit Gruß
(Winzer)

(SAPMO-BArch, DY 30 NL90/464)