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8.6.1959: Otto Winzer (Genf) an Ulbricht, Grotewohl, Rau, Schwab


8.6.1959: Otto Winzer (Genf) an Ulbricht, Grotewohl, Rau, Schwab

Werte Genossen!
Soeben suchten uns die Genossen Sorin, Iljitschow und Seljaninow auf. Genosse Sorin nahm noch einmal bezug darauf, daß sich aus den bisherigen inoffiziellen Besprechungen ergeben hat, daß die Westmächte es als die Hauptfrage betrachten, ihre Rechte als Besatzungsmacht in Westberlin bestätigt zu erhalten und es sich als unmöglich erweist, den Status der Freien Stadt für Westberlin durchzusetzen. Man muß sie jetzt vor die Alternative stellen, entweder ein zeitweiliges Abkommen über Westberlin einzugehen, oder die Sowjetunion und die DDR werden selber handeln. Es sei die Absicht, bei den heutigen inoffiziellen Besprechungen den Westmächten eine solche Regelung vorzuschlagen, bei der der gegenwärtige Status mit den Rechten der Westmächte zeitweilig für ein Jahr anerkannt wird und zwar unter folgenden Bedingungen:

a) daß eine Verringerung der in Westberlin stationierten Truppen erfolgt;

b) daß eine Einstellung der feindlichen Propaganda und der unterirdischen Tätigkeit gegen die DDR erfolgt;

c) daß keine Raketen- und Atomwaffen in Westberlin stationiert werden.

Hinsichtlich des letzten Punktes wurde gesagt, daß er mehr eine politisch-propagandistische als praktische Bedeutung habe, da sie offenkundig nicht die Absicht haben, Raketen- und Atomwaffen in Westberlin zu stationieren.
Bei Annahme dieser Bedingungen werde innerhalb eines Jahres keine Änderung des heutigen Status erfolgen.
Gleichzeitig soll ein Gesamtdeutsches Komitee natürlich auf paritätischer Grundlage geschaffen werden. Die Aufgabe des Komitees soll darin bestehen, sich innerhalb eines Jahres

1) über einen Plan der Wiedervereinigung zu verständigen;

2) eine Annäherung der beiden Staaten und die Verstärkung der gegenseitigen Kontakte herbeizuführen;

3) über die Grundsätze eines Friedensvertrages mit Deutschland zu verständigen.

Wenn innerhalb eines Jahres keine Verständigung erfolgt, wird ein Friedensvertrag mit der DDR abgeschlossen.
Die Verschiebung der Lösung des Westberlin-Problems um ein Jahr unter den genannten Bedingungen würde die Position des Westens schwächen. Sie würden durch ein solches Abkommen die Beschränkung ihrer Rechte anerkennen. Unsere Positionen dagegen würden sich verstärken.
Minister Bolz stellte zunächst die Frage, wie groß die Verringerung der Truppen sein soll. Wie bisher sollen auch jetzt keine Zahlen dafür genant werden.
Auf Drängen unsererseits wurde gesagt, daß die sowjetischen Genossen im eigenen Kreis einmal tausend Mann pro Besatzungsmacht als hinreichend betrachtet haben. Wir haben um Bestätigung gebeten, daß bezüglich der Propaganda es sich lediglich um Westberlin handelt und nicht etwa um eine Bedingung für beide Teile Berlins, was zugestanden wurde.
Es entwickelte sich dann eine Diskussion um die Frage der Garantieerklärung. Da an dem bisherigen Status von Berlin nur geringfügige Änderungen vorgenommen werden, kann unserer Meinung nach keine Garantieerklärung, wie sie für die Freie Stadt Westberlin geplant wurde, abgegeben werden. Man wurde sich schließlich darüber einig, daß diese Frage weiterer Überlegungen bedarf.
Als erste Möglichkeit wurde über eine Erklärung gesprochen, die nur den gegenwärtigen Zustand für ein Jahr sanktioniert.
Im Weiteren kam unsere Delegation zu dem Vorschlag, nur den Schriftwechsel Bolz-Sorin auf ein Jahr zu befristen, wobei darauf hingewiesen wurde, daß der Schriftwechsel selbst keine Fristsetzung enthält. In welcher Form das zu geschehen hat, darüber müsse man sich noch verständigen.
Die Hauptdiskussion mit den sowjetischen Genossen ging natürlich um die Frage des Gesamtdeutschen Komitees, seines Charakters und seiner Funktionen. Wir wiesen darauf hin, daß im Politbüro darüber diskutiert und empfohlen wurde, diese Frage bis nach den ersten Beratungen in Moskau zurückzustellen. Von uns wurde der Einwand erhoben, daß diese Form des Gesamtdeutschen Komitees doch als eine Anerkennung der Zuständigkeit der Vier Mächte für die Wiedervereinigung ausgelegt werden kann.
Des weiteren rückt in der Aufgabenstellung die Wiedervereinigung an die erste Stelle, während der Friedensvertrag an die letzte Stelle rückt. Außerdem bringt die Aufgabenstellung: Annäherung der beiden Staaten und Vermehrung der Kontakte, die Gefahr mit sich, daß die Lösung dieser Aufgaben nicht mehr mit dem Kampf gegen Militarismus und Atomrüstung in Westdeutschland in Zusammenhang gebracht wird. Genosse Sorin wies demgegenüber darauf hin, daß dieser Vorschlag uns eine günstige Position als Verfechter der Wiedervereinigung und der Annäherung geben würde.
Wir haben die sowjetischen Genossen gebeten, diese Frage zurückzustellen und sich selber mit Moskau in Verbindung zu setzen, was sie zusagten.
Wir sind der Meinung, daß diese Frage eine komplizierte Frage ist, die man überlegen muß. Es taucht z.B. der Gedanke auf, dem Gesamtdeutschen Komitee folgende Aufgaben zu stellen:

1) Verzicht auf Gewaltanwendung;

2) Gegenseitige Verständigung über Truppenstärke und ihre Ausrüstung, d.h. Verzicht auf Atomwaffen und Raketen;

3) Beratung der Grundsätze des Friedensvertrages;

4) Und andere Fragen, die sich aus den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten ergeben.

Die größten Zweifel bestehen in der Delegation bezüglich der Form einer Empfehlung oder ähnlichem der vier Mächte, damit nicht unsere Hauptthese, die Frage der Wiedervereinigung sein keine Angelegenheit der vier Mächte, erschüttert wird.
Wir sind bemüht, in Diskussionen innerhalb der Delegation selber eine Klärung der Probleme herbeizuführen und hoffen, daß morgen einige Vorschläge unsererseits unterbreitet werden können.
Auf jeden Fall muß eine Koppelung des Problems Westberlin mit den Fragen der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten vermieden werden.
Aus den Gesprächen mit den sowjetischen Genossen ist ersichtlich, daß sie bemüht sind, ein Minimalprogramm zu entwickeln, über das man sich verständigen kann, ohne das Zustandekommen einer Gipfelkonferenz zu gefährden. Von unserer Seite ist ein solches Minimalprogramm bisher nicht entwickelt worden.
Die Konferenz ist in das Stadium der Formulierung getreten und Genosse Sorin hält es für möglich, daß sie im Laufe dieser Woche zu Ende geht, und daß man auf schnelle Entscheidungen gefaßt sein muß.
Zur Beschleunigung bitten wir zu prüfen, ob Ihr uns nicht durch die sowjetischen Genossen direkt Eure Stellungnahme zugehen lassen könnt.
Falls Ihr uns nicht unabhängig von diesem Brief schon Nachricht durchgegeben habt, bitten wir um schnellste Stellungnahme.
Mit Gruß
Winzer

(SAPMO-BArch, DY 30/NL 90/464)