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6.6.1959: Aufzeichnung Otto Winzer (Genf)


6.6.1959: Aufzeichnung Otto Winzer (Genf)

Die Unterredung der Außenminister konzentrierte sich auf zwei Fragen:
1. Veränderungen der Lage in Westberlin. Die westlichen Außenminister beriefen sich auf ihr nicht veröffentlichtes Fünf-Punkte-Programm und versuchten festzustellen, welches Westberlin von sowjetischer Seite gewünscht wird. Gromyko antwortete: "Freie Stadt Westberlin". Die Westmächte stellten die Frage: Gromyko unter symbolischen Truppen. Sie ließen durchblicken, daß sie einer Verringerung ihrer Truppen in Westberlin zustimmen könnten. Gromyko antwortete: "Sie sollten sagen, was sie als symbolische Truppen ansehen würden." Von keiner Seite wurde irgendeine Zahl genannt.

2. Rechtsanspruch der Westmächte auf Unterhaltung von Truppen in Westberlin. Wenn zur ersten Frage nur Loyd [sic!] und Couve de Murville das Wort ergriffen, so begannen Diskussionen zu Punkt zwei mit Ausführungen von Herter. Er sagte: Jede Vereinbarung müsse das Recht der Westmächte, Truppen in Westberlin zu stationieren, enthalten. Gromyko antwortete: Da die Rechtsfrage eine Streitfrage sei, solle diese Frage in evtl. anzunehmenden Dokumenten nicht berührt werden. Herter sagte: die Westmächte müßten ihrerseits auf ihr "Recht" bestehen. (Auf diese Frage kamen die Westmächte im Gespräch 30 mal zurück.)
Couve meinte dann, wenn in einer Vereinbarung die Rechtsfrage nicht geklärt würde, so müßten die Westmächte in einer eigenen Erklärung über ihre Rechte auftreten. Was würde dann die Sowjetunion tun? Gromyko antwortete: Sowjetischerseits bestehe nicht die Absicht, etwas gegen getroffene Vereinbarungen zu sagen, er würde es den Westmächten auch nicht empfehlen.
Herter stellte die Frage, ob die Sowjetunion im Falle, daß eine Vereinbarung in Genf zustande käme, in der die Rechtsfragen, nicht enthalten sei, mit der DDR ein [sic!] Friedensvertrag abschließen würde, der - wie er sagte, nach den Worten Chruschtschow alle Rechte der Westmächte annullieren würde.
Gromyko antwortete: Wenn in Genf eine Vereinbarung oder Abkommen beschlossen würde, so werde die Sowjetunion sie erfüllen.
Chruschtschow habe zwei Varianten aufgestellt;
a) Friedensvertrag, einschließlich der Lösung der Westberlin-Frage
b) Lösung der Westberlin-Frage außerhalb eines Friedensvertrages.

Im Verlaufe des Gespräches erklärte Loyd, man könnte den Versuch unternehmen, "etwas zu formulieren" als Grundlage für die Diskussion. Auf die Frage Gromyko, was formuliert werden könnte? erhielt er keine Antwort. Herter erklärte, es sei unmöglich, etwas zu formulieren, ohne daß die Rechtsfrage geklärt sei. Im Laufe des Gesprächs sage dann Loyd, der Westen würde doch versuchen über das Wochenende Verständigungsmöglichkeiten zu formulieren.
Auf meine Frage, worin Genosse Sorin eine Möglichkeit der Verständigung sähe, erklärte er:
1. "In der Frage der westlichen Truppen in Westberlin, d. h. eine Beschränkung (oder Reduzierung). Er meinte, eine solche Vereinbarung würde faktisch alle Vereinbarungen, die vorhergegangen sind, annullieren.

2. Einstellung der Diversionstätigkeit, Hetze und dergleichen gegen die DDR und die anderen sozialistischen Länder von Westberlin aus.

3. Freier Zugang von und zu Westberlin mit der Außenwelt, wobei die Sowjetunion sich ihrer Funktionen entledigt und die DDR alle ihre Rechte in Anspruch nimmt. Das heißt, eine Verständigung über eine Garantie der vier Mächte über den Verkehr zwischen Westberlin und der Außenwelt.

Die Rechtsfrage wird auch weiterhin eine der kompliziertesten Fragen sein. Das Maximalprogramm des Westens besteht darin, ein Dokument zu erhalten, in dem das Recht der Truppenstationierung in Berlin bestätigt wird. Bisher läßt sich ihr Minimalprogramm so formulieren: Wenn ein Abkommen über die Veränderung der Lage in Westberlin beschlossen wird, in dem die Rechtstrage ausgeklammert ist, so würden die Westmächte eine einseitige Erklärung abgeben, und die Sowjetunion solle nicht dagegen auftreten.
Es ist anzunehmen, daß die Westmächte bereit sind, ihre Truppen in Westberlin einzuschränken, aber sie wollen ihre Zustimmung als Druckmittel benutzen, um Zugeständnisse in der sogenannten Rechtsfrage zu erhalten.

Genosse Sorin erklärte, auf der letzten Plenarsitzung schien es, als ob der Westen eine Verschärfung der Lage auf der Konferenz anstrebe. Aber die von Gromyko gestellten zwei Fragen waren ein Signal und wurden von den Westmächten verstanden. Außerdem sind sie offensichtlich beunruhigt infolge der bevorstehenden Reise einer Partei- und Regierungs-Delegation der DDR nach Moskau. Es war nicht ausgeschlossen, daß die Westmächte versuchen werden, die Verhandlungen in Genf hinauszuzögern und abzuwarten, was in Moskau geschehen werde. Sie scheinen jedoch die Möglichkeit, daß, wenn es in Genf nicht zu einer Vereinbarung bezüglich Westberlins kommt, die Sowjetunion und die DDR Maßnahmen ergreifen werden, zu fürchten. Anscheinend sei das Bestreben zu einer Vereinbarung vorhanden. Sorin sagte wörtlich: "Die Situation ist günstig".
Es wurde beschlossen, am Montag, um 16,00 Uhr, wiederum eine interne Aussprache der vier Außenminister bei Gromyko durchzuführen. Um 11.00 Uhr wird Loyd zu Gromyko kommen, um Probleme der Verhandlungen über die Einstellung der Kernwaffenversuche zu erörtern. (Am gleichen Tage, d. h. am 8. Juni, werden in Genf die Verhandlungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion - d. h. der Atommächte - fortgesetzt werden). Bei der Absprache über die Zusammenkunft zwischen Gromyko und Loyd konnte festgestellt werden, daß Loyd mit Herter beriet, ob diese Zusammenkunft angenommen werden soll und ob Loyd allein gehen solle. Da nunmehr Loyd allein kommt, ist anzunehmen, daß die Westmächte noch nicht bereit sind, Vereinbarungen auch in dieser Frage zu treffen, sondern in gewissem Sinne ihr Verhalten auf der Außenministerkonferenz und in den Verhandlungen über die Einstellung der Kernwaffenversuche ausbalancieren wollen.

Bemerkung:
Die Reise nach Moskau wirkt unmittelbar positiv auf die Genfer Außenministerkonferenz ein. Es wäre angebracht, bei erster passender Gelegenheit den Druck insofern zu verstärken, als erklärt wird, es gäbe Zweifel am Verständigungswillen der Westmächte in der Berlin-Frage und daß möglicherweise die sozialistischen Staaten ihre Konsequenzen ernsthafter ins Auge fassen müßten.
Die von Genossen Sorin genannten Möglichkeiten einer Verständigung enthalten meiner Meinung nach eine Reihe von Gefahren. Inwieweit diese Befürchtungen zutreffen, wird im Laufe der nächsten Tage sichtbar werden.

(SAPMO-BArch, DY 30/NL90/464)