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Geliebt!
(Predigt zum 6. Sonntag der Osterzeit (Muttertag), gehalten in der Jesuitenkirche am 13. Mai 2012 um 11.00 Uhr )

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2012-05-16

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Es ist ein altes, ein fast schon archaisches Märchen. Das Märchen von einem Holzpferd. Es lebte länger im Kinderzimmer als irgendjemand sonst. Spielzeuge kamen und gingen. Immer wieder ersetzten die modernen Sachen jene Spielzeuge, die nicht mehr up to date waren. Nur das Holzpferd blieb. Es war so alt, so schäbig, so abgegriffen, dass es fast schon wiederum interessant geworden ist: Interessant für Besucher, interessant für die Kinder selbst. Eines Tages lag ein Stoffhase Seite an Seite mit dem alten Holzpferd. Der Stoffhase war neu im Zimmer. Er war auch neu gemäß der Spielzeuglogik: mit modernsten Tricks ausgestattet, in heutigen Farben gestylt, erlebnishungrig. Ein Kind der Werbung, geradezu lechzend nach Anerkennung seines Wertes und nach Entdeckung des Innovationspotenzials, das in ihm - dem letzten Schrei der Spielzeugmode - verborgen war. - „Du“ - fragte der Stoffhase das alte Holzpferd eines Tages, „kannst Du mir sagen, was wirklich ist? Bedeutet es, Dinge in sich zu haben, die summen oder Kleider zu haben, die auffallen?“ - „Wirklich? Wirklich!“ - antwortete das Holzpferd, „wirklich ist nicht, wie man gemacht ist. Wirklich ist, was an einem geschieht. Wenn ein Kind dich liebt für lange, lange Zeit, dich liebt nicht nur, um mit dir zu spielen, dich liebt nicht nur, um vor anderen Kindern anzugeben und zu protzen, sondern dich wirklich liebt, dann wirst Du wirklich!“ - „Tut es weh? - frage der Stoffhase. - „Manchmal schon!“ - antwortete das alte Holzpferd. „Wenn du aber wirklich bist, wirklich wirklich, dann hast du nichts dagegen, dass es weh tut!“ - „Geschieht es auf einmal?“ - wollte der Hase wissen, „geschieht es so, wie wenn man aufgezogen wird?“ - „Nein! Es geschieht nicht auf einmal“ - sagte das Holzpferd.  „Du wirst sehen, es dauert lange, sehr lange sogar. Das ist auch der Grund, warum es nicht oft an denen geschieht, die zum Wegwerfen gekauft werden. Oder aber, die schön gehalten werden müssen, die zu teuer sind, deswegen bloß ausgestellt werden, damit die Kinder mit ihnen prahlen können. Nein! Wirklich. Das geschieht nicht auf einmal. Es ist kein Event. Es raubt dir auch nicht den Atem in einem Augenblick. Es geschieht langsam und tagtäglich. Und im Allgemeinen sind zur Zeit, da du wirklich sein wirst, schon die Augen ausgefallen, du bist wacklig in den Gelenken, ein bisschen schäbig im Aussehen, oder gar hässlich. Die Farbe blättert ab und die Kleider sehen altmodisch aus. Aber diese Dinge sind überhaupt nicht wichtig. Denn: Wenn du wirklich bist, kannst du nicht hässlich sein! Ausgenommen in den Augen von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben.“ - „Ich glaube, du bist wirklich“ - sagte der Stoffhase ganz leise und bereute es sofort. Es war ja politisch nicht korrekt, was er da sagte, deswegen bereute der Hase es sofort. Das alte Holzpferd könnte doch empfindlich sein, seines Alters wegen und seines Aussehens, der vielen Mängel, die man doch auf den ersten Blick sah.  Aber das Holzpferd lächelte und wiederholte nur: „Wirklich ist nicht, woraus man gemacht ist, sondern, was an einem geschieht. Die Liebe macht wirklich!“

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Liebe Schwestern und Brüder! Liebeshungrig! Liebeshungrig sind wir alle. Menschen, die am laufenden Band eine entsetzliche Erfahrung machen: Wir sind ersetzbar. Austauschbar, wie die Spielsachen in einem überfüllten Kinderzimmer. Ersetzbar im Büro, an der Kasse des Supermarktes, im Nachrichtenstudio, von der Reinigungsfirma schon ganz zu schweigen. Austauschbar sind wir als Arbeitskräfte: statistisches Material zur Vollbeschäftigungslogik oder aber der Arbeitslosenstatistik. Eine unwirkliche Wirklichkeit der Arbeitsmärkte, der Finanzkapitalströme, der internationalen Politik umgibt uns. Austauschbar in der Öffentlichkeit flüchten wir uns ins Private, um dort dieselbe schmerzhafte Erfahrung zu machen. Auch für unsere Mitmenschen sind wir ersetzbar. Mein Nächster kann auf mich verzichten, genauso wie meine Kinder und auch die Eltern. Von den Lebenspartner schon ganz zu schweigen.

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„Gott sei Dank, dass es so geworden ist“, werden die 68-er einwenden und den Roman von Peter Handke in Erinnerung rufen. Um eine Alternativgeschichte zu unserer Story vom alten Holzpferd und dem neuen Stoffhasen zu erzählen. Vor vierzig Jahren schrieb Handke eine erschütternde Biographie seiner Mutter. „Wunschloses Unglück“ - zeichnete nicht nur die harte Realität des Krieges und der Nachkriegszeit. Es erzählte vor allem davon, was an einem geschah. An der Mutter etwa ..., dem jungen Mädchen, das schwanger wird, einen Mann heiratet, bloß um dem Kind einen Vater zu schenken, dann einen Alkoholiker tagtäglich ertragen muss, sich dabei gar schlagen lässt und immer mehr in Depressionen verfällt, bis sie sich das Leben nimmt. „Wirklich ist, was an einem geschieht“, dachte auch Peter Handke und beurteilte deswegen das Leben seiner Mutter als den Inbegriff des Unglücks, des wunschlosen Unglücks. Und er zeichnete das Leben seiner Mutter als das Leben eines Opfers nach. Jeder Individualität beraubt, ging die Frau - wie die meisten Dorfbewohner - im rituellen Geschehen auf: gerade im religiösen Geschehen. Sie fragte sich nicht, ob sie glücklich ist. Sie funktionierte als Teil eines großen Ganzen. Denn: sie opferte sich für ihre Familie. Und sie tat dies bis in die Selbstzerstörung hinein. „Wenn das ‘wirklich’ sein soll?“, schrie entsetzt die 68-er Generation und ging auf die Barrikaden. Um einem ähnlichen Geschick zu entgehen, warfen die Töchter und die Söhne solch scheinbar wunschlos unglücklicher Mütter jene Opfermentalität über Bord, die ihrer Meinung nach das Glück verhinderte. Weil ihnen aber die Erfahrung der Hingabe mit solchen Opfern identisch zu sein schien, wurde auch die Hingabe nach und nach aus unseren Gesprächen verbannt. Und auch aus den pädagogischen Programmen. „Hingabe“ schien ja der erwünschten und ersehnten Selbstverwirklichung im Wege zu stehen!

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Keine Frage - liebe Schwestern und Brüder: der Kulturumbruch steigerte unser aller Lebensqualität enorm. Nur das Unglück ist nicht verschwunden. Höchstens der Aspekt des „Wunschlosen“. An die Stelle des wunschlosen Unglücks trat lediglich die Steigerung der Wünsche und der Ansprüche und auch die emsige Bemühung, sich all die Wünsche auch zu erfüllen. So füllt sich auch das Spielzimmer unseres Lebens mit all den Spielzeugen, die wir uns ja problemlos leisten können. Mit mechanischen und lebendigen Spielzeugen, gestylt nach neuesten Trends und Moden, produziert nach dem letzten Stand der Technik, erzogen nach den Mechanismen der Werbung. Doch all der emsige Wechsel macht uns nur die alte Frage des Stoffhasen schmerzhaft bewusst: „Was ist wirklich?“ Und immer und immer wieder dämmert in uns die Antwort des alten Holzpferdes: „Wirklich ist, was an mir geschieht!“ Die erfahrende Hingabe an mich macht mich erst wirklich. Erst da fange ich an zu leben.

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Eingeschlossen im Gefängnis meiner selbst, eingeschlossen im Gefängnis meiner Wünsche nach Selbstverwirklichung, lechze auch ich nach Bestätigung, nach Akzeptanz. Suche ich nach Menschen, die mir zuhören, mir das Gefühl geben, sie nehmen mich ernst, so wie ich bin. Ohne die Maske des tollen Hechts, des mit dem Lauf der Zeit Schritt haltenden Mitarbeiters, des erfolgreichen Managers. Ohne die Maske des alle Wünsche erfüllenden Partners. Millionen und Abermillionen von Zeitgenossen gehen im ritualisierten Geschehen der psychologischen und psychiatrischen Beratung auf und der scheinbar spontanen und doch zwanghaften Gesprächen an den Theken unzähliger Bars in den Kneipen unserer Großstädte. Dort wird eigentlich nur eines sichtbar: Liebeshungrig sind wir! Wir wollen geliebt werden. Wir wollen Hingabe erfahren, koste es - so paradox es klingen mag - was es wolle. Selbst unsere Streitsucht kann als unüberhörbarer Schrei nach Liebe gedeutet werden: „Ich will doch auch gehört werden, geschätzt, akzeptiert“.

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„Was ist wirklich?“ - fragte der Stoffhase. „Wirklich ist das, was an dir geschieht“ - sagte das alte Holzpferd und liefert uns damit eine Interpretationshilfe für den tieferen Sinn des Wortes Gottes, das uns heute trifft. „Nicht darin besteht die Liebe Gottes, dass wir Gott geliebt haben“, dass wir uns im Stress der Frömmigkeit selbstverwirklichen oder aber im alltäglich katholischen Bravsein verharren. Liebe besteht darin, dass ER uns liebt und wir erst so wirklich werden. Wirklich mit all den Kanten, mit Dreck und Speck, mit Haut und Haaren. Wirklich mit all den Verletzungen, mit wackligen Gelenken und noch wackligeren Biographien. Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt, sondern dass er uns geliebt hat. Dass er uns das Leben schenkt, jeden von uns beim Namen nennt: „Mein bist du. Unverwechselbar. Nicht ersetzbar. Selbst dann nicht, wenn du allzu sehr dein „Eigen“ wirst werden. Nicht ganz so, wie ich mir das vielleicht wünschen würde. Ich liebe dich ja - selbst in deinem Egoismus, selbst in deiner Sünde, selbst im Abgrund, in den du hineinfällst. Selbstverschuldet hineinfällst. Selbst da liebe ich dich. Denn: ich habe dich erwählt, nicht bloß, um mit dir zu spielen, nicht um mit dir und deinem glänzenden Erfolg anzugeben und auch nicht, um mich am Skandal deines Lebens zu ergötzen. Nein. Ich liebe dich so wie du bist. Und ich liebe dich gar in deiner Verweigerung, deiner Aggression, deinem Zynismus, deiner Gewalt. Gewalt, die es schafft, jene Arme, die dich umarmen wollen, anzunageln, sie zu kreuzigen.“

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Liebe Schwestern und Brüdern, diese Liebe, die an uns ja laufend geschieht, macht uns wirklich. Nicht unsere kleinen Bemühungen, uns selbst zu verwirklichen, die übrigens auch nicht jenseits der uns wirklich machenden Liebe Gottes geschehen. Und am Rande sei nur noch vermerkt: Erich Fromm hat in seiner „Kunst des Liebens“ auch über die mütterliche Liebe geschrieben und sah in ihr jene Liebe, die das Kind liebt, ganz gleich was geschieht. Also wirklich liebt, deswegen auch das Kind wirklich werden lässt. Es könnte sein, dass Fromm auch in die Schule des alten Holzpferdes gegangen ist, oder aber, was sicherer zutrifft: in die Schule des uns alle liebenden Gottes. Dort sind ja auch all die Mütter groß geworden. Und nicht nur die Mütter. Wir alle, die wir ja „wirklich“ sind.

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