University Logo

Das Doppelgebot und das Gleichnis: zur Vielschichtigkeit der Logik des "barmherzigen Samariters"

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2010-08-17

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

1
Paragraph Icon

"Da sieht man es wieder: die Scheinheiligkeit der Frommen. Es ist doch klar: von der offiziellen Kirche ist wenig zu erwarten. Hoffnungslos klerikal diese Pfaffen: Ganz gleich ob katholisch, evangelisch, oder jüdisch, ob Levit oder Priester. Alle Religionsvertreter seien im Grunde gleich. Die Ignoranz dieser Kultpersonen ist doch kaum zu übertreffen. Machen zwar große und fromme Worte, wissen über Regel und Gesetze Bescheid. Doch... wenn es darauf ankommt, schauen sie weg, gehen vorbei an dem halbtotgeschlagenen Mann!" So oder ähnlich würden die militanten Atheisten reagieren auf den Text, den wir gerade gehört haben. Und auch die heutigen Kirchenkritiker und Kirchenfresser wären da mit von der Partie. Denn: das heutige Evangelium scheint wirklich einen kräftigen Seitenhieb gegenüber den offiziellen Kirchenvertretern zu versetzen. "Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zur Stelle; er sah ihn und ging weiter." (Lk 10,31f)

2
Paragraph Icon

"Eben!" Eben, wird der brave, traditionell erzogene Kirchengänger einwenden. "Jesus hat doch nicht den Papst im Sinn gehabt und auch nicht die Bischöfe, von den vielen Dorfpfarrer schon zu schweigen. Er sprach doch ganz klar vom jüdischen Tempelpriester. Die Gesetzestreuen Juden also, die legalistische Religion des Judentums hat er im Visier gehabt, aber doch nicht die katholische Hierarchie, die er ja selber eingesetzt hat." - "Um Gottes willen!", werden da die liberalen Theologen einwenden und entsetzt den Kopf schütteln über so viel an Antijudaismus und Antisemitismus und blindem Hierarchiegehorsam im traditionellen Katholizismus. Zwar nicht so radikal wie die modernen Atheisten werdenaber auch sie die Kultpersonen ins Visier nehmen aber auch die Dogmen. Sie werden vom heutigen Evangelium klar die Option für die Außenseiter herausgehört haben (schließlich waren die Samariter für die Juden schlimmer al Ausländer, Ungläubige und Götzendiener). Die liberalen Christen werden demnach die Option für die Außenseiter herausgehört haben und auch die Option für die Opfer. Worum es da im Gleichnis geht - so würden sie folgern - sei doch die Ethik. "Helfen soll man dem anderen Menschen, alles andere ist doch bloß Beiwerk! Ob Priester oder Levit, ob katholisch oder jüdisch, oder gar buddhistisch - wer schert sich noch darum in der modernen Welt. Schauen wir, dass wir zu einer guten Ethik finden."

3
Paragraph Icon

Liebe Schwestern und Brüder, so unterschiedlich diese drei Zugänge zum heutigen Evangelium auch sein mögen: der Zugang der Atheisten, der Zugang der traditionellen Katholiken und der Zugang der liberalen Christen, sie alle haben eines gemeinsam: einen gewaltigen Schuss an Selbstgerechtigkeit. Den Mechanismen unserer Öffentlichkeit entsprungen sucht diese Haltung nur noch nach den "Schlimmen". "Who is the bad guy in the story?" Wer ist der Bösewicht in der Geschichte? "Die Anderen natürlich. Die Anderen, die sind schlimm! Die Priester eben, zumindest die Priester der anderen Religion, oder gleich alle religiösen Menschen. Die Scheinheiligen, jene, die das Wasser predigen und den Wein trinken!" Das heutige Evangelium scheint einen kräftigen Seitenhieb gegenüber allen frommen Menschen zu versetzen. "Da sagte Jesus zu ihm" - dem gesetzestreuen Lehrer - "Geh und handle genauso." (Lk 10,37) Handle genauso, wie der Mann aus Samarien, ein Mann von dem wir nicht wissen, ob er fromm, oder lax, oder gar gottlos war, ob er gebetet hat oder nicht, ob er in die Kirche ging. Geh und handle genauso!

4
Paragraph Icon

Was soll aber der Prediger am heutigen Sonntag machen? Soll er in die alltägliche mediendominierte Kirchenbeschimpfung mit einstimmen? Soll er aufzeigen, wie denn die Kirche handelt oder auch nicht handelt? Oder soll er seinen Finger erheben und die moderne Passantengesellschaft geißeln? Oder beides tun... und gut da stehen, weil er wiederum den Anderen gezeigt hat, wie schlimm sie sind. Er, der doch einen kritischen Überblick hat. Oder soll er die Menschen, die noch gekommen sind, die auch vom schlechten Gewissen geplagt sind, weil sie doch auch der Teil dieser Passantengesellschaft sind, soll er ihnen die "aufopfernde Liebe" an den Hals hetzen, sioe dazu ermuntern, nicht wegzuschauen, sondern stehezubleiben, zu helfen, sich zu kümmern, Augen offen zu halten und all die Opfer der alltäglichen Gewalt nicht zu ignorieren, aber auch die Opfer der Kriege, die Opfer der Katastrophen weltweit? Tagtäglich neue Opfer.

5
Paragraph Icon

"Um Gottes willen, Herr Pfarrer. Haben sie den vom Helfersyndrom noch nichts gehört? Von den hilflosen Helfern und dem Burnout-Syndrom im Dienste der Nächstenliebe?" - flüstert dem Pfarrer eine Stimme ins Ohr. Die Stimme des Versuchers, oder des Heiligen Geistes? Wie viele Menschen wurden doch kaputt gemacht durch diese ständigen Ermunterungen? Im Dauerstress der aufopfernden Nächstenliebe haben ja Unzählige jegliche Selbstliebe verloren.

6
Paragraph Icon

Liebe Schwestern und Brüder. Die Klischeehafte Überziehung der Figuren im Gleichnis verleitet dazu klare Identifikationen vorzunehmen, die Rollen gleich aufzuteilen, mit dem Finger zu zeigen und so das Gleichnis als Waffe im ideologischen Kampf gegen die Anderen zu missbrauchen. Um die Fronten zu entschärfen sollen wir uns zuerst ehrlich fragen: Ist das Versagen von diesem Priester und dem Leviten wirklich so außergewöhnlich, wie es im ersten Moment zu sein scheint? "Ihr unmenschliches Verhalten ist in Wahrheit das allermenschlichste", formulierte schon im Jahr 1965 Eugen Biser. Geht es nicht auch uns oft genug wie den beiden? Um die Fronten zu entschärfen, sollen wir aber auch fragen, ob das Verhalten des Samariters dem Klischee der selbstaufopfernden Liebe entspricht? Er lässt sich zwar von der Not des Verletzten anrühren, verliert sich aber in seinem Hilfehandeln nicht. Bereits am nächsten Morgen setzt er seine Reise fort, geht also seinen Interessen nach, freilich nicht ohne für die weitere Pflege des Verletzten Sorge getragen zu haben. Doch gerade dieses Detail, die Tatsache, dass der Samariter für die Pflege den Wirt bezahlt, wirft ein neues Licht auf das Dilemma der aufopfernden Liebe. Zum einen erwartet dieser Mensch, jener der sich von der Not des Verletzten anrühren ließ, er erwartet von einem anderen Menschen nicht die selbstlose Hilfsbereitschaft. Nein! Er gibt dem Wirt Geld für seine Leistung. Zum anderen aber: mit dieser Delegierung der Verantwortung, einer Delegierung, die vergütet wird, nimmt er sich selber zurück, begrenzt seine Hingabe in der Wahrung berechtigter Eigeninteressen. Von Selbstausbeutung keine Spur also. Persönliche Anteilnahme und delegierte Übergage gehen hier Hand in Hand. Übergabe, die auf Hilfe anderer - auf bezahlte Hilfe anderer - vertraut. Heute könnten wir sagen: auch auf Hilfe institutionalisierter Strukturen. Die Hilfe wird also auf mehrere Personen verteilt, ja auch an institutionelle Strukturen gebunden. Und warum dies? Auch um das Gleichgewicht zwischen der Nächstenliebe und der berechtigter Selbstliebe zu wahren.  Woher wissen wir aber, was denn die berechtigte Selbstliebe bedeutet? Woher nimmt eine Gesellschaft von Räuber, Opfer und Passanten das Kriterium, das die Ausbalancierung beider Lieben ermöglicht? 

7
Paragraph Icon

Das heutige Evangelium verbindet die Nächsten- und Selbstliebe mit der Liebe Gottes. Gott möge man ungeteilten Herzen lieben, den Nächsten aber, wie sich selbst. Die Ausbalancierung all der drei Lieben sei der beste Garant für Humanität. Der verhängnisvolle Irrtum unserer Zeit legt uns nahe, die Nächsten- und Selbstliebe wären mittelfristig ausbalancierbar, ohne die Rückbindung an die Gottesliebe. Ethik wäre ohne die Religion mittelfristig möglich. Deswegen will die  Gesellschaft der Räuber, Opfer und Passanten das Gleichnis allein kennen und sie kann aus dem Gleichnis nur noch Seitenhiebe gegen kirchliche Hierarchien und gegen Religiosität heraushören. Oder aber die Kritik gegen die Räuber und Passanten. In ihrer Selbstgerechtigkeit weist sie natürlich diese Rollen den Anderen zu. Die christliche Auslegung - gerade in unserer Zeit - nimmt das ganze Evangelium wahr, d.h. auch die Rückbindung des Gleichnisses an das Doppelgebot. Weil Christen sich ehrlich eingestehen können, dass sie Anteil an allen Rollen haben, weil auch ich Anteil habe an der Rolle des Opfers, an den Rollen des Wirtes und des Samariters, aber auch an der Rolle der Räuber, weil wir uns dessen bewusst sind, dass es bei uns so viel an Zweideutigkeit gibt, wissen wir, dass wir eines eindeutigen Maßstabs bedürfen. Und dass kann nur die Leibe Gottes sein. Jene Liebe, die es uns ermöglicht, auf dem Weg zu bleiben. Ohne die korrigierende Liebe Gottes, werden wir immer der Versuchung der Selbstgerechtigkeit verfallen. Verblendet werden wir - wie die Räuber - über andere herfallen, in der Meinung mit unserem Tun leisten wir unserer Kultur den Dienst des Samariters, womit wir - liebe Schwestern und Brüder - wiederum bei den Anfangszeilen dieser Predigt angelangt sind. Und ich könnte sie zum zweiten Mal vortragen in der Meinung, ich sei für sie so etwas wie ein Samariter, während ich in Wirklichkeit dem Räuber gleichen würde, weil ich ihnen die Zeit stehle. Liebe also Gott mit ungeteilten Herzen, den Nächsten aber wie dich selbst! Vertraue, dass Gott, der dich bedingungslos liebt, dir den Maßstab für eine echte Selbstliebe schenkt. Durch seine Gnade.  Übrigens: diese hat sehr viel mit Vergebung deiner Schwächen zu tun. Und die Menschen, die vergeben können: sie fallen seltener über andere her.

© Universität Innsbruck - Alle Rechte vorbehalten
Webredaktion | Impressum

Powered by XIMS