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Otto Neururer und seine österlichen Augen
(Zum 70. Todestag des Tiroler Märtyrers am 30. Mai 2010)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2010-06-07

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Mit vierzehn war ich zum ersten Mal in Auschwitz und auch in Majdanek - dem zweitgrößten deutschen Vernichtungslager auf polnischem Boden. Gleichsam zweimal stand ich vor einem Berg menschlicher Brillen, vor den Brillen der vergasten und eingeäscherten Opfer. Der große Berg aus menschlicher Asche, der in Majdanek unter einer Betonkuppel zu sehen ist, hat auf mich keinen so bedrückenden Eindruck gemacht wie die Brillen. Jene Brillen, die keine Perspektive mehr fokussieren, Brillen, die wahllos auf einem Haufen liegen, etliche Rahmen ohne Gläser, etliche Gläser zerbrochen, Brillen, die niemandem mehr gehören und eigentlich auch an niemanden mehr erinnern. Brillen, die nur noch die Statistik von Hunderttausenden von namenlosen Opfern ins Bild setzen - ein erhobener Zeigefinger und eine Anklagegeste! Der Berg anonymer Brillen soll ein Mahnmal für die nachfolgenden Generationen bleiben. Ein Mahnmal und nicht mehr!

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Nicht so die Brille von Otto Neururer, die Brille, die über den Tod des Trägers hinaus ihre Identität behält, eine Brille, die nicht durch die Logik der Statistik entwertet wird, eine Brille, die eine Perspektive fokussiert, eine bestimmte Perspektive. Auf der Einladung zur Eröffnung der Fotoausstellung “Spuren bleiben” von Heinz Jörgen Hafele bietet sich diese Brille geradezu an, so als würde sie sagen: “Nimm mich! Nimm und lies! Nimm und schau!” (Es handelt sich dabei um die am 21. Mai 2008 im Haus der Begegnung in Innsbruck eröffnete Fotoausstellung).  Lies die schwer lesbare Kurrentschrift, lies die Briefe, die aus dem KZ geschrieben wurden - an dem Ort des Zusammengepferchtseins - Briefe, die, obwohl sie aus dem KZ geschrieben wurden, einzelne Menschen mit Namen ansprechen, scheinbar abgebrochene Beziehungen lebendig erhalten und von der Sehnsucht nach der Liebenswürdigkeit des banalen Alltags geradezu zu atmen scheinen, und dies an den Orten der brutalen Gewalt. “Nimm mich und  schau!” - Schau die Adressenkarten mit den Nummern des Häftlings 32 615 aus Dachau und des Häftlings mit der Nummer 4757 aus Buchenwald an. Schau dir den Zensurstempel und den Drahtzaun an. Schau dir die Naturbilder an, die von der Vergänglichkeit zeugen, fokussiere aber deine Aufmerksamkeit auf die Augen! Fokussiere sie auf die Augen der Kinder, auf die scheinbar geschlossenen Augen, die konzentrierten Augen der Betenden, die verspielten Augen der Tanzenden, die dich liebenswürdig anlachenden Augen. Augen, die scheinbar noch nie durch Angst gelähmt wurden, nie von der Lüge betrogen: die unverstellten Augen der Kinder aus dem Götzner Kindergarten.

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Durch den Fokus der Kamera des Künstlers geradezu zum Fokus der Ausstellung gemacht, bietet sich die Brille Otto Neururers als Sehhilfe an. Mit Hilfe dieser Brille, jener unverwechselbaren Spur des Lebens des im KZ ermordeten Märtyrers, der unverwechselbaren Reliquie, im Fall des Otto Neururer möchte man fast sagen: mit Hilfe dieses Realsymbols, eines Symbols, das die Person, für die das Symbol steht, gegenwärtig setzt, mit Hilfe dieser Brille eines Pfarrers wird man wohl zuerst einen Blick in das liturgische Direktorium hineinwerfen und entdecken, dass am heutigen Tag der Gedenktag des jüngst selig gesprochenen Opfers des Nationalsozialismus gefeiert wird: der Gedenktag Franz Jägerstätters, der seinem Gewissen folgte. Weil er im Nationalsozialismus einen Zug sah, der in die Hölle fuhr, die schlimmste antichristliche Macht, verweigerte er den Eid auf Hitler. Am 6. Juli 1943 wegen “Wehrkraftzersetzung” zum Tod verurteilt, wird er am 9. August 1943 in Brandenburg enthauptet. Am 26. Oktober 2007 im Linzer Mariendom seliggesprochen, steht der Laie Jägerstätter als jüngstes österreichisches Kind des Himmels dem Götzner Pfarrer zur Seite.

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Die Brille des Pfarrers, der zur Zeit seines Studiums ein überdurchschnittlich begabter Student  gewesen sein soll, vor allem ein arbeitsamer Student, einer, den man gar zum Studium nach Rom schicken wollte (aus gesundheitlichen Gründen trat er zugunsten eines Jahrgangskollegen - des späteren Fürsterzbischofs Johann Geisler - zurück), die Brille des fleißigen Studenten, der sich dann als Priester die tägliche Lektüre theologischer Werke zur Pflicht machte: diese Brille, die sich auf dem Bild von Hafele als Sehhilfe anbietet, fordert gerade dazu heraus, sich nun im dritten Schritt auch die Biographie des Brillenträgers anzusehen. Denn die geschriebenen Biographien stellen selbst eine exzellente Spur dieses Lebens dar, oder sie verhelfen zur Spurensuche. Das liebenswerte Büchlein von Pfarrer Erwin Gerst über den Tiroler Märtyrerpfarrer mit dem Titel “Ich, die Brille” (Edition Tirol 1999) soll die jungen Menschen auf jene Helden aufmerksam machen, die “einfach still das Gute” tun und sich “durch nichts davon abbringen” lassen, “auch wenn es schwierig wird, und wenn sie deshalb angefeindet und verfolgt werden, halten sie es eben aus, und wenn es sein muss, bis zum Tod”. Der Altbischof von Innsbruck Reinhold Stecher, der von Otto Neururer auf die Erstkommunion vorbereitet wurde, hält “das Bauernbüblein aus dem Tiroler Bergdorf Piller” für einen solchen Helden. Und dieses Heldenleben und das Märtyrersterben wird visualisiert durch die Bilder der Firmlinge der Pfarren Ried-Kaltenbach und Uderns im Zillertal. Die Brille des Musterkatecheten animiert dazu, die Spurensuche in der Dokumentation “Pfarrer Otto Neururer. Ein Seliger aus dem KZ“, die von der Diözese Innsbruck im Jahr 1997 herausgegeben wurde, genauso wie in den “Zeugenaussagen über Leben und Tod des Tirolers Otto Neururer” von Wolfgang Pfaundler (im Innsbrucker Haymon Verlag 1987 erschienen) fortzusetzen. Vor allem aber finden wir die Spuren des Lebens von Pfarrer Neururer in der grundlegenden Biographie, die Pfarrer Helmut Tschol geschrieben hat (Tschol, der selber zur lebendigen Spur dieses Märtyrers wurde): “Otto Neururer. Priester und Blutzeuge” (im Tyrolia Verlag in der zweiten Auflage im Jahr 1983 erschienen). Dem emsigen Fleiß von Pfarrer Tschol verdanken wir den größten Teil des Sachwissens über den Götzner Pfarrer. Schlussendlich darf auch die vom Verein “Freunde der Wallfahrtskirche Götzens” herausgegebene Dokumentation nicht unerwähnt bleiben: “Im Gewöhnlichen außergewöhnlich gut“ systematisiert die Spuren in Schrift und Bild. Aus all den Büchern können nun die facta bruta, die Eckdaten dieser Lebensgeschichte schnell zusammengestellt werden.

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Am Fest der Verkündigung des Herrn (damals: Maria Verkündigung), also am 25. März 1882, wird Otto Neururer als 12. Kind einer Bauernfamilie in der alten Mühle am Piller geboren, 1907 wird er zum Priester geweiht. Er wirkt an verschiedenen Kaplanstellen, bemüht sich erfolglos um die Werktagsmesse und wird “Superkatechet” in Innsbruck. Schon da fällt auf, dass er dem Nationalsozialismus mit Skepsis gegenübersteht. 1932 notiert er: “Es heißt jetzt, gut ist, was dem deutschen Volk nützt, schlecht ist, was dem deutschen Volk schadet. Damit wird deutsches Blut und deutsche Rasse an die Stelle Gottes gesetzt, der allein die Norm für gut und schlecht ist und dem allein das zusteht. Darum ist das eine Irrlehre”. 1932 wird er Pfarrer in Götzens, wo er durch seine außergewöhnlich intensive Seelsorgearbeit auffällt. Im modernen Sprachgebrauch würde man sagen: Er war nicht jener Seelsorger, der bloß in das Leben seiner Pfarre involviert war, er lebte das, was das moderne Latein commitment nennt: Hingabe. Hingabe mit Haut und Haaren, bis in den Tod hinein. Da er die Zweithochzeit eines SA-Mannes mit einem seiner Pfarrkinder - einer jungen Frau, die zu diese Hochzeit gedrängt wurde - verhindert, wird er am 15. Dezember 1938 verhaftet. Die Anklage wirft ihm die “besonders hinterhältige Verhinderung einer deutschen Ehe” vor. Neururer meint beim Verhör im Gestapogebäude in Innsbruck: “Meine Herren! Machen Sie keine Umschweife, es geht nicht so sehr gegen mich als gegen den Glauben und die Kirche in unserem Land”. Als er am 3. März 1939 nach Dachau überstellt wird, findet er dort schon einige österreichische Priester vor. Pfarrer Rieser aus Bramberg in Salzburg erinnert sich: “Als Neururer kam, dachte ich mir, du armes kleines Pfarrerle, diese Hölle wirst du nicht aushalten”. Als er Ende September 1939 nach Buchenwald verlegt wurde, wurde er in der Liste der prominenten Häftlinge mit der folgenden Bemerkung geführt: “Katholischer Priester, hartnäckiger und hinterlistiger Gegner der NSDAP”, und er wird Ende Mai in den berüchtigten Bunker eingesperrt, weil er einem Häftling zur Konversion verholfen und die Taufe gespendet hat. An den Füßen aufgehängt - die Füße wurden mit Lammfellen umwickelt, um die Gewaltspuren zu verschleiern - stirbt er nach stundenlangem Todeskampf am 30. Mai um 15 Uhr (so die offizielle Todesmeldung, die Herzschwäche als Todesursache angibt). Das Begräbnis dieses ersten Priesters, der im KZ umgebracht wurde, findet einen Monat später am 30. Juni 1940 in Götzens unter der Leitung des apostolischen Provikars und späteren Märtyrers Carl Lampert statt. 1983 wird in Innsbruck der Seligsprechungsprozess eröffnet, am 24. November 1996 wird Pfarrer Otto Neururer in Rom selig gesprochen. So weit die facta bruta, die für den Historiker und Kulturtheoretiker interessanten Eckdaten dieser gewöhnlich-ungewöhnlichen Lebensgeschichte.

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Ihre Spuren bleiben! Unterscheiden sich diese Spuren aber von den Spuren, die andere Opfer des Nationalsozialismus hinterlassen haben? Die Brille des Intellektuellen, die nüchterne wissenschaftliche Perspektive und die unparteiisch dokumentierende Kamera werden zuerst die Antwort “Nein!” nahelegen. Eine solche Antwort ist nur am kleinsten gemeinsamen Nenner interessiert. Und dieser wird wohl heißen: “Opfer!”, Opfer eines menschenverachtenden Systems. Und in der Statistik werden alle Opfer gleich. Nach und nach verlieren sie ihre spezifischen Konturen, ihre Identität, dann auch ihre Namen. Abstrakte Denkmale, gegebenenfalls Berge von Asche und Brillen sollen an sie erinnern und die zukünftigen Generationen mahnen.

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Die Reliquie, die verbliebene Spur Otto Neururers, das Realsymbol seiner Person, das unvermischt, aber auch ungetrennt von und an seinem Gesicht haftet, am Portraitbild und an dem Heiligenbildchen, diese Brille, die der Künstler Heinz Jörgen Hafele auf der Einladung zur Fotoausstellung als Fokus, als Lesehilfe seiner Bilder präsentiert, diese Reliquie lenkt aber - und hier nähern wir uns den Zügen der Unverwechselbarkeit der Person an - unser aller Aufmerksamkeit auf jene Augen, die uns durch diese Brille anschauen: auf die Augen Otto Neururers, auf jene Augen, die von den Mithäftlingen als “gute, helle Augen” beschrieben wurden. Welche Botschaft vermitteln sie uns, den Menschen des 21. Jahrhunderts? Ist es die allgemein verständliche Botschaft, die auf das Auf und Ab im Leben fokussiert bleibt, auf Leben und Sterben, auf die Logik von Aufstieg und Fall und auf die Bemühung, sich trotz Misserfolg und einer scheinbaren Niederlage nicht aufzugeben? Wir kennen das alle aus unserer alltäglichen Erfahrung. Gerade dann, wenn man schon dabei ist, alles hinzuschmeißen, weil alle Türe zugeschlagen wurden, gerade dann öffnet sich doch meistens ein Fenster. Ganz unerwartet! Es geht ja im Leben immer weiter, wenn schon nicht in Götzens oder in Buchenwald, so doch irgendwo in der Welt. Wollen uns die Augen Neururers nur diese Botschaft vermitteln, so ganz nach dem Motto: “Selbst wenn du stirbst, vor allem für eine gerechte Sache stirbst, werden andere für dich leben, deine Freunde und Weggenossen. Sie werden dich nicht vergessen, so wie man mich nicht vergessen hat. Und wenn schon, so werden unter Umständen die Feinde dafür sorgen, dass man sich deiner  erinnert!”? Ist das alles, was uns diese Augen und auch dieser Tod zu sagen haben? Ist das alles, was das Gedenken an den Märtyrer heutzutage kulturpolitisch bedeutet?

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Exakt nach dieser Logik will die liberale Öffentlichkeit auch die Bedeutung des Bekenntnisses: “Auferweckt von den Toten” übersetzen. Die wissenschaftliche Brille, die sich diese Öffentlichkeit aufzusetzen pflegt, erlaubt ihr die Übersetzung: “Jesus lebt! Das heißt aber nichts anderes als: Die Sache Jesu geht weiter. Trotz aller Hindernisse. Trotz Kreuzigung und trotz Tod. Weil sich Menschen für dasselbe Programm einsetzen”. So ganz falsch ist diese Deutung zwar nicht, bringt sie doch ein wenig Licht in die Dunkelheit des Karfreitags und der Osternacht. Zum entscheidenden Kern des Geheimnisses von Ostern und damit auch zum entscheidenden Kern einer christlich geprägten Haltung der Hingabe des Lebens im Martyrium vermögen solche Deutungsversuche nicht ganz durchzustoßen. Und warum dies?

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Die Alltagserfahrung von Misserfolg und Glück, von Aufstieg, Fall und Neubeginn, von der mich lähmenden Decke, die mir auf den Kopf fällt, von den klar bilanzierbaren Hoffnungen und dem Zusammenbruch dieser Hoffnungen: All das stellt etwas dar - wie die Hilfskrücken. Hilfskrücken, auf denen sich die gebrechliche menschliche Kreatur, jenes Wesen, das unter all dem Lebendigen dieser Welt allein um seine Sterblichkeit weiß, ihrer menschlichen Hoffnung zu vergewissern trachtet. All diese Erfahrungen bereiten den Boden vor, auf dem der Samen des Glaubens keimen kann. Was soll das heißen? Erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs zum Thema “Osterglaube der Jüngerinnen und Jünger im Neuen Testament”.  “Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr!” ( Joh 21,7) “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar”, sagte der Fuchs zum Kleinen Prinzen bei Saint-Exupéry. “Die Frau meinte, es sei der Gärtner und sagte zu ihm (vgl. Joh 20,11-18): Herr, wenn du ihn weggebracht hast .., so sage mir, wo du ihn hingelegt hast. Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf hebräisch: Rabbuni!” Jene Frau, die viel geliebt, wenig moralisiert, aber eine Menge gelitten hat, Maria von Magdala, sie vermag im vermeintlichen Gärtner den auferweckten Christus zu erkennen. “Man sieht nur mit dem Herzen gut!” Worauf will ich hinaus? Auf dem Boden der gleichen Erfahrung von Misserfolg, Glück und der Vergänglichkeit des Lebens öffnet das Evangelium einem Jünger die Augen ... einer Jüngerin. Einem bestimmten, einer bestimmten ..., jenen, die Jesus liebte. Nur der Geliebte vermag die Identität des Fremden zu erkennen. Sie und er erkennen ihn. Ihr Herz/sein Herz fängt an zu brennen. Ihm/Ihr werden die Augen des Glaubens geschenkt, jenes Glaubens, der in all den Alltagserfahrungen von Pechsträhne und Glück, vom Zusammenbruch der Decke über meinem Kopf und dem Hoffnungsschimmer, dass es doch weitergeht, vom qualvollen Sterben, dem Abschiednehmen von jenem Menschen, den man liebt, von der Sprachlosigkeit des scheinbaren Falls ins Nichts und der winzigen Hoffnung, dass Liebe doch stärker ist als der Tod, noch etwas anderes zu entdecken vermag. Dem Jünger, den der Herr liebte, und Maria von Magdala werden österliche Augen geschenkt, Augen, die in all den Alltagserfahrungen von Bruch und Abbruch die Kontinuität zu sehen vermögen. Jene Kontinuität, für die nicht sie selber mit ihrem liebenden Erinnerungsvermögen und ihrer Hoffnung Sorge tragen, sondern der lebendige Gott selber. Er, der große Liebhaber des Lebens zeichnet für die Kontinuität verantwortlich. Er, der in Jesus von Nazareth auf das menschliche Niveau herabgestiegen ist, Mensch, ja Mitmensch wurde und dem Sterbenden ein Sterbender. Und warum dies? Um Sterbende zu begleiten. Und wohin? Bloß zurück ins Leben? Zurück in die von Bruch und Abbruch gezeichnete Existenz? Der Sohn Gottes wurde Mensch, stieg in die von Gewalt und Tod gezeichneten Abgründe menschlicher Existenz hinab, um Fallende aufzufangen, um Scheiternde zu halten, um Sterbende durch den Tod hindurch in das göttliche Leben zu integrieren. Der Liebhaber des Lebens ist in Christus in den Tod gegangen, ist auch als Auferweckter erschienen, hat einigen, hat etlichen die österlichen Augen geschenkt, dass sie ihn erkennen und Zeugnis ablegen, damit auch andere Menschen auf dem Weg der Erkenntnis mitziehen - so wie Maria von Magdala und der Jünger, der den Herrn erkannte, Petrus mitgezogen haben, den Versager par excellence. Und so wie dann von Generation zu Generation bis in unsere Zeit hinein Menschen mitgezogen werden, weil ihnen österliche Augen geschenkt werden und sie die Gnade bekommen, das Wesentliche zu sehen: mit dem Herzen zu sehen.

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Kehren wir noch einmal zur Reliquie - zur Brille - zurück, zu jener Spur, die geblieben ist, zum Realsymbol der Person und zu den Augen, die uns durch diese Brille anblicken. Es sind österliche Augen, Augen des Glaubens, Augen, die den Auferweckten erkannt haben, und uns allen damit mehr vermitteln wollen als bloß eine allgemein verständliche Botschaft: Es geht im Leben immer irgendwie weiter. Also bloß nicht verzagen, sondern weitermachen, vor allem dann, wenn es um die richtige Sache geht. Die österlichen Augen des Märtyrers Otto Neururer wollen uns dasselbe mitteilen, was Maria von Magdala den Jüngern mitteilen wollte, und was auch der Jünger, den Jesus liebte, Petrus - diesem Versager - mitteilte, als er zu ihm sagte: “Es ist der Herr”. Und was bedeutet das? Für die Jüngerinnen und Jünger Jesu bedeutete diese Erfahrung der österlichen Augen eine Neupositionierung ihres ganzen Lebens. Der Auferweckte nahm die Beziehung zu ihnen wieder auf - eine Beziehung, die durch den Tod unterbrochen worden war. Nicht sie waren es, die an ihn dachten, die sich um die Erinnerung an ihn bemühten. Nicht sie sorgten für Denkmale und für Spuren. Er war es! Er stiftete die Beziehung neu ..., aus der Kraft des lebendigen Gottes. “Da gingen ihnen die Augen auf!”, deswegen erscheint ihnen ihr eigenes Leben in ein neues Licht gerückt, vor allem aber ihr eigener Tod. Weil der Auferweckte die Beziehung zu ihnen wieder aufgenommen hat, sind sie in ihrem alten Leben, dem Leben, das von Vergänglichkeit, Sünde und Tod geprägt war, sie sind in diesem Leben eigentlich schon gestorben. “Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind?”, fragt Paulus im Römerbrief (Röm 6,3). “Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben”. (Röm 6,4). Mehr noch: Die österliche Augen erlauben es, die ganze Schöpfung neu einzuschätzen. “Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden”. (2 Kor 5,17) Und wer in Christus ist, der ist eine neue Schöpfung, selbst mitten in der Hölle eines Konzentrationslagers.

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Otto Neururer ist diese Gnade zuteil geworden, dass er schon seine Taufe und dann auch seine Priesterweihe als Bindung an das Geschick Christi nicht nur verstanden hat - das tun die meisten Christen, sofern sie ein bisschen im Katechismus unterrichtet wurden und das tun auch die meisten Priester - Neururer hat die Sakramente der Taufe und der Weihe nicht nur als Bindung  verstanden, sondern auch erlebt: Nicht ich lebe ... Nein! Es lebt Christus in mir. Und durch mich. Christus, der durch mich die Haltung der Hingabe lebt, die Haltung der Totalhingabe. Noch einmal: Die österlichen Augen erlauben es, die Welt und die Schöpfung im Modus der Versöhnung zu sehen und dies selbst mitten in der Hölle eines Konzentrationslagers. “Wie ratlos blickten seine guten und hellen Augen auf all das Elend und die Qual, auf all die Bosheit und Gemeinheit, die ihm im Lager begegneten. Er konnte die teuflische Bosheit nicht fassen, der er sich plötzlich preisgegeben sah. Er konnte es einfach nicht glauben, und wenn er es zehnmal selber erleben mußte.” War er denn blind? Abgehoben von der Wirklichkeit? Ein hoffnungsloser Fall dessen, was man Realitätsverweigerung nennt? Ein Fall für die Psychiatrie also? Der KZ-Mithäftling, der Münchner Priester Alfred Berchtold setzt seinen Bericht fort: “Er war so zutiefst von der Güte der Menschen überzeugt, dass er immer glaubte, er müsse plötzlich aus diesem hässlichen, furchtbaren Traum erwachen. Immer wieder sagte er mit einem ungläubigen kindlichen Staunen: ‘Ja, können die Menschen so schlecht sein?’” Der verstorbene Innsbrucker Dogmatiker Raymund Schwager hat in seiner Durchbuchstabierung der Erlösungslehre der Unterscheidung zwischen Opfer und Täter eine fundamentale Bedeutung beigemessen. Demnach habe Jesus im Sünder, auch in seinem direkten Gegner primär nicht den bösen Täter gesehen, sondern das Opfer. Das Opfer seiner eigenen Taten, das Opfer der Geschichte, das Opfer der Verblendung. Selber zum Opfer geworden identifizierte sich Jesus mit den Opfern, auch mit den Opfern in seinen Gegnern: “Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun”. Weil sie verblendet sind und zum Opfer ihrer verblendeten Logik werden, können sie gar nicht so schlecht sein, wie sie durch ihr Tun nach außen erscheinen. Ein Dialog zwischen Neururer und Pfarrer Berchtold weist darauf hin, dass Neururer die KZ-Schergen nicht dämonisierte: Als er zu Unrecht vom Kapo bestraft wurde - und dies gerade weil er redlich gearbeitet und ihn deshalb die Kräfte verlassen hatten, und zwar  ausgerechnet in dem Moment, als der Kapo herschaute - musste Neururer über Mittag Strafe stehen. Neururer war traurig. Nicht die Strafe schreckte ihn, die Ungerechtigkeit konnte er nicht begreifen. “- Otto? Glaubst Du in Dachau an Gerechtigkeit? Der Kapo ist doch gekommen, um ein Opfer zu suchen. Nun bist du eben eines geworden. - Du glaubst nicht, dass er meint, dass ich faul bin? - Ob du faul oder fleißig bist, ist ihm ganz egal. Wenn er zu einem Arbeitskommando kommt, will er ein paar Opfer haben. Da wartet er so lange, bis einer auffällt. Dann ist er befriedigt. - Geh, so schlecht kann ein Mensch doch gar nicht sein” (Helmut Tschol, Otto Neururer. Priester und Blutzeuge. Innsbruck1983, 65). Der Versuch in jedem, selbst im schlimmsten Peiniger etwas Positives zu sehen, stellt eine Gnade dar, ist das Ergebnis der Perspektive der österlichen Augen, welche das Leben mit dessen Widersprüchen im Modus der Versöhnung wahrnehmen, und deswegen im Sünder letztlich das Opfer der Verblendung sehen: “Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.” Die spärlichen Zeugnisse solchen Handelns mitten in der Hölle sind durch die Haltung des Gebets zu ergänzen. Weil Neururer die Sakramente der Taufe und der Priesterweihe als Bindung an Christus erlebte, verstand er schon seine bloße Präsenz als Priester - und dies in der Gemeinde, in der Schule und auch im KZ - als Beitrag zur Wandlung des Bösen in der Welt. Deswegen betete er, und er betete viel. Deswegen feierte er die sakramentale Wandlung und spendete das Sakrament der Taufe, auch dann, wenn dies den sicheren Tod für ihn bedeuten konnte. Es hat in den letzten Jahren für mich keinen überzeugenderen Versuch gegeben, diese Logik bildhaft einzufangen, als den Film “Der neunte Tag” von Volker Schlöndorff. Erlauben Sie mir nun einen Exkurs zu diesem Film: Der Film soll uns helfen, jene Lücken in unserer Vorstellungskraft zu schließen, die aufgrund des fehlenden Materials zum Thema “Otto Neururer im KZ und Priesterexistenz im KZ” immer noch da sind.

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Der Film basiert auf den Erinnerungen von Jean Bernard, eines luxemburgischen Pfarrers. 1945 publizierte er seine Erinnerungen aus Dachau: Am 6. Januar 1941  wurde er von den Deutschen verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Im Februar 1942 bekam er mit der lakonischen Bemerkung: „Was stehst du so dumm da, du Saupfaff, du blöder? Geh heim deine Muter begraben!“ zehn Tage „Urlaub“ vom KZ. Überraschenderweise nützte er die Gelegenheit nicht, um zu fliehen, sondern er kehrte nach Dachau zurück. Seine Erinnerungen sollten zum Verzeihen motivieren: „Verzeihen müssen wir. Und zwar bewusst verzeihen, Aug in Auge mit dem ganzen Horror des Geschehenen. Nicht nur, weil sich auf Hass nichts aufbauen lässt: kein neues Europa und keine neue Welt. Sondern vor allem Dem zu Gebot und zulieb, vor Dem wir selbst, Opfer und Henker, nur rechtlos armselige Schuldner sind“. Wie ein roter Faden durchziehen Berichte über die im Gefängnis und auch im Lager selbst gefeierte Eucharistie die schriftlichen Aufzeichnungen des Pfarrers. Das Sakrament wird als Quelle der Kraft und als Quelle der Versöhnung in Erinnerung gerufen. Inmitten des Grauens wurde also Kirche durch das Erleiden des Opferschicksals gelebt, auf sakramentale Art und Weise fand die Transformation des Bösen statt: „’Hoc est enim Corpus meum.’ Ich schaue auf die beiden Stückchen Brot in meiner Hand, und die Tränen rollen mir nur so die Wangen hinunter, während derjenige, für den wir alles leiden, in unsre Mitte kommt, während Hunderte von Priesterherzen ihr Opfer mit dem des Heilandes vereinen zu einem einzigen, das ganz gewiss neue Fäden zwischen Himmel und Erde spinnt. Bei der heiligen Kommunion legen die Priester die kleinen Partikel zusammen; es kommunizieren dann die Nichtpriester, die ihnen ein Teilchen anvertrauten. Es ist ein Meer von Trost, das sich über die Versammelten ergießt. Trost und Hoffnung und Kraft zu neuem, freudig hingenommenem Leiden“.

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Otto Neururer war der erste “deutsche” Priester, der in Buchenwald gestorben ist. Wenn man sein Leben mit den Augen des nüchtern urteilenden Historikers betrachtet, wird man festhalten müssen: Sein verhältnismäßig früher Tod stand am Anfang einer erschreckend langen Reihe von Priestern, die ihr Leben in den KZs opfern mussten. Setzt man die Brille Neururers auf, betrachtet man die Sache theologisch: mit österlichen Augen sozusagen. So wird man sagen dürfen, dass das Leben der Priester im Lager sich nur in der Logik der Hingabe und der Stellvertretung erschließt. Diese Priester durchlebten stellvertretend für die christliche Geistlichkeit das schlimmste Martyrium in der Geschichte der Neuzeit. Von 2720 Priestern in Dachau starben 1034 - das sind 38%. 868 polnische Priester - also fast die Hälfte der insgesamt 1780 polnischen Geistlichen - kamen um, d.h. fast jeder zweite inhaftierte polnische Priester überlebte das Grauen in Dachau nicht. Der Film “Der neunte Tag” bringt die Perspektive der österlichen Augen in die Situation des KZ hinein - auf eine kaum zu überbietende Art und Weise zeichnet Schlöndorff nach, was der nicht reduzierbare Wert der Existenz der Priester im KZ war:

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„Das Geheimnis lass uns künden, das uns Gott im Zeichen bot ...“, stimmt der Priester Kremer - die Hauptfigur im Film - angesichts der Bilder vom Aufziehen eines Mitbruders auf ein Kreuz an. Gleich zu Beginn des Films wird die Spannung bis zum Äußersten ausgereizt. Die hinter den Scheiben der Baracke sichtbaren Priester - unter ihnen auf dem ersten Platz Kremer - sehen sich das makabre Spiel an. Einer der Priester wird von den SS-Männern zu einem Kreuz gezerrt. Auf sein Haupt wird eine Stacheldrahtkrone gesetzt. „Glaubst du also wirklich, dass es einen Gott gibt ... Und wo ist er?“, brüllt der SS-Mann den Priester an. Gewissermaßen als Antwort auf die Frage stimmen die Priester das Lied noch einmal an: „Das Geheimnis lass uns künden, das uns Gott im Zeichen bot, Jesu Leib für unsere Sünden hingegeben in den Tod. Jesu Blut, in dem wir finden Heil und Rettung aus der Not. Von Maria uns geboren, ward Gottes Sohn uns Menschen gleich, kam zu suchen, was verloren, sprach das Wort vom Himmelreich, hat den Seinen zugeschworen: Allezeit bin ich bei euch“. Auch im KZ gibt es österliche Augen: Mit ihrem Lied interpretieren die Priester das Gesehene und deuten das makabre Spiel um. In der Hölle des KZ verorten sie die Spuren von Ostern: Das in seiner Brutalität kaum zu übertreffende „Spiel der Gewalt“ wird durch das im Lied Gegenwart werdende „Spiel der Hingabe“ des Gottessohnes überblendet. Mit dem Gebet wollen sie einander - und auch dem Sterbenden - den Glauben stärken. Sie sind sich dessen bewusst, dass das makabre Spiel auch eine Stellvertretungsdimension hat: Jeder von ihnen könnte die Stelle des Gehängten einnehmen. Für die Henker stellt das Lied allerdings eine Herausforderung dar. Von der Bühne des Geschehens abtretend brüllt der SS-Mann: „Wer weitersingt, ist der nächste am Kreuz“.

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Die singenden Priester bringen das Martyrium ihres Mitbruders mit jenem Geschehen in Verbindung, das sie selbst gerade gefeiert haben. Die vorhergehende Szene des Films spielt in der Baracke. Abgeschirmt durch eine Reihe singender Priester (sie singen das Lied: „Wir lagen vor Madagaskar ...“) feiert ein junger Geistlicher Eucharistie. Von diesem Mysterium kündet dann der eucharistische Hymnus, den Kremer angesichts der Marter seines Mitbruders gleich in der nächsten Szene anstimmen wird. Aber schon die Feier der Eucharistie selbst verwandelt sich im Film in ein Martyrium. Im Handumdrehen verwandelt sich das liturgische Spiel in ein blutiges Drama. Während der Kommunion betritt der SS-Mann Bertram die Baracke. Der Altar mit dem Kelch, dem Kruzifix und den Kerzen wird hastig zugedeckt. Die Priester singen weiter das Madagaskarlied. Der SS-Mann wählt sich einen polnischen Priester aus, dem er den Takt und das „richtige Singen“ durch Schläge mit einem Feuerhacken auf den Kopf beibringt. Das Geheimnis des Kreuzes, das eucharistische Opfer, die Priester als Opfer und jene, die sie zu Opfern machen, werden in diesen beiden Szenen auf das Engste miteinander verbunden, die Dimensionen überlappen sich, Bilder werden durch andere Bilder überblendet, das Spiel der Gewalt geht in jenes der Stellvertretung und auch in jenes der Hingabe über.

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In einer der nächsten Szenen wird neben dem Kreuz, an dem schon ein Priester hängt, ein zweites Kreuz aufgerichtet. Auf den toten Mitbruder schauend beten die Priester den „De-Profundis-Psalm“, der in der traditionellen Totenliturgie einen festen Platz hatte. Der Nazioffizier holt Kremer aus der Baracke, um ihn in den „Urlaub“ zu schicken. Seine Augen auf das Kreuz gerichtet geht Kremer auf das Kreuz zu in der Erwartung, nun selber auf das Kreuz gezogen zu werden.

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Die Existenz des Priesters im KZ wird von Schlöndorff mit dem Kreuzesopfer Jesu und der durch ihn stattgefundenen Wandlung der Sünde und des Grauens durch die Hingabe des Lebens und die Liebe in Verbindung gebracht. Dies nicht zuletzt deswegen, weil jene Theologie, in der Abbé Kremer unterrichtet wurde und die auch Pfarrer Neururer gelernt und sein Leben lang seelsorgerlich umgesetzt hat, davon ausging, dass Gott den Menschen nach seinem Willen die Rolle des Opfers auferlegen kann. “Der Herrgott hat mich auf diesen Platz gestellt, darum muss ich meine Arbeit fleißig und gewissenhaft verrichten. Ob mich der SS-Mann sieht oder nicht, darauf kommt’s nicht an. Der Herrgott sieht mich immer. Darauf kommt es an.” Neururer ist kein frontaler Widerstandskämpfer. Selbst mitten in der Hölle des KZ will er noch an Ordnungen glauben, klammert sich an jede Spur des Lebens mitten in der Kultur des Todes. Deswegen ist er dann über die ungerechte Behandlung enttäuscht, will aber den Henker trotzdem nicht dämonisieren.

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Ähnlich verhält sich Pfarrer Kremer im Film “Der neunte Tag”. Er kehrt freiwillig ins KZ zurück, weil er nicht mit den Nazis kooperieren will, die Rolle des Judas nicht spielen will und weiß auch, dass im Fall der Flucht seine luxemburgischen Mitbrüder im KZ getötet werden. Er kehrt also freiwillig an jenen Ort zurück, an dem er und auch andere Priester mit österlichen Augen die Hölle des KZ betrachten und aus dieser Neubewertung auch leben. Sie werden ja tagtäglich von den KZ-Schergen zu Opfern und nur zu Opfern degradiert, geschlagen, schikaniert: Eine der perfidesten Schikanierungen bestand in der Umfunktionierung einer auf die Bitte des Papstes gewährten „Sonderbehandlung der Geistlichen“ in eine Torturaktion. So durften die Priester täglich einen Viertelliter Wein trinken: “‘Aussaufen!’ Der Blockführer springt auf einen Schemel und passt unheimlich auf. Nicht jeder bringt es fertig, in einem Zug einen Viertelliter Wein zu schlucken. Sobald geleert, müssen wir die Becher nach unten gekehrt hoch über die Köpfe heben. Da verschluckt sich jemand in der Aufregung und kriegt Verspätung. Schon haut ihm der SS-Mann mit solcher Gewalt die Faust auf den Becher, dass dieser Lippen und Wange in einem Halbkreis bis auf die Zähne und Knochen durchschneidet. Der Mann blutet fürchterlich und muss zum Verbinden ins Revier.” Von den KZ-Schergen also zu Opfern und nur zu Opfern degradiert, geschlagen, schikaniert, buchstäblich aufs Kreuz aufgezogen, feiern diese Priester Eucharistie. Sie machen also das, was Christus tat, bevor er von seinen Gegnern im Spiel der Gewalt viktimisiert, zum Opfer gemacht wurde. Er definierte „das Spiel“ neu, er selber bestimmte die Spielregeln im „Drama“ seines Lebens, und dies war das „Spiel der Hingabe“ und auch das „Spiel der Stellvertretung“. Für die Stellvertretung sorgten aber nicht die Gewaltmechanismen, nicht die Gegner, die ihn dem Tod auslieferten, die Hingabe war das „logische“ Ergebnis der besonderen Beziehung des Vaters zum Sohn und der Beziehung Christi zum Vater.

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Die Eucharistie in Dachau bringt also das Grauen des Alltags, die Viktimisierung der Priester durch die KZ-Schergen mit dem Drama Christi in Verbindung. Die Opfer aus Dachau feiern also Eucharistie. Im Film ist das  - neben dem Gebet - die einzige Handlung, die nicht notwendig ist: physiologisch nicht und auch nicht gewaltsam aufgedrängt, sondern aufgrund einer freien Entscheidung vollzogen - eben gefeiert. Nur in diesem Kontext erleben sich die Priester als Handelnde: eben als Täter - als Mitspieler im Drama des Lebens, aber in einem Drama, das Gott selber zum Autor hat und nicht den Teufel. Deswegen schützten sie ihre Feier vor Missbrauch, nach den Regeln einer Arkandisziplin. Nach außen verborgen - ja verschleiert durch den Gesang des Liedes „Wir lagen vor Madagaskar“ - gleichen sie den Christen der Katakombenzeit. Sie feiern Eucharistie und durchbrechen damit zeichenhaft die Zwänge. Sie sind zwar eine durch die verkommene Sprache der Henker ständig erniedrigte Schicksalsgemeinschaft. Sakramentales Leben lässt aber diese Schicksalgemeinschaft immer wieder ein Wunder erleben: das Wunder der Gemeinschaft der Heiligen. Die Schlusssequenz bezieht diese eucharistische Logik klar mit ein. Abbé Kremer teilt nach seiner Rückkehr ins Lager die Wurst, die er hineingeschmuggelt hat. Mit derselben Andacht, mit der die Priester zu Beginn des Films an der Eucharistie teilgenommen haben, sind sie nun bei diesem symbolischen Mahl dabei. Ihre Augen strahlen Hoffnung aus. Inmitten des mysterium tremendum erleben sie das mysterium fascinosum, das Geheimnis des Leibes Christi: Sie sehen dieses förmlich vor sich: mit ihren österlichen Augen.

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Vielleicht vermag dieser Exkurs auf den Film uns die Plausibilität jener Handlung vor Augen zu führen, die bei Pfarrer Neururer das Todesurteil zur Folge hatte: die Begleitung des Konvertiten und die Taufe. Für den Menschen mit österlichen Augen, für den Priester, dessen ganze Existenz sich aus dem Geheimnis der Hingabe Gottes an die Menschen erschlossen hatte, dem der eigene Tod zwar schmerzhaft, aber nicht schicksalshaft tragisch erschien, war die Weitergabe der sakramentalen Logik der entscheidende Wert in seinem Leben. Weil die Taufe Christus selbst mit den anderen Menschen verbunden hat, ihn also zum lebendigen Zeugen göttlicher Kraft in der Kultur des Todes machte, war es für Neururer unvorstellbar, jemandem die Taufe zu verweigern.

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Betrachtet man das Leben der Priester in den KZs auf diese Weise, sieht man das Zeugnis von Neururer so, dann wird man festhalten müssen, dass dies nur die konsequente Fortsetzung jener Haltung war, die er schon vor dem Krieg als Seelsorger lebte. Denn das “Martyrium ist Konsequenz des Glaubens in einer Situation der Verfolgung. Es ist Ausdruck der Liebe unter den Bedingungen der Lieblosigkeit und der Vergeltung”, schreibt Bischof Manfred in der Dokumentation “Im gewöhnlichen außergewöhnlich gut”. Wenn Neururer in der extremen Situation des Hungers im KZ geteilt hat - “‘Hast du alles selber gegessen?’ Er wird verlegen. ‘Ich habe dem Werkzeugwart ein Stückchen geschenkt. Sei mir nicht bös. Er hat mir mit so hungrigen Augen zugesehen. Ich konnte nicht anders. Sei nicht bös. Aber schau, ich kann nicht anders; es hätte mir gar nicht geschmeckt, wenn ich dem andern nichts gegeben hätte.’” (Erinnerung von Pfarrer Berthold) -, wenn Neururer dort geteilt hat, so tat er nichts anderes als das, was er schon als Seelsorger tat, indem er scheinbar problemlos sein ganzes Geld, das er bei sich hatte, mit den Worten: “So, des is alles. Mehr hab’ i net” bei der Innsbrucker Witwe Friederike Hupfau (die sich im Elend mit drei Kindern durchschlug) lässt oder Sammlungen für die Murenopfer organisiert. Weil er sein Priesterdasein als Bindung an das Geschick Christi erlebt, kann er Seelsorge als Hingabe an die Menschen begreifen und leben.

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Weil ihm die Gnade der österlichen Augen geschenkt wurde, versteht er diese Hingabe nicht als destruktives Opfer und als Viktimisierung. Er, der zur Schwermut neigende Priester zerstört sich selber nicht und auch nicht die anderen. Im Gegenteil: Durch seine Hingabe, sein sacrificium, sein commitment kann er den anderen helfen, aus der Position des Opfers herauszufinden. Das wird besonders in seinem Engagement bei der Verhinderung der Ehe mit dem SA-Mann deutlich. Die Bauerntochter Liese wird schwanger von einem verheirateten Mann, der, um sie loszuwerden, diese an den SA-Mann verkuppelt .., der sie dann gleich heiraten will, weil er glaubt, sie sei von ihm schwanger geworden. Die junge Liese - gleichsam auf doppelte Art und Weise ein Opfer - sieht in der schnellen Heirat einen Rettungsanker, sie weiß nichts von der Vergangenheit des SA-Mannes (von seiner Scheidung), und auch nichts von seinem Charakter. Sie weiß auch nicht, dass eine kirchliche Trauung nicht stattfinden kann. Durch Neururer aufgeklärt lässt sie den Plan fallen (die spätere Geschichte des Freiers: sein Alkoholismus und die Verantwortlichkeit gegenüber der Frau, die er gleich nach dem Scheitern der Pläne mit Liese geheiratet hat, und gegenüber seinem Kind, die er beide ins materielle Elend stürzte, bestätigen nachträglich die Richtigkeit der Aktion Neururers). Neururer muss seine Intervention mit der Verhaftung bezahlen. Entscheidend für ihn war seine Sicht der Ehe als Sakrament. Analog zur Priesterweihe sah er im Sakrament der Ehe eine Bindung Christi an die eheliche Gemeinschaft, eine Bindung, die durch Treue und Hingabe geprägt bleibt - selbst in einer Situation von Widersprüchen und Sackgassen.

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“Spuren bleiben?” - heißt die Ausstellung von Jörgen Hafele. Auf den Bildern findet der Betrachter Spuren aus den Wirkstätten Neururers, Orte, die er besucht und aufgesucht hat, Gegenstände , die in Verbindung zu ihm stehen. Man findet auch Naturbilder, die die Bewegung festhalten und auf Veränderung und Vergänglichkeit hinweisen. Und man findet Bilder von Kindern, vor allem von Kinderaugen: Bilder aus dem Götzner Kindergarten. Lebendige Spuren einer vergangenen Generation. “Die Kinder stehen immer auf den Schultern der Riesen!”, das sagte auch Neururer, doch er sah sich selber sicher nicht in der Rolle eines Riesen. Was bleibt noch? Welche Spur hinterlässt der Selige für eine Zeit, in der die Logik der Totalitarismen für viele endgütlig in die Vergangenheit verbannt wurde? Welche Spur hinterlässt er in der Zeit der Postmoderne, die sich immer noch damit rühmt, dass sie verbindliche Rahmen zu Konventionen verwandelt hat, die Geschichte zu Geschichten, und dass sie den einen Gott zugunsten vieler Götter entthront hat? Welche Hoffnung vermitteln die österlichen Augen Neururers den Pfarrgemeinden, die ohne Priester auskommen müssen, den Priestern, die immer älter werden, und den wenigen jungen Geistlichen, die unter ihrem Außenseiterndasein leiden? Welche Hoffnung vermitteln die österlichen Augen eines priesterlichen Märtyrers in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach verbindlichen Lebensgemeinschaften groß ist, in einer Zeit, in der Menschen einander liebestrunken Treue versprechen, sich auch nach bestem Wissen und Gewissen bemühen wollen, sich sogar bedingungslos aufeinander einlassen und doch scheitern? In der Zeit, in der Scheidungen kulturpolitisch zur Regel geworden sind und nicht mehr als Ausnahme von der Regel (als notwendiges Übel) zugelassen werden? In einer Zeit, in der sich die Katholische Kirche weigert, die sakramentale Dimension der Ehe an die Rationalität der kulturpolitischen Trends anzugleichen und die sakramentale Trauung durch eine Segensfeier für alle möglichen Formen von Partnerschaften zu ersetzen? Schlussendlich in einer Zeit, in der die katholische Ehepastoral tagtäglich mit einer prekären Situation leben muss, weil Menschen, die rechtlich gesehen oft nach einem jahrelangen Rosenkrieg geschieden werden und einander mit Hassgefühlen begegnen, weil die Bindung dieser Menschen aneinander ein Zeichen der Einheit Christi mit der Kirche darstellen soll - sub contrario, wenn sie so wollen -, während die Gemeinschaft der Wiederverheirateten nicht nur dieser Zeichenhaftigkeit entbehrt, sondern als “Verharren in der Sünde” begriffen wird, und dies auch dann, wenn die Partner ihre Hingabe aneinander tagtäglich leben und erfahren? Weil die eheliche Liebe “durch Christi Sakrament geheiligt ist, bedeutet sie unlösliche Treue und sei darum unvereinbar mit jedem Ehebruch und jeder Ehescheidung” (so Gaudium et spes 49).

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Welche Antwort würde er - gerade aus seiner Erfahrung der Totalhingabe - wagen? Wie würde seine Zeitdiagnose aussehen? Vermutlich würde er positiv ansetzen und darauf hinweisen, dass unsere Zeit deswegen angefangen hat, die Hingabe zu reduzieren, weil sie Angst vor Viktimisierungen und Selbstviktimisierungen hatte . Sie wollte die frustrierende Opfermentalität - jene Opferhaltung, die ihre Verwurzelung im Glauben verloren hat und zur lästigen Pflicht wurde -  abschaffen. Doch - und hier beginnt der Teufelskreis: Die Verweigerung der Hingabe brachte erst recht Viktimisierungen hervor. Viktimisierungen, die wir durch gerichtliche Verfahren in den Griff zu bekommen trachten. Der Weg des gelebten sacrificium wäre hier besser: der Weg der gelebten Hingabe, der Weg des commitments: dieser Weg, der nicht im Sinne des moralischen Imperativs, sondern kraft der Glaubenserfahrung gelebt werden kann. “Verstehe nicht ...”, wird der Zeitgenosse sagen. Da kann ich nur den Rat geben, den der Künstler mit seiner Einladung zur Ausstellung möglich macht. Die Reliquie, die Brille Neururers, das Realsymbol seiner Person scheint dort zu sagen: “Nimm mich und lies. Nimm mich und schau!” Schau in die österlichen Augen des Märtyrers und lass dich durch diese Augen verwandeln. Die Jüngerinnen und Jünger haben am Karsamstag auch nicht geglaubt, dass die entscheidende Zukunft noch bevorsteht. Und doch ... Lässt man sich auf diese Logik ein, wird man Ostern selbst im KZ feiern können. Warum also nicht in Innsbruck? Von Götzens ganz zu schweigen!

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