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Thesen zur Zukunftsfähigkeit des konfessionellen und von den (anerkannten) Religionsgemeinschaften verantworteten Religionsunterrichts (RU)

Autor:Scharer Matthias
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2010-02-02

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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  1. Die strukturellen und konzeptionellen Umbrüche im österreichischen RU nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil waren entscheidend von den religionspädagogischen Debatten und einschlägigen kirchlichen Texten zum RU in Deutschland geprägt (Synodentext[2] und nachfolgende Texte der Deutschen Bischofskonferenz[3]; Texte des Deutschen Katechetenvereins zur Ermutigung der ReligionslehrerInnen u.a.). Eine originäre Auseinandersetzung um den RU wurde in der österreichischen Kirche – mit Ausnahme einiger Initiativen des ehemaligen Schulbischofs Dr. Helmut Krätzl – nicht geführt. Die mangelnde Auseinandersetzung mit Konzeption und Struktur des RU in Österreich bewirkt(e) eine große konzeptionelle Unsicherheit bzw. Divergenz bei den für den RU (kirchlich) Verantwortlichen und schwächt öffentliche Debatten um den RU entscheidend.
  2. Am meisten fehlt es in der katholischen Kirche Österreichs derzeit an theologischer Urteilskompetenz in Fragen der Religion in der Öffentlichkeit und speziell an der Schule. Die konzeptionellen und strukturellen Probleme werden fast ausschließlich strategisch-pragmatisch wahrgenommen und nicht als theologische Fragen des Verhältnisses von Kirchen/Religionen und säkularer Welt erkannt. In Lehrplan- und Schulbuchdebatten wurde über Jahrzehnte ein – nicht unerheblich aus Macht- und Einflussinteressen geführter – Kampf um Konzepte des RU ausgetragen, der zu einer großen Frustration vieler Beteiligter geführt hat[4]. Eine Umkehr dieser Dynamik oder ein Lernprozess im Zusammenhang mit dieser Ressourcenverschwendung von Seiten kirchlich Verantwortlicher ist kaum in Sicht.
  3. Die säkulare Öffentlichkeit ist von der problematischen Erzählung dominiert, dass die Gewalt, die Religion – speziell in der monotheistischen Gestalt von Islam und Christentum – erzeugen kann, nur durch Säkularisierung aller öffentlichen Bereiche und einer damit zusammenhängenden Privatisierung und Individualisierung der Religion bewältigt werden kann[5]. Vom abendländischen Christentum wird die Akzeptanz eines solchen Säkularisierungsschubs angenommen; speziell der Islam steht unter dem Verdacht, dass er die durchgehende Säkularisierung der Religion in Europa behindere und damit die (erfolgreiche) Aufklärungsgeschichte rückgängig mache[6]. Angesichts einer weitgehenden Skepsis von Muslimen gegenüber der säkularen Schule (einschließlich des schulischen RUs) wird ChristInnen ihre unkritische Einpassung in das säkulare Schul- und Bildungssystem (u.a. durch kirchliche Texte wie dem Synodentext) erst bewusst[7].
  4. Für die Zukunft der Konfessionen und Religionen und des RUs an der Schule ist es notwendig, Religion an der öffentlichen Schule in ihrer pluralen Gestalt als Kairos eines Geistgeschehens wahrzunehmen, das auf die Vielfalt und den Beziehungsreichtum des Lebens hin ausgerichtet ist; dies bei gleichzeitiger Wachheit gegenüber der Gefahr tödlicher Entfremdung und Gewalt. Die zunehmende Vielfalt der Religion/Religionen in unserer Gesellschaft wird dann nicht unter der Perspektive von Gefahr und Bedrohung des Eigenen wahrgenommen, sondern als Reichtum und (heils-)geschichtliche Herausforderung erkannt und anerkannt (Fortschreibung und nicht Rücknahme der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate). Nur eine positiv angenommene, pluralitätsfähige Präsenz von Religion/en an der Schule ist zukunftsfähig. Das schließt das Bewusstsein für diesbezügliche Konflikte keineswegs aus, sieht diese aber als besondere Bildungsherausforderung. Weltanschaulich-religiöse Dialog- und damit auch Konfliktfähigkeit sind entscheidende (gesellschaftsrelevante) Kompetenzen eines zukunftsfähigen RU[8].
  5. Eine pluralitätsfähige Präsenz von Religion/Religionen an der Schule und in der Klasse bedarf einer differenzierten Kompetenz der Aufmerksamkeit und der Anteilnahme am Schulleben, wie sie aus einer Fortschreibung des Verhältnisses von „Kirche und Welt“ aus der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“[9] entwickelt werden kann[10]. Eine solche Aufmerksamkeit und Anteilnahe ist besonders gerichtet auf:
    • das biografisch geprägte "Religionsmosaik" aller beteiligten Subjekte am RU, der SchülerInnen und der LehrerInnen, mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen, Brüchen usw., in (auch methodisch-medial realisierter) Ehrfurcht vor dem „heiligen Boden“ jedes/jeder Einzelnen;
    • die vielfältigen (Geist-)Dynamiken zwischen SchülerInnen/LehrerInnen, die sich durchaus auch in konfrontativen und konfliktiven Auseinandersetzungen zeigen können, die aber immer von Selbst- und Fremdachtung geprägt sein müssen;
    • die Vielfalt weltanschaulich-religiöser Traditionen an der Schule und ihrem
      Mit-, Für- und auch Gegeneinander;
    • - die Vielfalt der – auch (pseudo-)religiösen – Kontexte, wie dem Einfluss von Markt und Medien auf das schulische Bildungsgeschehen.
  6. Differenzierte Pluralitätsfähigkeit im Dialog der Weltanschauungen und Religionen an der Schule begrenzt sich nicht auf die Rede über Gott/Religion; sie schließt die (erfahrungsbezogene) Rede von, ja auch die der Situation angemessene Rede zu Gott ein und erschließt darin einen unmittelbaren Zugang zum heilsam-„gefährlichen“ Symbolkomplex des Glaubens. Nur glaubenserfahrene, authentische Personen ermöglichen einen solchen Zugang. Gleichzeitig könnte eine konsequente diakonische Begründung des RU (wir kennen eine solche von den gesellschaftlich glaubwürdigsten Einrichtungen der christlichen Kirchen: Diakonie/Caritas; Beratungseinrichtungen; Telefonseelsorge; Medienarbeit) den Spielraum für unterschiedliche Formen der Präsenz der Religionen an der öffentlichen Schule erheblich erweitern und in schwierigen Schul- und Klassensituationen die Phantasie für neue Lösungen beflügeln, ohne die Konfessionalität bzw. die spezifische Verantwortung der Religionen für die Präsenz der Religion in der Schule zu schmälern.
  7. ReligionslehrerInnen sind in einer solchen Situation GrenzgängerInnen zwischen verschiedenen Welten: Zwischen Kirche(n)/Religion(en)/Schule-Bildung; zwischen SchülerInnen, Schulverwaltung, KollegInnen; zwischen Tradition(en), die geisterfüllt und auf das Leben hin ausgerichtet sind und solchen, die letztlich in Starrheit und Tod hinein führen. Solche GrenzgängerInnen brauchen das vorbehaltlose Vertrauen und die Unterstützung von allen, die in Kirche und Schule mit ihnen zu tun haben.
  8. Die Zukunftsfähigkeit des konfessionellen und von den Religionen verantworteten RU an der Schule, der einen wesentlichen religions- und kulturdialogischen Beitrag zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme leisten kann, gefährdet, wer etwa auf Grund von sinkenden SchülerInnenzahlen im konfessionellen RU damit experimentiert, religionskundlich oder ethisch ausgerichteten Unterrichtskonzepten für alle SchülerInnen ein regionales Erprobungsrecht oder gar eine generelle Berechtigung für einzelne Schulstufen oder für ganze Schulen bzw. Regionen einzuräumen. Da die differenzierte Präsenz von Konfessionen und Religionen in der öffentlichen Schule, die allein der gesellschaftlichen Wirklichkeit von Religion in der Öffentlichkeit gerecht wird und insofern entsprechende dialogische Bildungsprozesse in der Schule ermöglichen kann, einen erheblichen Verwaltungsaufwand bedeutet, ist bei allen Versuchen in Richtung eines ausschließlich informatorischen Unterrichts über Weltanschauungen, Religionen, Ethik damit zu rechnen, dass nicht das religions- und kulturdialogische Interesse für die Lösung gesellschaftlicher Spannungen durch Bildung im Zentrum steht sondern die einfachere „Handhabung“ von Konfessionen und Religionen im öffentlichen Bildungsbereich.
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Anmerkungen

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[1] Die Thesen habe ich für die Tagung der FachinspektorInnen höherer Schulen in Österreich entwickelt und nach der Tagung um die These 8 ergänzt.

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[2] Der Religionsunterricht in der Schule. In: Bertsch, Ludwig u. a. (Hg.) (1978): Beschlüsse der Vollversammlung. 4., durchges. Aufl. Freiburg im Breisgau: Herder (Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, 1), S. 123–152; vgl. dazu auch: Scharer, Matthias (2009): Der Synodenbeschluss zum Religionsunterricht in der Schule: heute gelesen und im Blick auf morgen weitergechrieben. In: Österreichisches Religionspädagogisches Forum, Jg. 17, S. 30–38.

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[3] Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts. Herausgegeben von Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn (Die deutschen Bischöfe, 56), 27. September 1996; Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen. Herausgegeben von Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn (Die deutschen Bischöfe, 80), 16. Februar 2005.

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[4] Prettenthaler, Monika; Scharer, Matthias (2009): Die Religionsbuchdebatte in Österreich - Schauplatz für die 'offizielle' Auseinandersetzung um den Religionsunterricht? In: Österreichisches Religionspädagogisches Forum, Jg. 17, S. 43–47.

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[5] Vgl. Casanova, José (2009): Europas Angst vor der Religion. 1. Aufl. Berlin: Berlin Univ. Press (Berliner Reden zur Religionspolitik).

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[6] Vgl. Scharer, Matthias (2008): Welchen Frieden schafft der Religionsunterricht? Schulische Gewalt und Friedensfähigkeit als Herausforderung des katholischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. In: Palaver, Wolfgang; Siebenrock, Roman; Regensburger, Dietmar (Hg.): Westliche Moderne, Christentum und Islam. Gewalt als Anfrage an monotheistische Religionen. 1. Aufl. Innsbruck: Innsbruck Univ. Press, S. 267–287.

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[7] Vgl. Scharer, Matthias (2009): Die Schule und das Leben (in Fülle). Religionspädagogische Optionen in der Schulentwicklung. In: Jäggle, Martin; Krobath, Thomas (Hg.): Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung. Münster: Litverlag, S. 379–386.

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[8] Vgl. den Kongressprozess zwischen Christen und Muslimen im Kontext des 3. Kongresses Kommunikative Theologie; dokumentiert und kommentiert in: Kästle, Daniela; Kraml, Martina; Mohagheghi, Hamideh (Hg.) (2009): Heilig - Tabu. Christen und Muslime wagen Begegnungen. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verl.

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[9] Zweites Vaticanum (07.12.1965): Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes". GS. Fundstelle: Rahner, Karl; Vorgrimler, Herbert, Kleines Konzilskompendium.

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[10] Vgl. Sander, Hans-Joachim (2005): Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes. In: Hünermann, Peter; Hilberath, Bernd Jochen (Hg.): Apostolicam actuositatem. Dignitatis humanae. Ad gentes. Presbyterorum ordinis. Gaudim et spes. [Theologischer Kommentar]. Freiburg im Breisgau: Herder, Bd. 4, S. 581–869.

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