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Kreuz-Weg zwischen Aggression und Resignation
(Jesu Tod als Paradigma für ein christliches Martyriumsverständnis)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Aufsatz aus dem Jahr 2011 auf der Grundlage eines Workshopvortrags. Gekürzt publiziert in: J. Niewiadomski, R. Siebenrock (Hg.) Opfer – Helden – Märtyrer. Das Martyrium als religionspolitologische Herausforderung (Innsbrucker theologische Studien 83) Innsbruck - Wien 2011, 311-320.
Datum:2013-09-23

Inhalt

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Der Kreuzestod Jesu ist das Paradigma für ein christliches Martyriumsverständnis. Von daher ergibt sich die Möglichkeit und Notwendigkeit, das Martyrium theologisch zu verstehen.1 Im Blick auf Jesu Tod sind dafür zuerst zwei Fragen zu klären: Wie kam es zu diesem Tod? (1. und 2. Kapitel) Und welchen Sinn hatte er? (3. Kapitel) – Von da aus können dann Kriterien für ein authentisches Martyrium im christlichen Sinn gewonnen werden.

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1. Jesu Gottesreichbotschaft als Bedrohung einer sündigen Identität

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Jesu Kreuzestod muss im Zusammenhang seines Einsatzes für Gott und das Heil der Menschen verstanden werden. Das klingt selbstverständlich, war es aber nicht immer. Im Christentum gab es immer wieder Spiritualitäten und Theologien, die eine Heilsbedeutung in einem isoliert verstandenen Kreuzestod Jesu ausmachen wollten: als Opfer- und Sühnetod, mit dem wir Menschen von den höllischen Konsequenzen unserer Sünden losgekauft worden sind.2 Keines dieser kreuzestheologischen Motive ist überflüssig, aber sie werden gefährlich missverständlich, wenn man sie aus dem Zusammenhang von „Vorher“ und „Nachher“ von Jesu Heilsdrama isoliert: (1.) dem „Vorher“ von Jesu Einsatz für Gott und das Heil der Menschen, (2.) einem Einsatz, der Jesus in Konflikt mit dominierenden lebensfeindlichen Mächten und so (3.) letztlich ans Kreuz brachte; (4.) und dem „Nachher“ einer Auferstehung, in der durch Tod und Scheitern hindurch der siegreiche Durchbruch des Lebens nicht nur mythisch-symbolisch proklamiert, sondern sich (5.) in einer Ausgießung des Heiligen Geistes als einer Gemeinschaft (mit Gott und unter den Menschen) neu schaffender und transformierender Lebensmacht geschichtlich erfahrbar auswirkt.3

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Jesu Botschaft vom Gottesreich im Zusammenhang der alttestamentlichen Erfahrungen

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Das bleibende Zentrum von Jesu Wirken und Existenz ist gemäß den Evangelien in seiner vollmächtigen Verkündigung der Botschaft vom Gottesreich zu sehen. Das Markusevangelium fasst diese Botschaft zusammen in dem Satz: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Dabei ist das Reich Gottes wesentlich als eine erneuerte, vertiefte und gereinigte Beziehung zwischen Gott und Mensch, sowie von daher der Menschen untereinander und in ihrer Beziehung zur Welt zu verstehen. Jesu Wirken in Wort und heilend-befreiender Tat entspringt einer unvorstellbar intensiven Beziehung zu jenem Gott des Heils, der in der jüdischen Bibel bezeugt, dessen Bild aber – gemäß alttestamentlich-prophetischer Selbstkritik! – fast durchwegs entstellt wurde. Gemäß dieser prophetischen Kritik wirkt sich ein unzulängliches und pervertiertes Gottesverhältnis in einer Korruption des menschlichen Lebens auf allen Ebenen aus: in einer Zerrüttung menschlicher Beziehungen auf individueller, familiärer, nationaler und globaler Ebene, aber auch in einem ausbeuterischen und zerstörerischen Verhältnis zur Schöpfung und in einem Selbstverhältnis der Menschen, das sie Dynamiken von Angst und Begierde ausliefert.4 Weiters bezeugt bereits die hebräische Bibel, dass dieser Verlust von Heil beziehungsweise „Schalom“ derart ist, dass die Menschen außerstande sind, sich aus eigener Kraft neu dem heilschaffenden Gott zuzuwenden und so den Dynamiken des Unheils zu entrinnen. Denn die Vorstellungen von diesem Gott und die Praxis seiner Verehrung sind durch eine sündig beeinträchtigte Erkenntnis und durch eine sündige Praxis zutiefst entstellt.

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Von daher entsprach es bereits alttestamentlicher Einsicht, dass nur Gott selber durch sein Handeln die ins Unheil verstrickte Welt retten kann. Ein solches machtvolles, befreiendes und erlösendes Handeln Gottes wurde von den Juden erhofft, erbetet und erwartet. In frühjüdischer Zeit – im Umfeld der späteren alttestamentlichen Texte – wuchs die Überzeugung, dass dieses erlösende Handeln Gottes angesichts der Korrumpiertheit der Menschen und dieser Welt nur als apokalyptischer Einbruch eines Tags des Gerichts möglich war. Dabei begann Israel zu ahnen, dass dieser Tag des Herrn nicht nur Segen für sich und Verdammnis für die anderen bringen würde, sondern ein tief einschneidendes Gericht für jeden ohne Ausnahme.

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Diese radikale prophetische Selbstkritik des vorchristlichen Judentums gibt dem Wirken Jesu und damit dem Christentum eine Grundlage, und zwar gerade nicht zur selbstlegitimierenden Entwertung des Judentums, das seine Unzulänglichkeit selber proklamiert hätte, sondern in radikaler Übernahme dieser Selbstkritik. Erst durch die scharfe Wahrnehmung einer bleibenden Erlösungsbedürftigkeit wird das Christentum zur Erlösungsreligion. Doch ist diese Erlösungsbedürftigkeit nicht die erste christliche Grunderfahrung. Eigentliches Fundament ist – wie im Alten Testament – die Erfahrung eines liebenden und mächtigen Schöpfergottes, dessen rettendes Handeln in Jesus Christus eine unerhörte Aktualität gewinnt. Erst wo Menschen die befreiende Heilsmacht Gottes erfahren und sich – derart befreit – dieser Heilsmacht verweigern, wird die Frage der Erlösungsbedürftigkeit akut: Kann Gott denn Menschen gegen ihren Willen erlösen?

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Ein neues Verständnis von Gericht

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In seinem öffentlichen Auftreten mit seiner Rede vom „Kairos“ des anbrechenden Gottesreichs beanspruchte Jesus, dass mit ihm diese eschatologisch erhoffte göttliche Heilsinitiative beginnen würde. „Die Zeit („Kairos“) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.“ Neu und vor allem gegenüber der Gerichtspredigt von Johannes dem Täufer auffällig ist, dass Gott ohne jede Gewalt und – zunächst – ohne Gericht in einem reinen Heilswirken bei den Menschen ankommt. In der Begegnung mit Jesus sind für zahlreiche Menschen die herrschenden Unheilsdynamiken aufgebrochen und der unzugängliche wahre Gott der Liebe erfahrbar geworden. Das wurde für sie konkret erlebbar in einer ungekannten Wertschätzung selbst von öffentlich Verachteten, durch körperliche Heilungen und durch eine Befreiung von „dämonischen“ Fixierungen, die nicht nur einzelne Menschen, sondern auch die sie umgebende Gesellschaft in lebensfeindlichen Haltungen gefangen hielt.5

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Insgesamt zielte Jesu Verkündigung und Wirken auf eine heilend-befreiende Verwandlung nicht nur von einzelnen Menschen, sondern von Gemeinschaft und Öffentlichkeit. Durch die gezielte Hereinnahme von sozial niederrangigen und ausgegrenzten Menschen (Frauen und Kinder, Zöllner und Sünder, Samariter und Heiden) störte Jesus etablierte gesellschaftliche Strukturen und gefährdete ihre Stabilität.So gab ausgerechnet sein menschenfreundliches Sprechen und Handeln den Anstoß für die kommenden tiefgreifenden Auseinandersetzungen. Der alttestamentlich erwartete „Tag Jahwes“ schien in Jesus als Gericht in einer gänzlich unerwarteten Form: Er beginnt mit einem umfassenden Heilsangebot auch für die offenkundigen Sünder; und er wird dort zum Gericht, wo Menschen nicht bereit sind, dieses Heilsangebot anzunehmen. Über diese bricht nun aber nicht die Gewalt eines göttlichen Zorngerichts herein, sondern umgekehrt werden sie gewalttätig gegen den Repräsentanten des göttlichen Heilshandelns – und damit gegen Gott selber.

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Vom Zentrum seiner Gottesreichbotschaft her war so für Jesus ein tödlicher Konflikt vorprogrammiert.

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Warum Jesus abgelehnt wurde

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Wieso konnte ein Mensch mit einer offensichtlich sympathischen Botschaft (Vergebung anstelle von Gericht; Anbruch der eschatologisch erhofften Gottesreichbotschaft) und mit einem derart menschenfreundlichen Handeln (in Krankenheilungen, exorzistischer Befreiung und „sympathischen“ Wundern wie Brotvermehrung und Weinwandlung) auf solchen Widerstand stoßen? Das Neue Testament beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf den Teufel und seine Dämonen, die als „Herren dieser Welt“ bedroht und zu äußerstem Widerstand herausgefordert wurden. Das sind Bilder für Wirkdynamiken, die die Menschen vor allem in der Öffentlichkeit im Griff hatten.6 Sie werden durch Jesu Wirken herausgefordert, freigelegt und – über Tod und Auferstehung – überwunden.

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Zwei Grundtypen von Identität

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Um diese Dynamiken der Gewalt besser zu verstehen, hilft uns die Annahme von zwei Grundtypen einer persönlichen (und auch sozialen) Identität.7 Die Dramatik, die durch Jesu Wirken ausgelöst wurde, lässt zwei einander entgegengesetzte Grundgesetze der Identitätsbildung und -sicherung für einzelne Menschen, aber auch für Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften durchscheinen: einerseits eine positiv-bezogene Identität, die in Gottes bedingungslos liebender Erwählung gründet und von daher auf andere Menschen hin ausrichtet; anderseits eine negativ grenzende Identität, die sich vom messenden Vergleich, der Abwertung und Ausgrenzung anderer speist. Diese beiden Grundformen der Identitätsbildung und -sicherung kommen gewöhnlich nicht in Reinform vor, – jeder Mensch und jede Gemeinschaft bewegt sich mehr oder weniger transparent in einer Grauzone zwischen beiden. Jesu Wirken machte diese Grundformen aber in scharfen Kontrasten sichtbar.

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Das war dadurch möglich, dass Jesus als vollkommener Repräsentant Gottes und damit als reine Verwirklichung des Grundtyps einer positiv-bezogenen Identität auf eine Welt einwirkte, in der beide Grundtypen der Identität vermischt auftreten. Geradezu wie in einer chemischen Reaktion bewirkte dieser Kontakt eine „Ausfällung“ von Reinformen.8 Die Menschen konnten gegenüber Jesus nicht gleichgültig bleiben; sie mussten sich entscheiden, entweder umzukehren und in seiner Nachfolge konsequent den Weg einer positiv-bezogenen Identität zu beschreiten oder die negativ-grenzende Identität, von der sie getrieben waren, zum Prinzip ihres Lebens zu machen.

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Jesus als Paradigma einer positiv-bezogenen Identität

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Jesu Identität gründete ganz in Gott (als geliebter Sohn seines Abba-Vater) und mündete in eine Sendung vom Vater her zu den Menschen hin, in einer „Proexistenz“, die Jesu Identität nicht nur auch bestimmte (wie ein „Job“), sondern so erfüllte, dass es nicht möglich ist, losgelöst von dieser Sendung etwas Wesentliches darüber zu sagen, wie sich dieser Jesus verstand und wer er war.9 Damit führt Jesus die Linie eines alttestamentlichen Identitätsverständnisses weiter, wonach die Identität Israels ganz in seiner göttlichen Erwählung, im Bundesverhältnis und von daher in seiner Sendung zum Heil aller Menschen und Völker bestand.

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Negativ-grenzende Identität

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Der im Alten Testament beschriebene wiederholte Abfall der Israeliten und ihre Zuwendung zu anderen Göttern bedeutete faktisch, dass sie ihre Identität auf andere Weise sicherten, – nämlich in einem vergleichenden und rivalisierenden Verhältnis zu anderen Völkern (wie sie und damit zugleich gegen sie).10 Hier wird ein zweiter Grundtyp von Identität sichtbar: und zwar durch Abgrenzung gegen andere, gemäß dem Motto: „Wir sind, wer wir sind, weil wir nicht so sind wie diese da.“ Dieser Grundtyp von Identität ist durch ein antagonistisches Vergleichen mit Anderen bestimmt. In dem Maße, als Menschen und Gemeinschaften diesem Identitätstyp verpflichtet sind, verhalten sie sich abgrenzungs- und ausgrenzungsorientiert.11

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Identitätskrise als Grund für die Aggression gegen Jesus

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Diese Unterscheidung in zwei Grundtypen einer positiv-bezogenen und einer negativ-grenzenden Identität macht die Brisanz von Jesu Wirken sichtbar. Seine unterschiedslose Zuwendung zu gesellschaftlich Niederrangigen und Ausgegrenzten musste für Mensch und die Gesellschaft in dem Maße bedrohlich sein, als diese ihre Identität von negativ-grenzenden Verhältnissen her bezogen. Sie wurden durch Jesu menschenfreundliches Lehren und Handeln in eine regelrechte Identitätskrise getrieben, – ganz im Sinne des verräterischen Ausrufs: „Wer sind wir denn, dass wir uns mit diesen da abgeben sollen?“ Und wo Menschen und Gemeinschaften in ihrer Identität bedroht werden, reagieren sie auf extreme Weise.

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Solch extreme Reaktionen bezeugen die Evangelien immer wieder von den Menschen und „dem Volk“, die Jesus begegneten. Sie waren entsetzt, verstört und konnten mit äußerster Aggressivität reagieren (vgl. Lk 4,29; Joh 8,59). Das wird von unserem Ansatz her nachvollziehbar: In dem Maß, als Menschen und Gemeinschaften von einer negativ-grenzenden Identität geprägt sind, werden sie Jesu integratives Verhalten als identitätsgefährdend erfahren und deshalb geradezu zwangsläufig bekämpfen.

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Damit wird nun zweierlei verständlich: erstens, warum Jesus sterben musste, – nämlich gemäß der Logik einer bedrohten negativ-grenzenden Identität, „dass es besser ... ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht“ (Joh 11,50). Zweitens wird durch diese Zwangsläufigkeit des Todes Jesu sichtbar, in wie hohem Maße die Menschen von der Logik einer negativ-grenzenden Identität gefesselt sind.

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2. Auf dem Kreuz-Weg einer kritischen Solidarität – zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation

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Für Jesus bestand seine identitätsstiftende Sendung darin, den Menschen, denen der wahre Gott verstellt war, den Zugang zu ihm neu zu eröffnen. Das begann mit der vollmächtigen Verkündigung des anbrechenden Gottesreichs. Wo Menschen und Gemeinschaften diesen Kairos versäumten, d.h. wo sie die sich ihnen bietende Möglichkeit einer Transformation von Identität – wie wir die Aufforderung zur Umkehr Mk 1,15b interpretieren können – ausschlugen, gerieten sie in eine Situation verschärfter Feindschaft gegen Jesus und den von ihm verkündigten wahren Gott. Wie konnte Jesus angesichts dieses sich verhärtenden Widerstandes noch seiner Sendung gerecht werden, allen Menschen – und nicht bloß einer „Jesus-Sekte“, die wieder in Gefahr wäre, ihre Identität im Gegensatz zum Establishment zu sichern – Gottes Heil zu eröffnen?

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Dazu ging Jesus den ihn zurückweisenden Menschen nach, – bis nach Jerusalem, der Domäne der für ihn gefährlichen religiösen Autoritäten. Jesu leitendes Bild dafür ist das des Hirten, der den Schafen nachgeht und sogar sein Leben für sie gibt (vgl. Joh 10). Die unmittelbare Wirkung dieses Nachgehens ist allerdings nicht Rettung, sondern eine Verschärfung des Konflikts. Mit zunehmendem Nachdruck verurteilt Jesus das unangemessene Verhalten seiner Gegner und warnt sie vor den Konsequenzen. Damit facht er den Widerstand gegen ihn immer weiter an, bis er letztlich gefangengenommen, verurteilt und gekreuzigt wird.

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Jesus verhält sich gegenüber seinen Gegnern also in der Weise eines Nachgehens, in dem sich Sorge für sie und Kritik gegen sie verbinden, – mit eskalierender Wirkung. Wir können hier von einem Kreuz-Weg einer kritischen Solidarität sprechen, der zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation immer enger wird, bis er in das beinah zwangsläufige Kreuz mündet.12

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Kritische Solidarität

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In seinem öffentlichen Wirken folgte Jesus einem schwierigen und manchmal widersprüchlich scheinenden Kurs, auf dem sich bedingungslose Zuwendung zu Sündern mit harten Gerichtsworten abwechselten. Dieses Verhalten lässt sich auf konsistente Weise deuten als kritische Solidarität, in der Jesus mit den Menschen zutiefst solidarisch war – bis zuletzt um ihr Heil bemüht –, und gerade deshalb deren Positionen und Verhaltensweisen angriff, soweit diese heillos und letztlich selbstzerstörerisch waren.13 Diese Unterscheidung von Person und Position wird in dem Maße schwierig und riskant, als sich eine Person mit ihrer Position identifiziert bzw. ihre Identität von dieser Position her bezieht. Dasselbe gilt verschärft für die kollektive Positionierung von Menschen in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft.

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Der Straßengraben der Aggression

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Das Verhalten einer kritischen Solidarität fordert ein stetes Abwägen von Bejahung und Kritik, das durchwegs in Gefahr ist, in einen von zwei Straßengräben abzurutschen: einerseits in eine Kritik ohne Solidarität, in der mit der Position die Person zurückgewiesen wird. Ich schlage vor, das als den Straßengraben der Aggression zu bezeichnen. Damit meine ich allerdings nicht, dass Aggression an sich verwerflich wäre. Die Zurückweisung destruktiven Verhaltens kann notwendig aggressiv sein, und auch Jesus verhielt sich in diesem Sinne aggressiv. In den Straßengraben rutscht Aggression aber dann, wenn sie auf eine Totalablehnung von Personen hinausläuft, deren Positionen und Verhaltensweisen zu Recht „aggressiv“ verurteilt und bekämpft werden. Die Unterscheidung zwischen solchermaßen guter und schlechter Aggression ist theoretisch eindeutig, praktisch aber oft so schwierig, dass sie fast zwangsläufig verfehlt oder missverstanden wird. Wenn wir für Jesus annehmen, dass sein aggressives Verhalten – z.B. in Tempelaustreibung oder Verurteilung der Pharisäer und Schriftgelehrten – sich durchwegs diesseits des Straßengrabens der Aggression abspielte, so ist es doch gewiss, dass seine Aktionen und Reden nicht so verstanden, sondern als Frontalangriff gegen andere Personen und Institutionen gewertet wurden.

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Der Straßengraben der Resignation

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Auf der anderen Seite ist die solidarische Bejahung, die andere Personen bei aller Kritik doch erfahren, angesichts von ihrer Involviertheit in destruktive Positionen und Handlungen in steter Gefahr, in ein unkritisches Nachgeben abzurutschen. Dies möchte ich als Straßengraben der Resignation bezeichnen: Resignation bedeutet hier also nicht einen resignativen Rückzug, der die Menschen sich selbst überlässt, sondern ein Nachgeben gegenüber der geliebten (solidarisch bejahten) Person, so dass der Widerstand, der gegen die falschen Positionen und Handlungen einer Person oder Gruppe geboten wäre, geschwächt wird oder ganz ausfällt. Es gibt einen verführerischen Sog der Bejahung, dem, wie die Evangelien bezeugen, auch Jesus ausgesetzt war.14 Auch wenn Jesus nicht in diesen Straßengraben eines resignativen Nachgebens rutschte, so konnte doch sein Handeln so missverstanden werden.15

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Die Schwierigkeit des Mittelwegs

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Der konsequent durchgehaltene Mittelweg einer kritischen Solidarität wirkt maximal befreiend auf den gebundenen und solidarisch kritisierten Menschen. Das bedeutet aber zugleich, dass dieser Einfluss von nicht umkehrwilligen Menschen als maximaler Druck wahrgenommen wird.16 Jeder der beiden Straßengräben – nicht nur die konziliante Toleranz, sondern selbst eine aggressive Totalablehnung – ist leichter zu ertragen, weil die Ablehnung von Menschen, die nicht mehr als solidarisch erfahren werden, weniger schmerzhaft ist.

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So war Jesu kritische Solidarität für die nicht umkehrwilligen jüdischen Autoritäten maximal provozierend. Je mehr sie sich gegen Jesus versteiften, desto schwerer musste es für ihn werden, den Mittelweg einer kritischen Solidarität beizubehalten. Immer mehr musste jede Kritik zur Bestätigung einer aggressiven Totalablehnung und jede Geste der Solidarität zum Zeichen eines resignativen Nachgebens (im Zusammenbruch des kritischen Widerstands) werden.

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Rein „horizontal“ betrachtet – d.h. unter Absehung von Jesu durchgängig gehorsamer Ausrichtung auf seinen göttlichen Vater – würde hier der Weg der kritischen Solidarität schnell zur Sackgasse werden, der nur noch die Abwege von Aggression oder Resignation offen ließe. Sowohl eine egozentrische Ausrichtung – geleitet von dem Eindruck, den man beim Gegner hervorruft – als auch eine altruistische Ausrichtung, die sich ganz an den Möglichkeiten des Anderen orientiert, sind hier zum Scheitern verurteilt.17

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Jesus konnte seinen Weg der kritischen Solidarität bis ans Ende von Kreuz-Weg und Tod nur deshalb in rechter Weise beibehalten, weil er sich in jedem Augenblick vom göttlichen Vater und seinem Mittler, dem Heiligen Geist, führen ließ: „Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück.“18 Es ist Jesu Sendung von Gott her zu den Menschen, die zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation in immer größere Bedrängnis kommt.

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Im Straßengraben der Aggression würde Jesus den Adressaten seiner Sendung verlieren. Er wäre mit Gott gegen (oder: ohne) die Menschen und würde so seine Sendung vollständig verlieren: denn er hätte nicht nur die Menschen, sondern auch Gott verraten, der ihn ja zu den Menschen gesendet hat. – Im Straßengraben der Resignation hingegen würde Jesus die Botschaft seiner Sendung preisgeben. Er wäre mit den Menschen gegen (oder: ohne) Gott und würde so aus seiner Sendung schließlich vollständig herausfallen: Er würde nicht nur Gott, sondern auch die Menschen verraten, deren Heil ja nur in einer positiven Beziehung zu Gott gewährleistet ist.

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Jesus entgeht diesem von zwei Seiten drohenden Scheitern durch den unablässigen Blick auf den göttlichen Vater, indem er sich seine Sendung jeden Augenblick neu von Gott zusagen lässt, bis sich Szylla und Charybdis in seinem Verlassenheitsschrei am Kreuz beinahe treffen.

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Das Martyrium Jesu zwischen den Straßengräben von Aggression und Resignation

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Mit dem sich abzeichnenden gewaltsamen Tod verlor Jesu Weg jede innerweltliche Perspektive. Allein im gehorsamen Blick auf den Vater war es ihm möglich, gleichsam im Blindflug durch die einsetzende Finsternis die Orientierung zu behalten. So konnte er den Weg seiner kritischen Solidarität auch in seinem Leiden und Sterben beibehalten, ohne in jene Pervertierungen abzurutschen, die sich auch angesichts seines Martyriums durch die Straßengräben von Aggression und Resignation beschreiben lassen:

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Der Straßengraben der Aggression wäre gekennzeichnet durch ein Ausweichen in Gewalt19 oder durch ein Sterben in Hass und Ressentiment. Im Gegensatz dazu hält Jesus die liebende Solidarität auch gegenüber seinen Peinigern und Mördern durch. Er stirbt im Geist der Vergebung – „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34) –, der beginnend mit dem ersten Märtyrer Stephanus20 ein Kriterium für authentisches Martyrium war oder zumindest sein sollte.

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Der Straßengraben der Resignation hingegen bestünde in einem Sichschicken in das auferlegte Schicksal, auf die Weise, dass der Leidende und Sterbende sich widerstandslos mit dem Tun seiner Henker einverstanden erklärt. Demgegenüber hielt Jesus eine Haltung kritischer Solidarität bis zuletzt durch. Anstelle einfach duldend „die andere Backe hinzuhalten“ konfrontiert er den Diener des Hohepriesters mit dem Unrecht seines Handelns.21 Er weist Pilatus auf die Grenzen seiner Macht hin, und auch in seinem Schweigen wahrt er eine Würde, die das Missverständnis eines duldsamen Einverständnisses nicht aufkommen lässt. Gegenüber den Einseitigkeiten von nicht wenigen Kreuzestheologien ist hier klar festzuhalten: Jesus hat seinen Tod nicht gesucht!22 Er hat ihn als letzte Konsequenz einer durchgehaltenen kritischen Solidarität auf sich genommen.

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3. Die erlösende Bedeutung von Jesu Tod am Kreuz

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Zwei Fragen hatten wir eingangs gestellt: Wie kam es zu Jesu Kreuzestod? Und welchen Sinn hatte er? Die erste Frage haben wir beantwortet: Dass es unter den Bedingungen einer grenzorientierten persönlichen und kollektiven Identität faktisch dazu kommen musste, ist plausibel geworden. Wir können erklären, dass Jesus seinen Kreuzestod nicht direkt angezielt hat, sondern dass dieser die Konsequenz einer durchgehaltenen kritischen Solidarität war, deren Vortrefflichkeit sich dadurch bestätigt, dass jeder andere Weg einen Verrat von Jesu Sendung bedeutet hätte.

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Damit ist aber noch nicht gezeigt, dass dieser beste aller Wege auch das Ziel einer Erlösung der Menschen erreichte. Das bisher Aufgezeigte scheint eher zu bestätigen, dass jedes Heilsangebot Gottes auf dieser Welt zum Scheitern verurteilt ist.23 Unsere zweite Frage nach dem Sinn des Kreuzestodes müsst dann negativ entschieden werden: kein Sinn.

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Kreuz und Auferstehung

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Hier ist nun ein zweiter Zusammenhang zu berücksichtigen: Damit der Kreuzestod Jesu hinlänglich verstanden wird, ist er nicht nur im Zusammenhang mit dem Vorher der Gottesreichverkündigung zu begreifen, sondern auch im Blick auf das Nachher der Auferstehung. Hier stoßen wir allerdings mit Erklärungsversuchen endgültig an eine Grenze. Dass der von den Menschen Verstoßene durch den göttlichen Vater aus dem Tod errettet und so erneut geschichtsmächtig wird, erscheint wie das irrationale Eingreifen eines „Deus ex machina“. Und selbst wenn man diese Möglichkeit zugesteht: Was wäre damit geholfen für die Erlösung der Menschen, zu der Jesus ja gesandt war?

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Unsere Verstehensversuche müssen sich hier von dem leiten lassen, was faktisch geschehen ist. Zwischen der Kreuzigung und einer sehr kurzen Zeit nachher ist mit den Jüngern Jesu etwas passiert, das mit konventionellen Erklärungsversuchen unverständlich ist. Die vordem verängstigten Menschen begannen mit einer solchen Kraft und Freimut aufzutreten, dass daraus eine explosionsartige Verbreitung des Christentums resultieren konnte, – und zwar zumindest in den Anfängen und gemäß den leitenden urkirchlichen Impulsen ohne Ressentiment, Fanatismus und Gewalt! Was den Jüngern vordem vollkommen unzugänglich war, nämlich selbst den Mittelweg einer kritischen Solidarität zu gehen,24 ist ihnen nun – begonnen mit der Pfingstpredigt des Petrus – auf eine höchst bemerkenswerte Weise möglich. Sie selbst erklären das durch die Kraft und die Führung des Heiligen Geistes, der ihnen vom Auferstandenen vermittelt wurde.

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Angesichts des Scheiterns aller anderen Erklärungsmöglichkeiten gewinnt die von der Bibel vorgetragene Erklärung – Auferstehung des Gekreuzigten – höchstes Gewicht, obwohl sie quer steht zu einem modernen, methodisch reduzierten Geschichtsverständnis. Geleitet von den biblischen Erfahrungen und Erklärungen lässt sich die erlösende Bedeutung des Todes Jesu erschließen.

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Die zerbrochenen Fesseln des Todes

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Im Licht von Auferstehung und Geistsendung hat Jesu Kreuz-Weg der kritischen Solidarität sich nicht als Sackgasse erwiesen, sondern als Durchgang in ein neues Leben, das durch die Todesmächte nicht mehr bedroht werden kann.25 Damit wird für Christen eine Kreuzesnachfolge möglich. Der angenommene Tod steht nicht bloß am Ende, sondern bereits am Anfang jeder christlichen Existenz: durch eine Taufe, die Taufe auf Christi Tod ist, damit wir „mit ihm leben“ (Röm 6,8) und so in unserem Leben „dem Tod die Macht genommen“ (2 Tim 1,10) ist. Wo dieser sakramentale Vollzug des Sterbens und Auferstehens in Christus wirklich eingeholt wird, bewirkt er eine Befreiung von Todesmächten, die sich nicht nur in Situationen realer Bedrohung auswirkt, sondern weit darüber hinaus. Denn nicht nur der physische Tod (mit seinen Vorformen der Krankheit und des Leidens), sondern auch der soziale Tod (in jeder Vorform von Isolation, Ausgrenzung und relativer Benachteiligung)26 bedrohen als ein fast durchgängig gegenwärtiges Existenzial jedes menschliche Leben. Die Macht des Todes, die „diese Welt“ knechtet, besteht nicht nur in den zahllosen Formen eines real erfahrbaren physischen oder sozialen Todes, sondern darüber hinaus in einer tief in unser Leben und unsere Kultur eingegrabene Angst vor dem Tod in all seinen Gestalten (vgl. Hebr 2,14f), – eine Angst, die geeignet ist, Menschen zu korrumpieren und zu erpressen. Dass diese universale Macht durch Christus besiegt ist, wird von Menschen bezeugt, die den Gesichtern des Todes in seinen zahllosen Facetten die Stirn bieten. Dieses Zeugnis – griechisch: martyrion – ist der wesentliche Gehalt von dem, was in der Situation eines gewaltsam zugefügten physischen Todes Menschen zu Märtyrern im ursprünglich christlichen Sinn macht.

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4. Einige Kriterien für ein authentisches christliches Martyrium

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Aus der vorausgehend entwickelten Theologie des Martyriums lassen sich Kriterien für ein authentisches christliches Martyrium entwickeln oder auch bestehende Kriterien präzisieren. Letzteres soll nun geschehen, wobei nicht nur etablierte Kriterien berücksichtigt werden sollen, sondern auch solche, die neuerdings in die Diskussion gebracht wurden. Im Rahmen dieses knappen Aufsatzes kann dies allerdings nur skizzenhaft und unvollständig unternommen werden.

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Verfolgung und gewaltsamer Tod

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Christliches Martyrium ist die zeichenhaft sichtbare Vergegenwärtigung von jenem Sieg über die Todesmächte, den Jesus Christus am Kreuz bewirkt hat, und der für jeden Christen bereits in der „Taufe auf den Tod“ (Röm 6) vorgezeichnet ist. Zeichenhaft sichtbar wird dieser den Tod besiegende Tod dort, wo das Zeugnis („Martyrion“), das jedem Christen von der Taufe an aufgetragen ist, auf den Widerstand von Todesmächten stößt, so dass diese Mächte durch dieses Zeugnis auf das Äußerste provoziert werden und sie ihre sündige Kerngestalt als Lüge und Mord (vgl. Joh 8,44) offenbaren.27

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Kann auch ein leidvolles Leben ohne gewaltsamen Tod unter Umständen als Martyrium im christlichen Sinn bezeichnet werden? Für diese Frage lässt sich das oben beschriebene erweiterte Verständnis von Tod und Todesmächten heranziehen, zu dem auch Leiden und Krankheit, sowie die Isolation eines „sozialen Todes“ dazugehören. Von einem Martyrium wäre dann sinnvoll zu sprechen, wenn dieses „Todesleiden mitten im Leben“ so zum Zeugnis von Jesu Sieg über den Tod wird, dass es sich ersichtlich gegen den Widerstand von „Agenten dieses Todes“ (z.B. rücksichtslos gewalttätige oder abgebrüht gleichgültige Menschen) durchsetzt, ihnen gegenüber die Haltung einer kritischen Solidarität in Widerstand und Vergebungsbereitschaft durchhält und durch das Leiden hindurch die Perspektive auf Leben (Auferstehung) durchscheinen lässt.

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Glaubenszeugnis

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Martyrium gründet in einem Zeugnis, das jedem Christen von der Taufe an aufgetragen ist. Es ist Zeugnis für eine Wahrheit im Widerstand gegen Mächte, für die diese Wahrheit bedrohlich ist. Für Menschen im Bann dieser Mächte wird Lüge (Verdrängung von Wahrheit) zum Mord (Verdrängung von Menschen), und zwar im Versuch, eine unbequeme Wahrheit zu unterdrücken, indem man die Zeugen dieser Wahrheit zum Schweigen bringt. Was ist das für eine Wahrheit? Da der Märtyrer bzw. die Märtyrerin diese Wahrheit im Modus des Verstummens zur Sprache bringt, ist ihr zentraler Gehalt nicht auf ein auswortbares Bekenntnis festgelegt. Die von Christen im Allgemeinen und von Märtyrern im Besonderen bezeugte Wahrheit kann angenähert werden als das Offenhalten einer Mitte,28 die nur Gott gehört, deren Vereinnahmung und Funktionalisierung aber im größten Interesse von Mächten, Gewalten und Ideologien steht (vgl. Mt 4,10). Diese Mitte leuchtet auf im Innersten (in der „Seele“) der menschlichen Personalität, deren Unantastbarkeit sich nur derart wahren lässt, dass sie „Gott gehört“ und für nichts und niemanden preisgegeben werden darf. Und diese Mitte leuchtet auf in der „warumlosen“ Schönheit des Geschaffenen, welche den Widerstand gegen seine restlose Verzweckung verlangt.

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Diese Wahrheit kann adäquat ausgedrückt werden durch den Ausruf „Jesus Christus ist der Herr“ (Phil 2,11), sodass ein Christ, der mit diesen Worten auf den Lippen von den dadurch provozierten Mächten zum Schweigen gebracht wird, im eigentlichen Sinn als Märtyrer gelten kann. Aber diese Worte sind nur der Ausdruck für eine Wahrheit, die durch das Durchleiden des Martyriums auch dort bezeugt wird, wo diese Worte keinen Hörer oder auch keinen Sprecher mehr finden. Und diese Wahrheit kann auch dort bezeugt werden, wo ein Mensch diese unverfügbare Mitte im Widerstreit gegen sie beanspruchende Mächte um den Preis seines Blutes offenhält, auch ohne sie ausdrücklich als Gott Jesu Christi benennen zu können. Wenn unsere bisherigen Überlegungen richtig sind, dann kann unter Umständen auch ein anonymer Christ zum Märtyrer im authentisch christlichen Sinn werden.29

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Dass das nicht ganz ausgeschlossen werden kann, lässt sich zumindest an folgendem Grenzfall verdeutlichen: Es ist möglich, dass einem für eine Wahrheit (im oben genannten Sinn) bis zum Tod eintretenden Menschen an der Schwelle des Todes Jesus Christus als der Weg, die Wahrheit und das Leben aufgeht. Würde er dieses Zum-Glauben-Kommen noch laut bekennen, dann wäre er im klassisch-christlichen Sinn ein Märtyrer. Was aber, wenn dieses Bekenntnis aus äußeren Gründen nicht gesprochen oder nicht gehört werden kann? Dann könnte vielleicht immer noch eine Konvergenz des Lebens dieses Menschen auf ein Blutzeugnis Christi hin festgestellt werden.30 Eine solche Konvergenz wäre auch dann als Glaubenszeugnis für die Nachwelt bedeutsam, wenn dessen Vollendung im expliziten Christusbekenntnis nicht nur zufällig ausgefallen, sondern tatsächlich noch nicht erreicht wurde.
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Das Martyrium darf nicht gesucht oder provoziert werden

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Ein im christlichen Sinn authentischer Märtyrer wie Jesu demKreuz-Weg einer kritischen Solidarität zwischen Aggression und Resignation gefolgt. Dieser Weg ist nur gangbar im unausgesetzten Blick auf den himmlischen Vater, der den Menschen seine Sendung je neu zumisst, – im Blick auf Jesus Christus, der als Gekreuzigter den schmalen Weg des Lebens zwischen den beiderseitigen Abgründen des Todes offenhält. Es ist die Blickrichtung, die wir exemplarisch für den ersten christlichen Martyrer Stephanus bezeugt finden, der nicht auf die Empörung seiner Gegner starrte, sondern „erfüllt vom Heiligen Geist zum Himmel emporblickte“ und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen sah (Apg 7,56). Wo sich die Konfrontation mit den die Menschen knechtenden „Mächten und Gewalten“ (vgl. Röm 8,38) zuspitzt, führt jeder Seitenblick gnadenlos zu einem Spurverlust, entweder in den Straßengraben der Aggression oder der (dem Druck der Gegner nachgebenden) Resignation. In beide Richtungen kann das Martyrium geflohen werden, entweder durch Zuflucht in die Gewalt oder durch ein Einlenken auf die Vorstellungen der Gegner. Und auf beiden Abwegen kann das Martyrium in einer inadäquaten Weise gesucht werden: entweder resignativ im Einverständnis mit dem tötenden Willen der Gegner oder aggressiv in einem inszenierten Fanal, welches nur mehr die Täter bloßstellen und den Zorn der Nachwelt gegen sie entfachen will.

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Bereitschaft zur Vergebung

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Die Bereitschaft zur Vergebung als Kriterium für ein authentisches Martyrium wird exemplarisch von Stephanus, dem ersten christlichen Märtyrer bezeugt, der in Nachahmung des gekreuzigten Christus ausrief: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apg 7,60; vgl. Lk 23,34). Diese Vergebungsbereitschaft entspricht der „martyrologischen“ Anforderung einer kritischen Solidarität, in Abhebung zum „Straßengraben der Aggression“. Anderseits darf der solcherart gebotene Wille zur Vergebung nicht in das andere Extrem eines Einverständnisses mit dem tötenden Willen der Gegner abrutschen. Vergebung bedeutet hier, dass der Märtyrer – in einer Kreuzesnachfolge Christi – stellvertretend für seine Mörder jenen schmalen Weg ins Leben offenhält, den er selber in seinem Kreuz-Weg durchschreitet: nicht um ihn seinen Gegnern zu ersparen, sondern damit diese ihn – nicht ohne die Qualen einer brennenden Liebesreue – nachvollziehen können, wenn sie zur Umkehr gelangt sind (vgl. 2 Kor 5,14f).

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Anmerkungen

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1 Dies im Unterschied zu anderen Möglichkeiten, – etwa im Blick auf die Zweckmäßigkeit einer Selbstaufopferung von Menschen zur Bewahrung oder Wiedergewinnung gesellschaftlicher Werte.

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2 Mit dieser Kritik weise ich nicht jede Theologie und Spiritualität von Opfer und Sühne zurück, sondern nur solche Formen, deren Begriff von Opfer und Sühne aus einem Kreuzesverständnis resultiert, das den Tod und das Leiden Jesu losgelöst von seinem Einsatz für die Menschen und isoliert von seiner Auferstehung betrachtet.

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3 Das entspricht der christologischen Hermeneutik von fünf Akten bei Raymund Schwager (1990), 41-203.

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4 Vgl. Sandler (2009) v.a. 137-148.

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5 Vor allem nach dem Markusevangelium ist die Austreibung von Dämonen ein zentrales Merkmal des öffentlichen Wirkens Jesu, mindestens so sehr wie die Wunderheilungen. Für ein angemessenes Verständnis der neutestamentlichen Rede von Dämonen und Dämonenaustreibungen vgl. W. Sandler, Jesus Christus, Sieger über Teufel und Dämonen. Biblische Perspektiven für einen effektiven Widerstand gegen den Sog des Bösen. In: Amor, Christoph; Ladner, Gertraud: Die Macht des Bösen (theologische trends 18). Vorträge der neunten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2008. Innsbruck: innsbruck university press (IUP), 205-236.

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6 Vgl. Sandler, Jesus Christus, Sieger über Teufel und Dämonen (s. Anm. 5), v.a. das 6. Kapitel.

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7 Zu den im Folgenden skizzierten zwei Grundtypen von Identität vgl. W. Sandler, Kirche als Sakrament des Heilsdramas Jesu Christi. In: Kirche als universales Zeichen. In memoriam Raymund Schwager SJ (Beiträge zur mimetischen Theorie 19). Hg. von R. Siebenrock / W. Sandler. Münster u.a. 101-138, v.a.: 109-116 (im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/596.html#ch5), sowie: W. Sandler, Heilung von Gemeinschaft bei Jesus von Nazaret (im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/738.html#ch12), darin das Kapitel: 3. Heilung von Gemeinschaft als Transformation von einer abgrenzend-identifizierenden zu einer positiv-bezogenen Identität.

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8 In diesem Sinn lässt sich sagen, dass sich Jesu Verhalten in der Weise eines „Community-Tests“ auswirkte. Vgl. dazu: Sandler, Heilung von Gemeinschaft (s. vorige Anm.), das Kapitel: „Der Com-muni-ty-Test“ [im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/738.html#ch19].

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9 Zum Beispiel wird eine Bestimmung von Jesu Identität als Sohn des Josef und der Maria schon in Frage gestellt durch die Perikope vom zwölfjährigen Jesus im Tempel: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ (Lk 2,49); später: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? ... wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Mt 12,48-50). Wer Jesus als Sohn des Josef erkannte, musste ihn zwangsläufig verkennen (Mt 13,55; Mk 6,3; Lk 4,22; Joh 1,45).

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10 Die Israeliten wollten wie seine eindrucksvollen Nachbarn auch einen König haben (vgl. 1 Sam 8,5). Sie waren fasziniert von der Streitmacht Ägyptens (vgl. Jes 31,1-3) und vertrauten auf Diplomatie (vgl. Jes 36,6). Dieses Verhältnis der Faszination und Rivalität bewirkt, dass Menschen sich von den – angestrebten oder als Besitz protzig zur Schau gestellten – Begierdezielen anderer bestimmen lassen. Darin liegt die zwischenmenschliche und gesellschaftliche Dimension eines Götzendienstes, der zwangsläufig zu Gewalt und Untergang durch Gewalt führt. Diese Problematik wird in der Innsbrucker dramatischen Theologie im Gefolge von Girards mimetischer Theorie scharf herausgearbeitet. Vgl. R. Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. Thaur 31994.

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11 – Und zwar sowohl nach außen (in Ausgrenzung von Nichtdazugehörigen) als auch nach innen (in der strikten Wahrung von hierarchischen Ordnungen).

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12 Vgl. Sandler, Kirche als Sakrament (s. Anm. 7) 118-123 (die Kapitel 4.3 und 4.4); im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/596.html#ch7.

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13 Zur kritischen Solidarität vgl. außer dem Verweis in der vorigen Anm.: W. Sandler, Stadt auf dem Berg? Kirche in der Spannung von Vorbild-Auftrag, Solidarisierung mit Sündern und eigener Schuld. In: Sandler, Willibald; Vonach, Andreas (Hrsg.): Kirche: Zeichen des Heils – Stein des Anstoßes (theologische trends 13). Vorträge der vierten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2003. Frankfurt a.M. 97-133, hier: 105-109; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/496.html#ch7.

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14 Das Johannesevangelium beschreibt die kollektive Dynamik, die die Brotvermehrung auswirkte: Das Volk wollte Jesus zum König machen (Joh 6,15), und so geriet sein von Mitleid motiviertes Brotwunder in große Nähe zu seiner ersten Wüstenversuchung: aus Steinen Brot zu machen. Und alle drei Synoptiker beschreiben, wie der eben hochgelobte Petrus Jesus ihn in Versuchung führt, indem er ihm seinen Leidensweg nach Jerusalem ausreden will (Mt 16,22f).

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15 So fühlten sich die Jünger durch ihre Erwählung profiliert und stritten um die ersten Plätze.

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16 Vgl. Sandler, „Schrecklich ist s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“. Gratwanderungen zwischen dem liebenden und dem zornigen Gott im Licht einer Erzählung von Dostojewskij. In: W. Sandler, N. Wandinger (Hrsg.): Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001 (theologische trends 11). Thaur - Wien: Druck- und Verlagshaus Thaur, 47-84, das fünfte Kapitel. Im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/264.html#65.

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17 Letzteres ist deshalb zum Scheitern verurteilt, weil ab einem gewissen Punkt jedes Verhalten vom Anderen falsch interpretiert wird.

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18 Jes 50,5. Vgl. auch die Fortsetzung: „Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel.“

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19 Vgl. Mt 26,52-54: „ ... Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte? Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, nach der es so geschehen muss?“

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20 Vgl. Apg 7,60: „Dann sank er in die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Nach diesen Worten starb er.“

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21 Vgl. Joh 18,23: „Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?“ Damit wird Jesu Forderung der Bergpredigt, dem Schlagenden die andere Backe hinzuhalten, natürlich nicht zurückgewiesen, sondern abgesichert gegen ihr Missverständnis einer falschen Duldsamkeit, die es versäumen würde, den Gegner mit der Wahrheit seines gewalttätigen Tuns zu konfrontieren und so in den „Straßengraben der Resignation“ verfallen würde. Vgl. in diesem Sinn auch die Problematik von duldsamen Jesus-Typen in Lars von Triers Filmen „Breaking the Waves“ und „Dogville“. Dazu: W. Sandler, Die pervertierte Gabe. „Dogville“ aus der Perspektive der dramatischen Theologie. In: Orth, Stefan; Staiger, Michael; Valentin, Joachim: Dogville – Godville: methodische Zugänge zu einem Film Lars von Triers. Zugänge zu einem Film Lars von Triers (Film und Theologie 12). Marburg 213-229.

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22 Das wird deutlich herausgearbeitet von Schwager (1990) 203-248.

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23 Auf diese Konsequenz scheint ja auch das Gleichnis von den bösen Winzern hinauszulaufen.

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24 Vgl. das Pendeln von Petrus zwischen Verrat und Gewalttätigkeit (gegen Malchus).

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25 Vgl. Röm 6,9: „Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn.“

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26 Vgl. hier das jüdische Verständnis von Krankheit und Tod, das eng mit der sozialen Dimension der Isolation verknüpft ist.

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27 Von daher erscheint es als folgerichtig, dass seit dem frühkirchlichen Martyrium des Polykarp der Begriff „Martyrion“ auf das Blutzeugnis eingeengt wurde.

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28 Vgl. W. Sandler, Die offen zu haltende Mitte. Negative Theologie in dramatischer Polyperspektivität. In: Halbmayr, Alois; Hoff, Gregor Maria: Negative Theologie heute? Zum aktuellen Stellenwert einer umstrittenen Tradition (QD 226). Freiburg i. Br 152-170, hier v.a. 168-170; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/877.html#ch8.

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29 Diese Tür für ein christliches Martyriumsverständnis zu öffnen, hieße noch nicht, jedes Sterben im Einsatz für irgendeine vermeintlich gute Sache schon mit den Weihen eines solcherart inflationär werdenden Martyriumsbegriffs zu versehen. Maßgeblich wären die selben Kriterien, die auch bei christlichen „Anwärtern“ für die Bezeichnung „Märtyrer“ anzulegen sind. Die Theologie des Martyriums, die in diesem Aufsatz skizziert wurde, steht und fällt nicht mit einem expliziten Christusglauben.

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30 Das wäre möglich mit Karl Rahners Kriterien der Nächstenliebe, der Hoffnung auf Zukunft und der Annahme des Todes. Vgl. ders., Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg i.Br.-Basel-Wien 1976, 288-291.

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