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Kirchenerfahrung als dramatischer Prozess
(Zur ekklesiologischen Dignität der Basisgemeinden)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Hoffnungsträger Basisgemeinden. Das 10. Treffen der brasilianischen Gemeinden im Juli 2000. Berichte - Dokumente - Kommentare. Hg. von der Missionszentrale der Franziskaner e. V., Bonn 2000, 26-33.
Datum:2001-10-17

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Wo beginnen die theologischen Wurzeln dieser Kirchengestalt? Bei der Polarisierung von Hierarchie und Volk Gottes, oder bei der Gegenüberstellung von traditioneller Frömmigkeit und modernem gesellschaftspolitisch fokussierten Glaubensengagement? Das Treffen in Ilhéus verwirrte mich gewaltig. In den kleinen Gruppen hörte ich den Jugendlichen zu, die von ihren Rosenkranzgruppen und ihrer Novennenfrömmigkeit erzählten, und in den Pausen nahm ich unzählige Verkaufstände wahr, auf denen herrlich kitschige Heiligenstatuen im besten Nazarenerstil verkauft wurden. Zahlreiche Priester und Bischöfe wurden mit "kindlicher Verehrung" begrüßt. Der junge Gemeindeleiter, dessen Gemeinde aus einer Rosenkranzgebetsgruppe entstanden ist, engagiert sich aber gleichzeitig in der Gewerkschaftsbewegung und der Kleinbauernvereinigung und hält die Verknüpfung der Glaubensfragen mit dem politischen Engagement für unverzichtbar. Das Erscheinungsbild der Basisgemeinden ist so bunt, dass es kaum bunter werden kann. Es steht in der besten katholischen synkretistischen Tradition. Welche Glaubensvision verbindet sie? Ist es die Vision jener Theologinnen und Theologen, die in den Basisgemeinden ein Werkzeug zur Beglaubigung ihrer Theorien sehen? Hört man ihnen zu, so nimmt man eine Kirchlichkeit wahr, die aus der Wirkung des Heiligen Geistes entsteht, sich bei der Bibellektüre in verschiedenster Form ereignet und im gesellschaftlichen Engagement mündet. Diese Kirchlichkeit soll bewusst ökumenisch ausgerichtet bleiben, v.a. größere protestantische Denominationen einbeziehen, den synkretistischen Traum einer Integration traditioneller afrobrasilianischer Kulte pflegen und auch einige Gegner haben. Diese sind vor allem bei den charismatischen Bewegungen sowohl auf katholischer als auch auf protestantischer Seite zu finden. Dort scheint es für die Theologenzunft eine klare Grenze ökumenischer Verständigung zu geben. Auch antiklerikale Stimmungen sind nicht zu überhören. Hört man aber den einfachen Delegierten zu, so wird man feststellen, dass es da genug an eigenständiger Religiosität gibt, die von dieser theologischen Reflexion unberührt bleibt und sich dem akademischen Aufklärungsinput verweigert.

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Warum dann also nicht gleich dort beginnen, wo ein anonymer Maler uns mit seinem Bild hingeführt hat. Wir entdeckten es in der Turnhalle. Beim 10. Treffen der brasilianischen Basisgemeinden, zu dem viele Gruppen ihre regionalen Plakate mitgebracht haben, fanden wir - Franz Weber, Matthias Scharer und ich - ein transformiertes Bild der Philoxenia. Anknüpfend an die berühmte Ikone der Trinität, die der russische Maler Andrej Rubljew 1410 malte, zeigt der brasilianische Künstler die tiefsten Wurzeln der Kirchenerfahrung und illustriert damit ein Bild von Kirche, das zu den tiefsinnigsten des 2. Vatikanischen Konzils gehört. Es vereinigt die Perspektive der trinitarischen Communio mit der der ekklesialen Gemeinschaft; die Inkulturationspoblematik ist an ihm genauso ablesbar wie die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit. Schlussendlich ist in dem Bild die Basisorientierung im Kontext ekklesialer Sammlungsprozesse nicht zu übersehen. Durch den Fokus dieses Bildes betrachtet, präsentieren sich die Basisgemeinden als ein konkreter Ort der Kirchlichkeitserfahrung in der Gegenwart. Sie sind ja "kein idealtypisches, aus der Geschichte herausgehobenes Gemeindemodell. Sie sind 'Kirche auf dem Pilgerweg' und tragen in sich und an sich genauso jene Widersprüche, in die sich die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit immer wieder verstrickt." (1)

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Nimmt man den anonymen Künstler ernst, so wird die Deutung solch ekklesialer Erfahrungen bei jener Erzählung ansetzen müssen, die den zahlreichen Bildern dieses Typus Pate stand. Es ist die biblische Perikope Gen 18,1 ff und die dort erzählte Geschichte vom Besuch Gottes in der Gestalt der drei Wanderer bei Abraham. Wieso kommt denn Gott überhaupt zu ihm? Gott erscheint mitten im Alltag des alt gewordenen Abraham eigentlich nur deswegen, um dabei zu sein und damit sein Segen zu den Menschen kommt. Dieser Segen steht aber im Zusammenhang mit dem Wohlergehen der Menschen auf Erden, mit der Gesundheit und dem selbstverständlichen Glück. Er wird auch mit den allgemeinmenschlichen primären Bedürfnissen: mit Essen und Trinken, mit Geborgenheit und Lebenslust assoziiert. (2) Die profundior et universalior appetitio der Menschen (GS 9), die gelebte Sehnsucht nach einem Leben, das des Menschen würdig wäre - gerade im Kontext der Frage nach der Erfüllung primärer menschlicher Bedürfnisse - und das gefeierte sich Einlassen Gottes auf die Banalität des Alltags stellen gerade für die basisgemeindliche Kirchenerfahrung den logischen und biographischen Zugang zur Beschreibung der Geschichte Gottes mit der Menschheit dar. Das Miteinander-Essen und Miteinander-Trinken, die geteilte Sorge um das tägliche Brot und die Bereitschaft zu teilen stellen die fundamentalsten Schnittstellen, an denen sich die göttliche Communio auf die kirchliche Gemeinschaft von Menschen öffnet und diese trotz aller Widersprüchlichkeit und Fragmentarität als gesegnet offenbart.

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Seit dem 4. Jahrhundert (ein Mosaik in S. Maria Maggiore) ist dieser Bildtypus in der christlichen Welt bekannt. Immer und immer wieder wird ein und dasselbe Geschehen gemalt: Drei verschiedene Personen kommunizieren miteinander. Jede ist auf die anderen angewiesen, bekommt von den anderen Dynamik und Leben und schenkt diese weiter. Über- und Unterordnungen kennt das Bild nicht. Im Unterschied zu den traditionellen Darstellungen sprengt der brasilianische Künstler die unabschließbare Kreisbewegung, die in den klassischen Bildern nur auf die anderen Personen der Dreiheit verweist und lässt unzählige Menschen am Leben der drei teilhaben. Mit dieser Logik trägt er der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils voll und ganz Rechnung. Zu den fundamentalsten Aussagen zur Frage der Kirche gehört dort das Bekenntnis zum Geheimnis der Einheit von Vater, Sohn und Geist und dem universalen Heilswillen Gottes, der die Menschheit in die trinitarische Einheit zu ihrem Heil integriert. Dieser göttliche Heilswille stellt aber nicht nur eine Möglichkeit und ein Angebot an die Menschheit dar. Er setzt sich in Geschichte und Gegenwart durch und gilt nicht primär den Individuen, die je einzeln gerettet und nachträglich zu einem sozialen Gebilde geschlossen werden (3). Gott ruft zwar jeden beim Namen, doch er ruft nicht einen isolierten Menschen; seine Beziehung "materialisiert" sich geradezu in den vielen Beziehungen der Menschen untereinander, in gemeinsamen - oft mit Blut und Tränen geschriebenen - Lebensgeschichten, kontextuellen Traditionen und allzu ambivalenten Zeichen. Menschen aller Rassen und Klassen, aller Schichten und Gruppen, Menschen verschiedener Hautfarben werden durch Gottes universalen Heilswillen zu einer Gemeinschaft geschlossen. Trägt die institutionelle Kirche diesem Universalismus Rechnung, so darf sie daran glauben, dass in ihr die wahre Einheit der Menschheit untereinander und die Einheit mit Gott verwirklicht ist (vgl. LG 8). Schaut man sich die programmatischen Aussagen zum Thema Integration von den Anderen an, richtet man das Augenmerk auf die unzähligen Initiativen zur Einbindung der afro-brasilianischen Kulte, der indigenen Bevölkerung, so überfällt einen zuerst die Angst, ob sich diese Kirchlichkeitsform nicht überfordert. Anderseits darf man die Tatsache nicht unter den Tisch fallen lassen, dass gerade die Basisgemeinden durch ihren Integrationsdienst der Weltkirche einen unverzichtbaren Dienst im Hinblick auf den Ausweis ihrer Katholizität und auch ihrer Kirchlichkeit gemäß LG 8 leisten. Dafür müsste die Weltkirche den Basisgemeinden dankbar sein. Ihre Integrationspraxis stellt ja die Schnittstelle dar, an der der universale Heilswille Gottes, der von Anfang an ekklesiale Züge hatte, kontextuell glaubwürdig bezeugt wird.

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Zum anderen aber wird durch das Bild der hierarchiekritische Aspekt angedeutet. Der Traum von einer Kirche, in der die Über- und Unterordnungen ihre Bedeutung verlieren, wurde in den Basisgemeinden von Anfang an gelebt.

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Und noch ein Element des Bildes darf nicht unberücksichtigt bleiben. Es ist der Tisch, um den sich die drei Personen zusammengefunden haben und zu dem auf dem brasilianischen Bild auch alle anderen Menschen gehen. Der Tisch scheint mit dem Opfertisch identisch zu sein: Es ist ein Altar! Selbst der Platz für die Reliquien der Märtyrer ist nicht zu übersehen. Auf dem Tisch steht ein Kelch, gefüllt mit Wein. Das Bild weist deutlich auf den Preis hin, der für die Verwirklichung des göttlichen Heilswillen gezahlt wird. In einer Welt, die von Götzen beherrscht und durch Opferverhalten strukturiert wird, in der Menschen verhungern und verdursten müssen, kann Kirche Wirklichkeit werden, weil Hingabe zuerst von Gott selber gelebt wird. Der anonyme Künstler verhilft der Logik des Zweiten Vatikanums zu einer Plastizität. Der universale Heilswille Gottes, der sich an vielen - konfliktuellen - Geschichten der Menschen "materialisiert", inkarniert sich schlussendlich in seinem Sohn. Dessen zentrales Anliegen war zwar eine unmittelbare Sammlung von Menschen, dessen irdische Lebensgeschichte endete aber in der Sackgasse einer Sammlung gegen ihn. Sein Tod stellt den Höhepunkt der endlosen Opferungsprozesse in der Geschichte der Menschheit und deren Transformation dar; seine Auferweckung durch den Vater und die Geistsendung verwandeln die Allianz gegen ihn in eine vom Geist getragene Gemeinschaft. Gerade weil Gott in Christus in die Schicksalsgemeinschaft einer durch Endlichkeit, Versagen und Schuld gekennzeichneten Welt eingetreten und ihr sogar zum Opfer gefallen ist, kann ja die Kirche an den alle Grenzen aller Schicksalsgemeinschaften überwindenden Heilswillen glauben und ihn auch in der Eucharistie feiern.(4)

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Im Opfer- und Altartisch verdichten sich die tagtäglichen Ausgrenzungsprozesse, das Verhungern- und Verdurstenlassen und die Transformation des götzendienerischen Tuns. Im Eingebundensein in die unausweichlichen und immer gewaltsamer werdenden Mechanismen der Ausgrenzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik, in der in Kauf genommenen Mittäterschaft und auch dem Versagen, aber auch im prophetischen Widerstand, der bewussten Zuwendung zu den Opfern und schlussendlich im Erleiden des gewaltsamen Geschicks (siehe: Altarhohlraum für die Reliquien der Märtyrer), durch die unzähligen Mitglieder der Basisgemeinden wird diese Art der Kirchenerfahrung in der bis zum Zerreißen gespannten Dramatik erst wahrnehmbar und greifbar. Sie ist ambivalent und wird es auch bleiben. Ihre Eindeutigkeit bekommt diese Kirchenerfahrung weder durch den sozialethischen und kirchenpolitischen Ernst ihrer Mitglieder noch durch die faktisch gemachte Opfererfahrung, sondern durch die eindeutige Haltung jener Person auf dem Bild, die die Mitte des Bildes ausmacht. Einzig und allein die Hingabe Christi vermag die Ambivalenz zu verwandeln. Es geht dabei um jene Erfahrungen der Kirchlichkeit, die die Nöte und Hoffnungen der Armen, die Verletzungen der Menschenwürde am eigenen "Leib" trägt. "Der Mann der Schmerzen, die Frau der Schmerzen": Gottesknecht von Jesaja, Jesus und Amerika mit den massakrierten Indianern und ausgebeuteten Schwarzen: Das sind Spuren, an denen der göttliche, universelle Heilswille greifbar wird, weil Gott selber sich mit den Leidenden identifiziert (5)

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Deswegen fokussiert auch das Bild die Eucharistie, jenes Geheimnis der Wandlung des mysterium tremendum in ein mysterium fascinosum. Von der Eucharistie wird ja schlussendlich die ekklesiale Relevanz sowohl der Erfüllung von primären menschlichen Bedürfnissen, wie miteinander essen und trinken erst voll begreiflich, wie auch der Dramatik der tagtäglich erfahrenen Ausgrenzungsprozesse und deren Transformation.

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Die traditionelle Unterscheidung zwischen der Verbesserung der Lebensbedingungen, den "Diesseitserwartungen" und der Hoffnung auf das ewige Heil wird damit als für diese Ekklesiologie nicht mehr tragfähig radikal zurückgewiesen. Bereits Franz Weber hielt fest, dass der Großteil der Armen nicht zwischen der Erfüllung irdischer und jenseitiger Hoffnungen unterscheidet und von der religiösen Grundhaltung geprägt bleibt, die er mit dem alten Wort "Gottvertrauen" wiedergibt. Diese zutiefst ekklesiale Glaubenshaltung macht auch die Armen zu Hoffnungsträgern in der Kirche. (6) Die Vision des ewigen Gastmahls, der communio sanctorum, angesichts der trinitarischen Communio, die eucharistische Gemeinschaft und das Miteinander-Essen und Miteinander-Trinken von Menschen gehören zusammen, genauso wie die christologische Sicht vom "großen Kreuzweg unseres Volkes": "mit seinen zahllosen Stationen... der leidende Gottesknecht Jesus Christus in unseren armen Brüdern und Schwestern immer wieder neu massakriert, gefoltert und gekreuzigt wird." (7)

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Natürlich hat der weltweite Siegeszug neoliberaler Wirtschaftslogik, gekoppelt mit der "Erlösungsbotschaft" kommerzieller Medien, diese Dramatik der Kirchenerfahrung verschärft. Die neue "electronica et oeconomica religio" (religio von Bindung) scheint überall in der Welt und zu jeder Zeit Grenzen und Barrieren zu überwinden; dem göttlichen Willen vergleichbar verbindet diese religio Menschen aller Rassen und Sprachen, aller Schichten und Gruppen - und dies unabhängig davon, ob sie dies wollen oder nicht - zu ein und derselben globalen Gemeinschaft von Kunden und Konsumenten. Was schön, gut und wahr zu sein hat für den Menschen des beginnenden dritten Jahrtausends, das wird weltweit durch die Eigenrationalität der Markt- und Mediensysteme geprägt und durch die allgegenwärtige Werbung als Stimmungsbarometer für soteriologische Erwartungen wahrgenommen. Eingebettet in den hermeneutischen Rahmen des Supermarktes, dieser neuen "catholica", verwandelt sich auch die traditionelle Kirche zu einem der unzähligen harmlosen Sinnstiftungsangebote und Events im Rahmen des global village. Auch vor Brasilien machen die Veränderungen nicht halt; auch hier gibt es eine doppelte Veränderung zu beobachten: die Pluralisierung der religiösen Szene und den Rückgang des traditionellen religiösen Bewusstseins aufgrund der Wirkung der neuen Medien (8). Jahrhundertelang wurden die Armen von den Armen evangelisiert, was nicht zuletzt zur Entstehung eines eindrucksvollen Laienkatholizismus geführt hat. Dieser überlebte zwar die Reformversuche in den Zeiten der Klerikalisierung der brasilianischen Kirche. Ob er auch der Nivellierung der electronica et oeconomica religio zu widerstehen vermag, wissen wir nicht. Werden die Basisgemeinden weiterhin Räume bleiben, in denen diese Art von Kirchlichkeit gepflegt und erfahren wird? Werden sie weiterhin jener Ort sein, an dem man "als Christ in dieser Welt überleben und sich dafür einsetzen kann, dass auch andere leben" (9)? Die Zeiten der Militärdiktatur, in denen die Basisgemeinden zu einem eindrucksvollen Sammelbecken und Schutzraum alternativer demokratischer Kräfte wurden, sind vorbei; traditionelle Selbst- und Fremdverortungen kirchlicher Gruppierungen, vor allem die diffamierenden Urteile bezüglich des kirchlichen Charakters der Basisgemeinden, bedürfen dringend einer Revision. (10)

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Natürlich bleibt die electronica et oeconomica religio eine Gemeinschaft von höchst paradoxem Charakter. Realpolitisch scheint sie gar immer mehr zum Inbegriff einer Illusion zu werden, „hinter deren brüchiger Kulisse die Verelenden stehen, die keinen Zugang zu den neuen Medien haben und so vollends ihre Stimme verlieren".(11) Doch selbst die Gemeinschaft derer, die auf eine privilegierte Art und Weise im großen Weltdorf beheimatet sind, bleibt von fundamentalen Widersprüchen gekennzeichnet. Das von den neuen Medien unablässig bezeugte "Evangelium", das jedem Individuum seinen eigenen Gott, seinen eigenen Himmel und auch seinen eigenen Weg dorthin - seine eigene Kirche - verkündet, verbindet letztlich die Menschen nicht miteinander, sondern isoliert sie zunehmend. Das global village schafft zwar aufgrund der weltumspannenden Mechanismen und Kommunikationsnetze eine Schicksalsgemeinschaft der Menschheit, zugleich atomisiert es und vereinsamt aber auch deren Mitglieder. Zum Ausgleich des emotionalen Gleichgewichts fördert sie jene Religionsformen, die den großen hermeneutischen Rahmen des Supermarktes nicht in Frage stellen, die emotionale Armut allerdings stückweise lindern. Der strukturell unausweichlichen electronica et oeconomica religio auf der einen Seite entspricht der wachsende Bedarf nach Erlebnis- und Eventsreligiosität auf der anderen Seite, so ganz nach dem Motto: "Wenn schon bewusste Religiosität, dann auf jeden Fall eine freikirchliche!" Kann es in einer solchen Weltkultur Orte und Zeiten geben, die sich nicht 100%ig vereinnahmen lassen, die andere Gemeinschaftserfahrungen ermöglichen und die Welt auch noch transformieren? Können die Basisgemeinden, jener hoffnungsvolle Aufbruch kirchlichen Lebens nach dem Zweiten Vatikanum (12), Orte solcher Kirchlichkeit sein? Und zwar als strukturelle Zeichen?

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Die Basisgemeinden stehen auch in einem anderen Kontext an der Schnittstelle der Auseinandersetzung um die Kirchlichkeitsformen der Zukunft. Zwei Drittel der sonntäglichen Gottesdienste werden in Brasilien von Laien gehalten, von denen weit über die Hälfte Frauen sind. Im strikten Sinn des Wortes dürfen sie ja keine Amtsträgerinnen sei, obwohl sie de facto ihre Gemeinden leiten. (13) Die sakramentale Feier der Eucharistie bleibt ihnen vorenthalten.

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"Als Hirten gehen die Bischöfe dem Volk voran!". Doch das von Begeisterung hingerissene Volk lief den Bischöfen davon. Die an die 20.000 reichende, singende und tanzende Menge der Gläubigen überhörte den Ruf des Bischof von Ilhéus D. Mauro Montagnoli und ging spontan in Richtung Kathedrale los und kümmerte sich scheinbar um ihre Hirten kaum. Diese wiederum kämpften sich den Weg durch das Volk hindurch. Sie gingen also mit, gingen aber einen Schritt schneller, sodass sie nach dem einige Kilometer dauernden Marsch durch die Stadt, bei der Kathedrale doch noch an der Spitze der "Wallfahrt" angekommen sind. Die Prozession stand unter dem Leitmotiv des Gedächtnisses der lateinamerikanischen Märtyrer, vor allem jener, die seit dem letzten Basisgemeindetreffen ermordet worden sind. Vom Tanz dominiert, vergegenwärtigte sie trotzdem den alltäglichen Kreuzweg der Armen in diesem Land. Der kleine, nicht geplante Zwischenfall beim Schlussgottesdienst zum 10. Treffen der Brasilianischen Basisgemeinden ist mir zum Symbol dieser Kirche geworden. Gerade im Hinblick auf die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Amtes! Die kirchlichen Amtsträger, die im Dienste der Einheit dieser bunten und lebendigen aber auch widersprüchlichen Kirchlichkeit stehen, werden ihrer Aufgabe allein durch den angemeldeten "Führungsanspruch" kaum gerecht. Nur wenn sie mitgehen auf dem Weg des Zeugnisses, der im Martyrium kulminieren kann, sogar einen Schritt schneller unterwegs sind als die von der Spontanität lebende Menge, wird der Weg dieser Kirche in der Eucharistie münden: dem Dank für die stattfindende Transformation des Bösen und den Aufbau des Leibes Christi.

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Anmerkungen:

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1. Franz Weber, Gewagte Inkulturation. Basisgemeinden in Brasilien: eine pastoral-geschichtliche Zwischenbilanz. Mainz 1995, 355.

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2. Zur Deutung dieser Abrahamsperikope vgl. J. Niewiadomski, Herbergsuche. Auf dem Weg zu einer christlichen Identität in der modernen Kultur. Münster 1999, 47-55.

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3. 3 Vgl. LG 9: Gott will die Menschen "nicht einzeln, unabhängig von allen wechselseitigen Verbindungen ...heiligen, retten..., sondern sie zu einem Volke machen" (DH 5122). Sowohl das Bild des Volkes Gottes, als auch das Bild des Leibes Christi ist von ein und derselben antiindividualistischen Logik geprägt.

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4. Vgl. dazu: Matthias Scharer, Józef Niewiadomski, Faszinierendes Geheimnis. Neue Zugänge zur Eucharistie in Familie, Schule und Gemeinde. Innsbruck-Mainz 1999.

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5. Treffen 1989, nach Weber 112.

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6. Franz Weber, Inkulturation 102.

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7. So die Schlussbotschaft des Treffens im Jahre 1983 (zit. nach Weber 108).

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8. Vgl. Paulo Suess, Wir und die Anderen - Zuhause in einer globalisierten Welt? In Orientierung 62 (1998), 220-222; vgl. auch ebd. 202-205.

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9. So die Antwort eines 20-jährigen Jugendlichen auf die Frage nach seinen Träumen bezüglich der Zukunft der Basisgemeinden (beim 10. Basisgemeindetreffen in Ilhéus).

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10. Die oft schmerzlichen innerkirchlichen Konflikte um die Basisgemeinden und die auf nationaler und internationaler Ebene angezettelten Querellen haben natürlich auch einen realen, wirtschaftspolitischen Hintergrund; die Revision der theologischen Urteile darf die handfesten Interessen nicht tabuisieren. Zur Geschichte der innerkirchlichen Konflikte rund um die Basisgemeinden in Brasilien vgl. Franz Weber, Gewagte Inkulturation. Basisgemeinden in Brasilien: eine pastoral-geschichtliche Zwischenbilanz. Mainz 1996, 101-113.

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11. W. Guggenberger, Universale Kirche und neue Weltordnung. Zehn Thesen zur politischen Kraft des Evangeliums angesichts der Globalisierung. In: ZKTh 120 (1998) 420-423, 420.

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12. Vgl. Johannes Paul II., Redemptoris missio 5; Paul VI., Evangelii nuntiandi 58.

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13. Vgl. F. Weber, Basisgemeinden - Kirchengestalt am Beginn des 3. Jahrtausends. In: ZMR 83 (1999), 121.

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