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Vom barmherzigen Fundamentalisten
(Gedanken zum 15. Sonntag im Jahreskreis 2004 (LJ C))

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:Wer ist mein Nächster? Mit dieser Frage begibt sich ein Gesetzeslehrer aufs Glatteis - und viele von uns nimmt er mit.
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2004-07-14

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Lesungen: Dtn 30,10-14; (Kol 1,15-20); Lk 10,25-37

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 Liebe Gläubige,

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wir sehen Jesus heute in der Diskussion mit einem Gesetzeslehrer. Es geht aber nicht um irgendwelche juristische Feinheiten und Winkelzüge, sondern es geht um das Letzte und Essentiellste des Lebens und Glaubens: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Es ist die Schlüsselfrage schlechthin, die man einem religiösen Meister stellen kann.

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Jesus gibt aber nicht etwa selber eine Antwort, die alles Bisherige in den Schatten stellen würde, er fragt zurück: Was steht denn da, wo du dich auskennst, im Gesetz des Mose? Der Gesetzeslehrer ist auch nicht um eine Antwort verlegen, er zitiert das Doppelgebot, das auch uns bekannt ist als Zusammenfassung des ganzen Gesetzes: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst."

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Und jetzt ist es dem Gesetzeslehrer fast peinlich, dass er überhaupt gefragt hat. Und er meint, seine Frage rechtfertigen zu müssen, und stellt eine neue Frage: „Und wer ist mein Nächster?" Diese Frage macht das eben noch so einfache Gebot wieder ganz unklar und unsicher. Wen soll ich denn da lieben? Wie stelle ich denn fest, wer das ist, der oder die Nächste? Und Jesus erzählt dieses uns so bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

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Gerade haben wir es gehört: Ein Priester und ein Levit – Leute, die den Glauben eigentlich schon von Berufswegen leben müssten – gehen an dem halbtot im Straßengraben liegenden Reisenden achtlos vorüber. Nur der Samariter hält an, leistet Erste Hilfe und sorgt darüber hinaus mit eigenen finanziellen Mitteln für die weitere Pflege und Versorgung des Verletzen. Auch er scheint es eilig zu haben, aber er hinterlässt Geld und ist sogar bereit wiederzukommen und zu sehen, ob noch etwas nachzuzahlen ist. Warum nennt Jesus diesen hilfsbereiten Menschen einen Samariter? Was hat es damit auf sich?

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Um die Bedeutung dieses Details richtig zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, was der Ausdruck „Samariter" damals für die Zuhörer Jesu bedeutete. Für uns ist er ja schon zum Synonym für Barmherzigkeit und Güte geworden: wir hören schon immer „barmherziger Samariter". Was aber hörten die Zeitgenossen Jesu bei dem Wort „Samariter"?

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Samaria war das Gebiet des ehemaligen Nordreichs Israels, das abgespalten worden war, das mit dem Judentum zwar die Tora gemeinsam hatte, aber nicht mehr die Propheten, und schon gar nicht die Hochschätzung des Tempelkultes und der Stadt Jerusalem. Die Samariter waren aus jüdischer Sicht Abtrünnige, Häretiker, Falschgläubige. Es ist zum Glück schon eine Weile her, dass unter Katholiken der Ausdruck „Protestant" mit ähnlicher Geringschätzung und Abneigung ausgesprochen wurde. Vielleicht müssten wir heute sagen: Fundamentalist oder Türke. So ungefähr war der Ausdruck „Samariter" zur Zeit Jesu zu hören.

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Und diesen Fundamentalisten stellt Jesus als Helfer in der Not dar und endet dann das Gleichnis auf seltsame Weise. Er dreht nämlich die Sache eigentlich um: nicht den Verletzten auf dem Weg nennt er den Nächsten des Samariters, sondern er fragt den Gesetzeslehrer, wer sich denn als der Nächste des Verletzten erwiesen habe. Die Antwort wäre: „Der Samariter" – „Der Türke" – „Der Fundamentalist". Doch das bringt der Gesetzeslehrer nicht über die Lippen – und wer es würde heute schon gerne sagen. So umgeht der Gesetzeslehrer das peinliche Wort und sagt nur: „Der barmherzig an ihm gehandelt hat". Und dem stimmt Jesus zu, denn genau darum geht es: um das barmherzige Handeln dieses Menschen, nicht um seine Herkunft, nicht um seine Ideologie, seinen sozialen Status, sein Geschlecht oder seine Hautfarbe.

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Und dann fordert Jesus dazu auf, es diesem Samariter nachzumachen. Einen Samariter als Vorbild nehmen – für einen jüdischen Gesetzeslehrer eine Ungeheuerlichkeit! Durch diese Ungeheuerlichkeit stellt aber Jesus das ganze Denken des Gesetzeslehrers vom Kopf auf die Füße: Es geht nicht darum, zu wissen, wer mein Nächster ist, damit ich ihn dann, um das Gesetz zu befolgen, lieben kann. Es geht darum liebevoll und barmherzig zu dem Menschen zu sein, der es jetzt gerade braucht, und mich dadurch als sein Nächster zu erweisen. Wenn ein Fundamentalist das tut, dann kann gerade er uns darin Vorbild sein, weil er dabei von seiner Ideologie völlig abgesehen hat. Er hat sie nicht aufgegeben, aber er hat sich durch sie nicht an der Barmherzigkeit hindern lassen.

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Mit dieser Umkehrung tut Jesus aber noch etwas: er entlarvt bei dem Gesetzeslehrer eine problematische Haltung, die auch den meisten von uns gar nicht so fremd sein dürfte: Das Gebot, den Nächsten zu lieben wie uns selbst, erscheint uns oft als lästige, uns überfordernde Pflicht. Und um uns vor der Überforderung zu schützen, fangen wir sofort an, es – in juristischer Erbsenzählerei – zu hinterfragen: Ist das überhaupt mein Nächster? Muss ich das noch tun oder ist das schon eine Zumutung? Wie weit muss ich gehen? Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich jetzt einfach wegschaue? Durch solche und ähnliche in unserem Hinterkopf ablaufenden Fragen, verraten wir aber eigentlich, dass wir weit davon entfernt sind, Liebe für die Menschen zu empfinden, bei denen wir so abwägen. Es geht uns dabei um unser eigenes positives Selbstbild und um eine noch nicht ganz erwachsen gewordene, eigentlich unreife, Einstellung zu Geboten: Muss ich wirklich die ganze Hausaufgabe machen, um eine Eins zu bekommen oder reicht vielleicht auch schon die Hälfte? Muss ich wirklich jeden verbohrten Dickschädel lieben, um ins Himmelreich zu gelangen, oder reicht es auch, wenn ich nur die liebe, die sowieso schon auf meiner Wellenlänge liegen?

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Aber, liebe Gläubige, hier zeigt sich noch tiefer, warum der Gesetzeslehrer und wir solche Fragen stellen. Wir haben eine falsche Auffassung vom wichtigsten Gebot. Auf die Frage „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" erwarten wir eine Handlungsanweisung. Das wichtigste Gebot aber ist keine Handlungsanweisung, es ist eine Haltungsanweisung, eine Aufforderung, unsere Grundeinstellung zum Leben und zur Welt umzukehren: nicht „was muss ich tun?", sondern „was kann ich tun?"; nicht „was ist mir zumutbar?", sondern „wozu treibt mich die Liebe?". Und die Liebe, ob zu Gott oder zu den Menschen, die kann man nicht befehlen. Deshalb ist das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe auch kein Befehl, kein einklagbares Gesetz, um dessen Auslegung wir feilschen müssten, es ist ein Gebot, das uns auf die Haltung hinweist, aus der Christus gelebt hat und in der er uns reich beschenkt hat.

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Wenn uns das deutlich wird, wenn uns die Dankbarkeit dafür zu einer ähnlichen Haltung der Liebe führt, dann können auch wir so leben. Es geht nicht darum, dass wir etwas leisten sollen, um uns das Himmelreich zu verdienen, es geht darum, ob wir erfüllt sind von der Erfahrung, dass Gott uns liebt und uns dieses Himmelreich schenken will. Zu dieser Erfahrung gehört auch, dass jene, die wir ablehnen und verachten, von Gott genau so geliebt sind. Dann ist die Vorstellung, dass es sogar einen barmherzigen Fundamentalisten geben könnte, nicht mehr so abwegig. Nicht unsere Etiketten entscheiden darüber, wer unser Nächster ist, sondern gelebte Barmherzigkeit macht aus Fundamentalisten barmherzige Samariter.

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