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Sozialstaat - Zivilgesellschaft - Kirche
(Theologische Legitimation für die Anfragen der Kirchen an Staat und Zivilgesellschaft)

Autor:Palaver Wolfgang
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Theologische und sozialethische Reflexion des Verhältnisses von Sozialstaat, Zivilgesellschaft und Kirche.
Publiziert in:urspüngliche WWW-Publikation
Datum:2004-02-16

Inhalt

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Das komplexe Verhältnis von Sozialstaat, Zivilgesellschaft und Kirche soll im folgenden anhand dreier Thesen behandelt werden, die im Anschluss an ihre Postulierung jeweils eingehend erläutert werden. Aus sozialethischer Sicht zeigt sich, dass bei aller berechtigten Kritik am Staat und der Zivilgesellschaft, die Kirchen niemals vergessen dürfen, dass sie selbst erster Adressat ihrer ethischen Botschaft sind.

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1. Die staatliche Verpflichtung zur Sorge um die soziale Gerechtigkeit

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1. These: Ausgehend von der prophetischen Sozialkritik, wie wir sie aus der biblischen Offenbarung kennen, solidarisiert sich das Christentum mit den Schwachen und Wehrlosen der Gesellschaft und fordert zur sozialen Gerechtigkeit auf. Für den modernen Nationalstaat bedeutete die Betonung der sozialen Gerechtigkeit, dass er auch zum Sozialstaat werden musste. Die Tradition der katholischen Soziallehre hat daher in kritischer Distanz zum liberalen Nachtwächterstaat den Staat zur Sorge um das Gemeinwohl aufgefordert. Subsidiär - im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe - ist der Staat dazu verpflichtet, überall dort für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wo die Gesellschaft dazu nicht selbst fähig ist.

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Die Option für die Armen gehört zum Kernbestand des biblischen Ethos. Vom Exodusgeschehen, Gottes Befreiung aus dem ägyptischen Sklavenhaus, lässt sich in dieser Hinsicht eine Linie zur Sozialkritik der biblischen Propheten ziehen, in der die Herrschenden mit ihrer Unterdrückung der Armen und Schwachen konfrontiert werden.1 Als ein Beispiel sei auf den Propheten Amos verwiesen, der unmissverständlich die Praxis der Ausbeutung und Unterdrückung anprangert:

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"Hört dieses Wort, die ihr die Schwachen verfolgt und die Armen im Land unterdrückt. Ihr sagt: ...Wir wollen mit Geld die Hilflosen kaufen, für ein paar Sandalen die Armen." (Amos 8,4.6)

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Im Neuen Testament setzt sich diese biblische Parteinahme für die Armen und Schwachen fort. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37) ist dafür genauso ein Beispiel wie die Aufforderung zur Solidarität in der christlichen Gemeinde, wie sie besonders deutlich im Jakobusbrief zum Ausdruck kommt.2 Für die frühe Kirche war allerdings die christliche Gemeinde Adressat der Option für die Armen, während der Sozialstaat eine moderne Einrichtung darstellt, der erst mit der Entstehung des Nationalstaates möglich wurde.

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Schon am Beginn der Entstehung des modernen Nationalstaates entstand auch die Forderung nach entsprechenden sozialstaatlichen Initiativen. Dabei galt dies nicht nur für frühe Vorboten sozialistischer Gesellschaftskonzeptionen, sondern auch für liberale Staatstheoretiker. So trat beispielsweise schon im 17. Jahrhundert Thomas Hobbes, einer der Gründerväter des Liberalismus, für die Notwendigkeit eines Sozialstaates ein:

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"Da viele Menschen durch unvermeidbare Zufälle unfähig werden, sich selbst durch eigene Arbeit zu ernähren, sollten sie nicht der Wohltätigkeit von Privatpersonen überlassen, sondern aufgrund staatlicher Gesetzgebung wenigstens mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden. Denn es ist von jedermann hartherzig, wenn er sich um den Schwachen nicht kümmert, so ist dies auch vom Souverän eines Staates, wenn er sie der zufälligen und so unsicheren Wohltätigkeit überläßt."3

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Während aber Hobbes' Variante des Liberalismus die Notwendigkeit eines starken Staates betonte, um die zunehmende Konkurrenz zwischen den Menschen einzuhegen, hat sich geschichtlich zuerst eine Form des Liberalismus durchgesetzt, der den Staat, nur auf die minimale Aufgabe der Herstellung von Recht und Ordnung zu reduzierten versuchte.

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Die Entstehung des westlichen Kapitalismus ist vor allem mit dem Paläoliberalismus, einer Art Steinzeitliberalismus, verbunden, der ganz vom Glauben an die segenbringende Kraft der freien Entfaltung des Wettbewerbs gekennzeichnet ist. Wir können von einer pseudotheologischen Marktmetaphysik sprechen, die allen Wohlstand dem wunderbaren Wirken der "unsichtbaren Hand" des freien Marktes zutraut. Der Staat soll sich gemäß dieser Lehre möglichst aus der Wirtschaft heraushalten. Ihm kommt nur noch die Rolle eines Nachtwächterstaates zu, der sich einzig und allein um die Aufrechterhaltung der Ordnung und die formale Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz kümmert. Dieser Staat sorgt dafür, daß es "den Armen wie den Reichen gleicherweise verboten ist, nachts unter Brücken zu schlafen".4 Der liberale Nachtwächterstaat sorgt sich weder um eine Unterstützung der Armen und Schwachen, noch setzt er Initiativen für eine materielle Gerechtigkeit.

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Vor allem gegen diese Konzeption eines päleoliberalen Nachtwächterstaates hat die katholische Soziallehre seit Rerum novarum den Sozialstaat eingefordert. Die wirtschaftliche Konkurrenz gilt nur dann als lebensdienlich, wenn die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe ihr eindeutig übergeordnet sind. Und genau dazu bedarf es des Sozialstaates:

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"Darum müssen die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen ganz und gar von dieser Gerechtigkeit durchwaltet sein; vor allem aber tut es not, daß sie zur gesellschaftspolitischen Auswirkung kommt, d.h. eine Rechts- und Gesellschaftsordnung herbeiführt, die der Wirtschaft ganz und gar das Gepräge gibt. Seele dieser Ordnung muß die soziale Liebe sein; die öffentliche Gewalt aber hat sie kraftvoll zu schützen und durchzusetzen." (Quadragesimo anno 88)

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Aus der Sicht der katholischen Soziallehre muss der Staat sich um das Gemeinwohl kümmern (Mater et magistra 54; Centesimus annus 11). Die Notwendigkeit staatlicher Interventionen leitet sich dabei unterem anderen auch aus dem Subsidiaritätsprinzip ab, das den Staat dazu verpflichtet, überall dort sozialpolitisch einzugreifen, wo die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen dazu selbst nicht in der Lage sind.

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Doch dieser Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip zeigt schon, dass der Staat nicht alle soziale Initiative an sich reißen darf, sondern nur eine Hilfe zur Selbsthilfe leisten darf, ohne die sozialen Kräfte dadurch aufzusaugen.

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2. Der Vorrang der Zivilgesellschaft oder vom „Subjektcharakter der Gesellschaft"

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2. These: So wie das biblische Prophetenamt von der politischen Autorität unterschieden blieb und auch für das Christentum die Unterscheidung von Gott und Kaiser (Mk 12,17) prägend wurde, so darf aus christlicher Sicht der Staat niemals als einzige und alles bestimmende gesellschaftliche Größe verstanden werden. Alle Formen konstantinischer Verschmelzungen von Staat und Kirche haben diese biblische Sichtweise beispielsweise verletzt. Für die Tradition der katholischen Soziallehre geht es hier um die zweite Seite der Subsidiarität, die dem Staat nur eine stellvertretende Unterstützung der gesellschaftlichen Kräfte zugesteht. Vorrangig vor dem Staat ist es Aufgabe der Gesellschaft, d.h. der „verschiedenen Zwischengruppen, angefangen von der Familie bis hin zu den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Gruppen" (Centesimus annus Nr. 13), sich um das soziale Wohl aller Menschen zu kümmern.

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Aus christlicher Sicht ist der Staat nicht das erste und einzige Sozialgebilde, sondern er ist eine Institution, die ergänzend zur Gesellschaft mit ihren vielen Gruppen und sozialen Gebilden hinzukommt. Diese relativierende Sicht des Staates lässt sich bereits an jenem biblischen Ethos ablesen, das die prophetische Option für die Armen prägt. Mit der Exoduserfahrung war eine Absage an den Staatsgedanken verbunden, weil Ägypten als Inbegriff der Staatlichkeit angesehen wurde.5 Die Propheten setzten diese staatskritische Tradition fort, indem sie auch den Königen Israels gegenüber immer wieder an die antistaatliche Zeit erinnerten. Diese für das biblische Ethos typische und auch gegenüber der umliegenden Kultur einzigartige Unterscheidung von staatlicher und religiöser Autorität und den damit verbundenen Institutionen setzt sich im Neuen Testament fort. Andeutungsweise zeigt sie sich schon in jenen Worten Jesu, die er den Pharisäern zur Antwort gibt, als sie ihm bezüglich der Steuerfrage eine Falle zu stellen versuchten: "Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!" (Mk 12,17) Obwohl diese Stelle vieldeutig ist, schließt sie zumindest die in der Antike übliche religiöse Überhöhung des Staates klar aus.

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Die fehlende Relativierung des Staates gehört zu den Versuchungen, die gerade auch die moderne Welt bis heute begleiten. Schon für Thomas Hobbes gilt, dass sein Eintreten für einen starken Staat mit einer Vergötzung der staatlichen Ordnung einhergeht, die gerade die für das biblische Ethos typische prophetische Distanzierung wieder zurück nehmen will.6 Seine Bibeltheologie besteht im Versuch, die kritische Tradition der Propheten zu unterdrücken. Das 20. Jahrhundert zeigt uns, wie sowohl rechte als auch linke politische Ideologien diese Vergötzung des Staates vorantrieben und dadurch die größten Menschheitsverbrechen verursachten.

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Selbst die christlichen Kirchen sind dieser Versuchung einer zu vorschnellen Anpassung an den Staat immer wieder erlegen, wenn wir uns das Problem des Konstantinismus mit seinen bis in unsere heutige Zeit wirksamen verschiedensten Spielarten vergegenwärtigen.7 Allzu oft wurde dabei die christliche Botschaft vorherrschenden staatlichen Notwendigkeiten angepasst. Selbst wo heute für den arbeitsfreien Sonntag gekämpft und alles getan wird, dies in der Verfassung festzuschreiben, zeigen sich mitunter Tendenzen zu einem Konstantinismus, der wegen des politischen Engagements leicht zu vergessen scheint, dass nur die lebendige christliche Sonntagspraxis der vollkommenen Ökonomisierung unserer Welt Widerstand zu leisten vermag.

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Gegen die totalitären Versuchungen der modernen Staatsvergötzung ist das Subsidiaritätsprinzip in der Enzyklika Quadragesimo anno vor allem auch als Absage an eine Staatsallmacht formuliert worden. Angesichts des sich ausbreitenden Faschismus wurde dem Staat nur dort ein Recht zur Intervention zugesprochen, wo die dem Staat vorgeordnete Gesellschaft dazu selbst nicht in der Lage ist:

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"Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." (Quadragesimo anno 78)

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Gerade seine eigenen Erfahrungen mit dem Totalitarismus führten Papst Johannes Paul II. dazu, diese Seite des Subsidiaritätsprinzips besonders deutlich herauszustreichen. In seinen Sozialenzykliken betonte er deshalb den "Subjektcharakter der Gesellschaft" bzw. die "Subjektivität der Gesellschaft", die sowohl gegenüber dem Markt als auch gegenüber dem Staat Vorrang besitzt:

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"Nach Rerum novarum und der ganzen Soziallehre der Kirche erschöpft sich die gesellschaftliche Natur des Menschen nicht im Staat, sondern sie verwirklicht sich in verschiedenen Zwischengruppen, angefangen von der Familie bis hin zu den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Gruppen, die in derselben menschlichen Natur ihren Ursprung haben und daher - immer innerhalb des Gemeinwohls - ihre eigene Autonomie besitzen." (Centesimus annus 13)

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"Außer der Familie erfüllen auch andere gesellschaftliche Zwischengruppen wichtige Aufgaben und aktivieren spezifische Solidaritätsnetze. Diese reifen in der Tat zu echten Gemeinschaften von Personen heran, beleben das gesellschaftliche Gefüge und verhindern, daß es in die Anonymität und in eine unpersönliche Vermassung absinkt, wie es in der modernen Gesellschaft leider häufig der Fall ist. Der Mensch lebt in der Vielfalt der zwischenmenschlichen Beziehungen, und in ihr wächst die 'Subjekthaftigkeit der Gesellschaft'. Der einzelne wird heute oft zwischen den beiden Polen Staat und Markt erdrückt. Es hat manchmal den Anschein, als existiere er nur als Produzent und Konsument von Waren oder als Objekt der staatlichen Verwaltung. Es wird vergessen, daß das Zusammenleben der Menschen weder den Markt noch den Staat zum Endziel hat. Es besitzt in sich selber einen einzigartigen Wert, dem Staat und Markt dienen sollen." (Centesimus annus 49)

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Konkret wirkt sich diese Betonung des Subjektcharakters der Gesellschaft insofern aus, als Johannes Paul II. trotz seines klaren Eintretens für den Sozialstaat auch die Probleme eines "Versorgungsstaates" anspricht, der sich dann selbst abzuschaffen droht, wenn er die gesellschaftlichen Quellen der Solidarität trockenlegt. Die Überwachung des Wirtschaftsprozesses sowie die Garantie der Menschenrechte gehört zwar zu den Aufgaben des Staates, aber "die erste Verantwortung auf diesem Gebiet liegt nicht beim Staat, sondern bei den einzelnen und bei den verschiedenen Gruppen und Vereinigungen, in denen sich die Gesellschaft artikuliert" (Centesimus annus 48). Wo die Gesellschaft versagt, muss der Staat eine zeitliche begrenzte "Vertretungsfunktion" wahrnehmen. Wird der Staat zum alleinigen Träger von Solidarität, besteht die Gefahr eines staatlichen Sozialbürokratismus, der sowohl unfinanzierbar als auch sozial ineffizient ist:

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"Funktionsstörungen und Mängel im Wohlfahrtsstaat rühren von einem unzutreffenden Verständnis der Aufgaben des Staates her. Auch auf diesem Gebiet muß das Subsidiaritätsprinzip gelten: Eine übergeordnete Gesellschaft darf nicht in das innere Leben einer untergeordneten Gesellschaft dadurch eingreifen, daß sie diese ihrer Kompetenzen beraubt. Sie soll sie im Notfall unterstützen und ihr dazu helfen, ihr eigenes Handeln mit dem der anderen gesellschaftlichen Kräfte im Hinblick auf das Gemeinwohl abzustimmen.

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Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen; Hand in Hand damit geht eine ungeheure Ausgabensteigerung. Wie es scheint, kennt tatsächlich derjenige die Not besser und vermag die anstehenden Bedürfnisse besser zu befriedigen, der ihr am nächsten ist und sich zum Nächsten des Notleidenden macht." (Centesimus annus 48)

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Das ökumenische Sozialwort der deutschen Kirchen von 1997 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit weist auch in diese Richtung, wenn es die Weiterentwicklung des Sozialstaates hin zu einer gestärkten Sozialkultur verlangt:

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"Der Sozialstaat muss so weiterentwickelt werden, dass die staatlich gewährleistete Versorgung durch mehr Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten gestützt wird. Er bedarf einer ihn tragenden und ergänzenden Sozialkultur."8

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"Der Sozialstaat bedarf gerade angesichts der Finanzierungsprobleme der Weiterentwicklung: Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten müssen gestärkt werden. Die traditionelle Sozialkultur befindet sich im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung in einem starken Wandel und hat sich an vielen Stellen aufgelöst. Ansätze zu einer neuen Sozialkultur zeichnen sich ab. Sie müssen gefördert werden. Darum spielen die Familien und neue Formen und Chancen der Solidarität, etwa in den Netzwerken assoziativer Selbsthilfe, in den Bürgerbewegungen und Ehrenämtern oder in der wechselseitigen Nachbarschaftshilfe, im Wort der Kirchen eine hervorgehobene Rolle. Eine neue Sozialkultur kann und soll nicht das staatliche System sozialer Sicherung ersetzen, aber sie kann Leistungen hervorbringen, die man bisher allzu schnell vom Staat erwartete. Eine entwickelte Sozialkultur trägt auch dazu bei, Vereinsamung und soziale Kälte zu überwinden, und schafft so Voraussetzungen für eine menschenwürdigere Gesellschaft."9

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Die von den christlichen Kirchen geforderte Stärkung der Sozialkultur, wird heute vermehrt auch in der öffentlichen Debatte und von Sozialwissenschaftlern eingemahnt. Die entsprechenden Stichworte lauten Dritter Sektor, Zivil- oder Bürgergesellschaft.10 Wir dürfen heute nicht mehr nur in Kategorien von Markt und Staat denken, sondern müssen uns auch ganz bewusst um die solidarische Kultur der vielen gesellschaftlichen Bereiche und Gruppen bemühen. Als Beispiel kann auf das Konzept der Bürgergesellschaft des deutschen Soziologen Warnfried Dettling hingewiesen werden:

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"Die Bürgergesellschaft kann man auch verstehen als eine politische Methode und eine gesellschaftliche Übereinkunft, auf eine zivile Weise mit wachsender Vielfalt und wachsenden Konflikten umzugehen. Man braucht dafür gewiß, hier wie dort, eine mehr oder weniger erfolgreiche Wirtschaft, also die 'unsichtbare Hand des Marktes'. Man braucht dafür gewiß, hier wie dort, eine öffentliche Autorität, die zum einen das Monopol der Macht hat und es notfalls auch einsetzt und die sich zum anderen der Wohlfahrt der Menschen verpflichtet weiß: also die sichtbare Hand des Staates. Aber ebenso wichtig sind hier wie dort die vielen sichtbaren und unsichtbaren Hände und ihre Aktivitäten innerhalb und außerhalb der NGOs und CBOs [Community Based Organisations], die wir in diesem Buch als Dritten Sektor beschrieben haben. Die Transformation von Gesellschaften in eine neue Balance von Staat, Markt und Drittem Sektor erfordert in unterschiedlichen Zeiten und Ländern gewiß unterschiedliche Prioritäten, aber sie orientiert sich an den nämlichen Werten, Zielen und Strukturprinzipien."11

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In der österreichischen Sozialstaatsdebatte wurde die Bedeutung des Dritten Sektors noch nicht deutlich genug angesprochen. Zumindest war das mein Eindruck angesichts der Diskussionen um das Sozialstaatsvolksbegehren. Auch der kritische Vorwurf gegen die gegenwärtige Regierung, sie würde Sozialabbau betreiben, bleibt oft verkürzt, wenn er nicht auch die Tatsache anspricht, dass die Politiker hier mehr dem Willen der Wähler folgen, als uns das vielleicht bewusst und lieb ist.

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3. Die Kirche(n) als erster Ort einer christlichen Sozialethik

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3. These: Die neutestamentlichen Bilder von der Kirche als dem „Salz der Erde" und einer „Stadt auf dem Berg" (Mt 5,13-16) zeigen, dass die Kirche als eine vorbildliche Kontrastgesellschaft zur Gestaltung der Welt aufgerufen ist. Nicht das direkte Regieren der Welt ist aufgetragen, sondern die beispielhafte Verkörperung der sozialen Botschaft der Bibel, die dadurch auch der Welt angeboten ist. Als Teil der Zivilgesellschaft sind die Kirchen selbst erster Ort ihrer Sozialethik. Damit die soziale Botschaft der Kirchen nicht zum leeren Moralismus verkommt, gilt es die Soziallehre in der kirchlichen Praxis vorzuleben: „Die Kirche hat keine Sozialethik; die Kirche ist eine Sozialethik." (S. Hauerwas) Für die katholische Soziallehre gilt der Vorrang des eigenen kirchlichen Engagements, weil sie „eine in erster Linie an ihre Mitglieder gerichtete Zusammenfassung von Reflexionsprinzipien, Urteilskriterien sowie Richtlinien für das konkrete Handeln" (Ecclesia in Asia Nr. 32) ist.

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Gerade die Betonung des Dritten Sektors wirft ein neues Licht auf die Rolle der Kirchen, die ja selbst bis zu einem gewissen Grad auch ein Teil der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft sind.12 Die Forderung nach Solidarität muss sich zuerst auf die Praxis der Kirchen selbst richten. Biblisch gilt es hier an die alt- und neutestamentlichen Vorstellungen von einer Kontrastgesellschaft anzuknüpfen. Im Alten Testament zeigt sich das Volk Israel als eine Kontrastgesellschaft im Vergleich zu den umgebenden Kulturen, das sich vor allem in seiner Solidarität mit den Armen und in seiner Betonung der Gewaltlosigkeit unterscheidet.13 Im Neuen Testament muss die entstehende Kirche als eine Kontrastgesellschaft verstanden werden. Im Blick auf die biblischen Bilder von der Kirche als dem „Salz der Erde" und einer „Stadt auf dem Berg" (Mt 5,13-16) spricht Gerhard Lohfink von einer Kontrastgesellschaft, die als solche zur Veränderung der Welt aufgerufen ist:

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"Die leuchtende Stadt auf dem Berg ist Chiffre für die Kirche als eine Kontrastgesellschaft, die gerade als Kontrastgesellschaft die Welt verändert."14

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Nicht das direkte Regieren der Welt ist aufgetragen, sondern die beispielhafte Verkörperung der sozialen Botschaft der Bibel, die dadurch auch der Welt angeboten ist. Als Teil der Zivilgesellschaft sind die Kirchen selbst erster Ort ihrer Sozialethik. Die katholische Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins spricht von der Kirche als dem primären Weltbezug der Kirche:

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"Weil und insoweit die Kirche als Volk Gottes verstanden wird, stellt sich die Frage nach der sozialethischen Kompetenz systematisch vorrangig an die Kirche selbst als eine organisierte und strukturierte Gemeinschaft, als ein eigener Ort von Welt, der im Sinne der Berufung des Volkes Gottes zu gestalten ist. Insoweit ist dieser primäre Weltbezug der Rahmen, innerhalb dessen die sozialethische Kompetenz der Kirche vorrangig zu klären ist."15

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Der protestantische Sozialethiker Stanley Hauerwas hat eine solche Position schon vor etlicher Zeit in einer prägnanten These zusammengefasst: "Die Kirche hat keine Sozialethik; die Kirche ist eine Sozialethik."16

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Daher ist auch im Hinblick auf das Problem des Sozialstaates die Kirche zuerst selbst mit ihren vielen lokalen Gemeinschaften gefordert. Für die katholische Soziallehre gilt, dass sie "eine in erster Linie an ihre Mitglieder gerichtete Zusammenfassung von Reflexionsprinzipien, Urteilskriterien sowie Richtlinien für das konkrete Handeln" (Ecclesia in Asia Nr. 32) ist. Eine solche These gilt nicht nur für die katholische Soziallehre in ihrer heutigen Ausfaltung, sondern lässt sich auch schon an ihrem Anfang erkennen. Rerum novarum hat nicht nur dem paläoliberalen Nachtwächterstaat den Sozialstaat entgegengestellt, sondern noch vor dem Staat - und das wird heute meist übersehen - die Kirche als erste und wichtigste Institution angesprochen, die zur Lösung der Arbeiterfrage beizutragen habe (vgl. Rerum novarum 16-24). Ausdrücklich betont Leo XIII., dass "ohne Zuhilfenahme von Religion und Kirche kein Ausweg aus dem Wirrsale zu finden" sei (Rerum novarum 13; vgl. 22; 42; 45). Erst protestantische Theologen haben mir die Augen für die Bedeutung dieser Aussage geöffnet, die in ihrer Bedeutung weit über ein bloßes Festhalten an einer römisch-katholischen Weltordnung hinausgeht.17

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Nur insofern sich die Kirchen bemühen ihre soziale Botschaft auch selbst im eigenen Bereich zu verwirklichen, entgehen sie dem oft berechtigten Vorwurf des Moralismus. Im Abschlussdokument der römischen Bischofssynode von 1971 De justitia in mundo kommt diese Selbstverpflichtung der Kirche unmissverständlich zum Ausdruck:

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"Weiß die Kirche sich verpflichtet, Zeugnis zu geben für die Gerechtigkeit, dann weiß sie auch und anerkennt, dass, wer immer sich anmaßt, den Menschen von Gerechtigkeit zu reden, an allererster Stelle selbst vor ihren Augen gerecht dastehen muss. Darum ist unser eigenes Verhalten, unser Besitz und unser Lebensstil einer genauen Prüfung zu unterziehen." (Nr. 41)

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 Ähnlich deutlich drückt sich das deutsche ökumenische Sozialwort von 1997 aus:

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"Es genügt nicht, wenn die Kirchen die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und die Verhaltensweisen der darin tätigen Menschen thematisieren. Sie müssen auch ihr eigenes Handeln in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bedenken. Das kirchliche Engagement für Änderungen in der Gesellschaft wirkt um so überzeugender, wenn es innerkirchlich seine Entsprechung findet."18

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Alle Forderungen der Kirchen an Staat und Zivilgesellschaft müssen zuerst an die eigene Adresse gerichtet werden. Je mehr es uns gelingt, in unseren Kirchen eine tragfähige Sozialkultur zu entwickeln, desto überzeugender können wir dies auch vom Staat und der Zivilgesellschaft einzufordern. Der eigene Beitrag der Kirchen hilft aber auch dem Staat und der Zivilgesellschaft, unseren berechtigten Forderungen nachzukommen.

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Anmerkungen:

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1 Vgl. Oberforcher, Robert: Die Opposition Gottes. Ringen der Propheten um authentischen Glauben und wahre Humanität. In: Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001. Thaur: Druck_ und Verlagshaus Thaur, 2002, 11_34, hier 31f.

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2 Vgl. Söding, Thomas: Blick zurück nach vorn. Bilder lebendiger Gemeinden im Neuen Testament. Freiburg: Herder, 1997, 148-154.

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3 Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hrsg. und eingeleitet von I. Fetscher. Übersetzt von W. Euchner. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, 264.

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4 Nell_Breuning, Oswald von: Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre. Wien: Europaverlag, 1980, 83f.

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5 Vgl. Lohfink, Norbert: Der Begriff des Gottesreiches vom Alten Testament her gesehen. In: Unterwegs zur Kirche. Alttestamentliche Konzeptionen. Hrsg. von J. Schreiner (Quaestiones disputatae 110). Freiburg: Herder, 1987, 33_86; hier 43-52; Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Montheismus. München: Carl Hanser Verlag, 2003, 67f.

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6 Vgl. Palaver, Wolfgang: Politik und Religion bei Thomas Hobbes. Eine Kritik aus der Sicht der Theorie René Girards. Innsbruck: Tyrolia, 1991, 175-241.

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7 Vgl. Yoder, John H.: The Priestly Kingdom: Social Ethics as Gospel. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1984, 141-144; ders.: The Royal Priesthood: Essays Ecclesiological and Ecumenical. Edited with an Introduction by Michael G. Cartwright. Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 1994, 195-203.

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8 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1997, 14 (These 7). Vgl. Körtner, Ulrich H. J.: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1999, 289-295.

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9 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit Nr. 26.

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10 Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 31993, 46: "Den institutionellen Kern der 'Zivilgesellschaft' bilden jedenfalls nicht-staatliche und nicht-ökonomische Zusammenschlüsse auf freiwilliger Basis, die, um nur unsystematisch einige Beispiele zu nennen, von Kirchen, kulturellen Vereinigungen und Akademien über unabhängige Medien, Sport- und Freizeitvereine, Debattierklubs, Bürgerforen und Bürgerinitiativen bis zu Berufsverbänden, politischen Parteien, Gewerkschaften und alternativen Einrichtungen reichen." Vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, 435-367.

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11 Dettling, Warnfried: Wirtschaftskummerland? Wege aus der Globalisierungsfalle. München: Kindler, 1998, 311f. Ähnlich formuliert das Kaufmann, Franz_Xaver: Herausforderungen des Sozialstaates. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, 158f : "Das gute Leben der Gesellschaft setzt nicht nur die Effizienz der Produzenten, sondern auch die aktive Teilnahme von Bürgern und die Verantwortung im mitmenschlichen Verkehr sowie das Engagement der Eltern und Erzieher voraus. Der wohlfahrtsstiftende Sozialzusammenhang bezieht sich nicht allein auf die Marktwirtschaft und den öffentlichen Sektor, sondern auch auf die privaten Haushalte, die sozialen Netzwerke und eine Vielfalt sonstiger sozialer Aktivitäten. Wenn es nicht gelingt, diese Lebensbereiche und die von ihnen ausgehenden Prozeßnutzen im öffentlichen Bewusstsein als gleichermaßen wohlfahrtsschaffend zu verankern wie die Marktwirtschaft und die staatliche Sozialpolitik, werden wir die Perspektive eines gemeinsamen guten Lebens in der 'Wohlfahrtsgesellschaft' verfehlen."

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12 Während aus der Außenperspektive die Kirchen sich eher als ein Teil der Zivilgesellschaft zeigen, gehen sie natürlich von ihrem inneren Selbstverständnis her weit über das, was die Zivilgesellschaft ausmacht, hinaus, in dem sie sowohl von einem transzendenten Ursprung als auch einem transzendenten Ziel bestimmt sind. Auch die vielen verschieden Regelungen des Verhältnisses von Staat und Kirche, zeigen, dass die Kirchen mehr als ein bloßer Teil der Zivilgesellschaft sind.

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13 Vgl. Lohfink, Norbert: Der gewalttätige Gott des Alten Testaments und die Suche nach einer gewaltfreien Gesellschaft. In: Jahrbuch für Biblische Theologie. Bd. 2: Der eine Gott der beiden Testamente. Neukirchen_Vluyn: Neukirchener Verlag, 1987, 106_136, hier 119-127.

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14 Lohfink, Gerhard: Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Zur gesellschaftlichen Dimension des christlichen Glaubens. Freiburg: Herder, 1982, 81f.

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15 Heimbach_Steins, Marianne: Einmischung und Anwaltschaft. Für eine diakonische und prophetische Kirche. Ostfildern: Schwabenverlag, 2001, 22.

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16 Hauerwas, Stanley: Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik. Hrsg. und eingeleitet von R. Hütter. Aus dem amerikanischen Englisch von G. M. Clicqué. Neukirchen_Vluyn: Neukirchener, 1995, 159.

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17 Vgl. Hauerwas, Stanley: In Good Company: The Church as Polis. Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1995, 126, 132f; Long, D. Stephen: Divine Economy: Theology and the Market. London: Routledge, 2000, 185f

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18 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit Nr. 243.

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