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Mit Leib und Seele feiern – Körperhaltungen im römisch-katholischen Gottesdienst

Autor:Lumma Liborius
Veröffentlichung:
Kategoriekurzessay
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2023-03-27

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Der Vortrag wurde gehalten im Rahmen einer Bildungsveranstaltung der Studentenverbindungen AV Aurora Innsbruck und KÖHV Leopoldina Innsbruck am Dienstag, 21. März 2023, in der Neuen Universitätskirche St. Johannes am Innrain, Innsbruck.

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Liebe Damen und Herren,

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ich weiß nicht, welche Erinnerungen Sie an den Schulunterricht haben. Vermutlich gute, aber auch weniger gute. Das ist ja auch völlig normal.

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Zu meinen Erinnerungen gehört Lyrik im Deutschunterricht. Ich habe damals keinen Zugang dazu gefunden. Mir kam das vor wie Mathematikaufgaben, die man lösen muss. Am Ende einer Gedichtinterpretation stand dann immer eine besondere Erkenntnis. Das war meist eine moralische oder politische Stellungnahme. Ich habe mich gefragt, warum der Autor eigentlich ein Gedicht geschrieben hat, das wir Jugendlichen nun zu entschlüsseln hatten, anstatt einfach ein politisches Programm oder Flugblätter mit Forderungen zu schreiben. Kurz gesagt: Der Mehrwert von Lyrik, das Einzigartige dieser speziellen sprachlichen Ausdrucksform, hat sich mir damals nicht erschlossen.

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Zur selben Zeit habe ich aber mit größter Selbstverständlichkeit Musik gehört und genossen. Ohne dass ich es jemals in Frage gestellt hätte oder überhaupt darüber nachgedacht hätte, habe ich erlebt, dass Musik etwas kann, was nur Musik kann. Der Satz „Zwei Männer singen in gereimten Metaphern, dass man auch in größter Verzweiflung die Hoffnung nicht aufgeben soll“ bildet nicht im Geringsten das ab, was es bedeutet „Bridge over Troubled Water“ von Simon and Garfunkel zu hören oder selber zu singen.

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Heute ist das kritische Analysieren von Texten, Handlungen und Musik mein Beruf. Die nüchterne, rationale Reformulierung und Kontextualisierung eines Kunstwerks ist notwendig, um Missverständnisse zu vermeiden, um nicht billiger Polemik auf den Leim zu gehen, aber auch um Kunstwerke immer tiefer zu verstehen und die menschliche Kreativität umso besser würdigen und vielleicht sogar weiterentwickeln zu können. Aber die Rede über Lyrik ersetzt nicht die Lyrik, die Rede über Architektur ersetzt nicht die Architektur, und die Rede über Religion ersetzt nicht die Religion.

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Heute soll es um christliche Liturgie gehen, genauer um römisch-katholische Liturgie gehen als einer Kunstform, in der sich Menschen auf eine Art und Weise zum Ausdruck bringen, wie sie es nirgends sonst tun. Das konkrete Thema soll der menschliche Körper in der Liturgie sein, konkret: Körperhaltungen.

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Die römisch-katholische Kirche hat sich im Laufe ihrer Geschichte weit entfernt vom Umgang mit dem Körper in der biblischen Erfahrungswelt. Die Tatsache, dass Sie in fix installierten Kirchenbänken fast wie festgenagelt vor mir sitzen, ist der beste Beweis für die große Distanz, die zwischen biblischen Quellen und der heute typischen Praxis des Katholizismus zumindest im Alpenraum, aber eigentlich auch in weiten Teilen Westeuropas und der übrigen Welt besteht.

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Ich könnte jetzt referieren, was dazu im katholischen Messbuch steht. Die Messe ist zwar nicht die einzige katholische Gottesdienstform, aber sie ist die bekannteste, sie ist im Grunde im katholischen Gemeindeleben allgegenwärtig und sie ist die komplexeste Liturgie überhaupt, daher kann man mit ihr so gut wissenschaftlich arbeiten. Ich könnte also nun erklären, bei welchen Teilen man laut den Vorgaben des Messbuchs stehen, sitzen oder knien soll. Manches, was ach so fromme Katholiken gerne demonstrativ vorführen, entspricht übrigens ganz und gar nicht den Normen des Messbuchs. Aber das würde nicht in die Tiefe führen, denn es ginge ja nur um die eher banale Frage, was denn nun erlaubt, verboten, vorgeschrieben ist oder was zur freien Auswahl steht. Viel grundlegender ist aber doch, was mit dem menschlichen Körper geschieht, wenn er zu bestimmten Gelegenheiten bestimmte Haltungen einnimmt.

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Ein Beispiel: In der Bibel – und auch noch im Christentum der ersten Jahrhunderte – ist es eine weit verbreitete Praxis, beim Gebet die Arme zum Himmel auszubreiten, Augen und Kopf zum Himmel zu erheben und sich dabei Richtung Osten zu wenden. Übrigens, da gibt es genügend Belege, haben das viele auch dann gemacht, wenn sich Richtung Osten eine Wand oder eine Zimmerecke befand.

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So wie eine musikwissenschaftliche Schrift das Anhören eines Konzertes nicht ersetzen kann, sondern es voraussetzt, um es dann intellektuell zu erschließen und zu vertiefen, ist es auch hier: Jede Beschreibung einer Körperhaltung ersetzt nicht die Körperhaltung. Wenn Sie also verstehen möchten, warum Christen mit ausgebreiteten Händen und erhobenem Blick Richtung Osten beten, dann sollten Sie vor allem eines tun: mit ausgebreiteten Händen und erhobenem Blick Richtung Osten beten. Als Tirolerinnen und Tiroler kennen Sie vielleicht etwas Ähnliches, nämlich eine nächtliche Bergwanderung und dann den Moment, wenn die Sonne aufgeht und Sie innehalten, durchschnaufen und staunen. Wenn Sie so etwas kennen, dann können Sie sich die Frage selbst beantworten, ob man denn als Christ mit ausgebreiteten Armen Richtung Osten beten muss. Nein, muss man nicht – aber es entgeht einem vielleicht etwas, wenn man es nicht tut; erst recht, wenn man es gar nicht darf und nicht einmal erahnt, dass da Erfahrungen möglich werden, die man nirgends sonst machen kann.

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Wir sind mitten im Thema. Wie schon gesagt, die römisch-katholische Praxis hat im Lauf der Geschichte erhebliche Wandlungen durchlaufen und sich damit lange Zeit von ihrem wichtigsten Hintergrund entfremdet, nämlich der Bibel. Für diesen Wandel können wir vor allem zwei Epochen habhaft machen:

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Erstens die Karolingerzeit, so etwa Mitte des 8. bis Ende des 10. Jahrhunderts. Der karolingischen Zeit verdankt Westeuropa einen unfassbaren Aufschwung auf dem Gebiet der Bildung, der Forschung, der Musik, der Sprache und Schrift, der Architektur; aber um den Preis einer gewissen Distanzierung von Dingen, die bis dahin christliches Allgemeingut waren und dann nur im östlichen Christentum erhalten blieben – heute würden wir dazu vor allem die Orthodoxie zählen.

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Zweitens die Zeit der Konfessionalisierung ab dem 16. Jahrhundert. Auch diese Zeit brachte einen gewaltigen Bildungsschub, weil plötzlich zwei Richtungen des Christentums auf demselben Gebiet in Konkurrenz zueinander standen und sich gegenseitig behaupten mussten. Das brachte auch katastrophale Zerstörung über Europa, weil beide Seiten mit dieser Konkurrenzsituation nicht umzugehen wussten und ihnen dann keine andere Lösung einfiel als militärische Vernichtungszüge. Einen weiteren Preis dieser Zeit spüren Sie gerade am eigenen Leib, nämlich die massenhafte, flächendeckende Verbreitung von Kirchenbänken, die nahezu jeden Quadratzentimeter eines Kirchenraums füllen.

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In Lukas 22,46 heißt es „Steht auf und betet!“. Wenn man es etwas genauer übersetzt: „Aufstehend betet“ oder „Betet im Stehen!“. Dieser Aufruf Jesu ist überhaupt nichts Ungewöhnliches, er ist völlig normal. So fordern auch Psalm 134 und 135 im Alten Testament all diejenigen zum Gebet auf „die ihr steht im Haus des Herrn“. Im frühen Christentum finden wir Anweisungen, dass man gemeinsam „zum Gebet aufstehen“ soll und im frühen christlichen Mönchtum wird besonders hervorgehoben, wenn es jemand fertigbringt, besonders lange und ausdauernd im Stehen zu beten.

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Die aufrechte Körperhaltung auf zwei Beinen mit zwei hoch entwickelten Händen ist ein Spezifikum des Menschen unter allen anderen Lebewesen. In der biblischen Schöpfungserzählung wird die Einzigartigkeit des Menschen hervorgehoben, die nicht nur Privilegien, sondern auch Pflichten mit sich bringt – unter anderem die Pflicht, im Auftrag Gottes für die Schöpfung zu sorgen. Krabbeln, Liegen und Schwimmen können auch andere Lebewesen, aber der aufrechtstehende Mensch ist gewissermaßen „ganz Mensch“. „Mehr Mensch“ kann man gar nicht sein als wenn man aufrecht steht.

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Der stehende Mensch hat zugleich eine doppelte Richtung. Der Körper ist durch die Schwerkraft an die Erde gebunden, aber zugleich strebt er nach oben, von der Erde weg. In der biblischen Welt – und das dürfte wohl ein ganz natürliches menschliches Empfinden sein – steht die Erde für das Vergängliche, das Harte und Mühsame, der Himmel aber steht für Weite, Freiheit, er ist die Sphäre des Göttlichen.

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Das gilt schon ab der ersten Seite des Alten Testaments, aber im Neuen Testament bekommt es noch eine spezifisch christliche Pointe. In den biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch ebenso wie später im Lateinischen sind die Wörter für „Aufstehen“ (vom Schlaf) und „Auferstehen“ (vom Tod) ident. In der christlichen Interpretation wird dann jede Stelle, an der jemand „aufsteht“, zu einer Anspielung, einer Andeutung der Auferstehung. Wer aufrecht steht, bezeugt den Glauben an die Auferstehung: der Sieg des Lebens über den Tod wird körperlich erfahrbar. In der Taufe – jedenfalls so, wie sie die ersten Jahrhunderte praktizieren und wie auch Jesus selbst im Jordan getauft wurde – taucht der Mensch ins Wasser ein und dann „steht er auf“. So wird das Bekenntnis, dass das Leben stärker ist als der Tod, körperlich mitvollzogen. Der Getaufte ist ein Auf-Gestandener.

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Der nach oben ausgerichtete Mensch zeigt also an: Es gibt mehr als das Irdische und Vergängliche. Wir Menschen sind fähig, über das Sichtbare und Messbare hinauszugehen. Als Christen dürfen wir eine Hoffnung haben, die man nicht an der Welt ablesen kann. Wir sind nur Gast auf Erden – unsere wahre Heimat ist der Himmel.

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In fast allen christlichen Traditionen wird in der Eucharistiefeier ein Bibeltext gesungen, der in der Bibel als ein himmlisches Lied der Engel überliefert ist: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der himmlischen Scharen“ (Jes 6,3). Im Gebet, im Gesang wächst der Mensch gewissermaßen über sich und das Irdische hinaus, er stimmt ein in das Gotteslob des Himmels, er wird selber zum Himmelsbewohner. Auch im Judentum wird übrigens dieses Dreimalheilig gesungen, und dazu stellt man sich auf die Zehenspitzen, um gewissermaßen der Schwerkraft trotzend in dem Himmel zu fliegen.

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Die eine Richtung des aufrechten Menschen ist also die nach oben, aber es gibt immer noch eine damit verbundene zweite Richtung, nämlich die Blickrichtung. Wenn der Körper nach oben ausgerichtet ist, dann sollen es auch die Augen sein, und wenn es die Augen sind, dann sind es auch die Arme und Hände. Das ist stimmig und ganz natürlich – und damit landen wir bei dem, womit ich vorhin begonnen hatte: der „Orantenhaltung“, die im Katholizismus leider zu einer Art Amtsgeste der Bischöfe, Priester und Diakone geworden ist. Psalm 77 schreibt im Ausdruck der Verzweiflung: „Am Tag meiner Not suchte ich den Herrn, unablässig erhob ich nachts meine Hände“, und Psalm 134 fordert auf: „Erhebt eure Hände zum Herrn“.

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Wenn nun schon der Körper, der Blick und die Hände ausgerichtet sind, dann kommt auch wie von selbst die Himmelsrichtung Osten hinzu, um das Bild vollständig zu machen: Osten ist Sonnenaufgang, der Osten ist das Licht, das die Dunkelheit besiegt; christlich gesprochen: die Auferstehung, die uns die Angst vor dem Tod nehmen will: „Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war“ (Mk 16,2–4).

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Was hat es dann mit dem Knien auf sich, das doch gerade im Katholizismus so populär geworden ist? Ich sollte besser vom „Sich-Niederwerfen“ sprechen, denn es gibt kulturell sehr verschiedene Arten des Kniens, die aber letztlich alle dieselbe Bedeutung haben. Bibel und frühes Christentum kennen vor allem das, was es heute noch in den Ostkirchen und im Islam gibt: Knie, Hände und Stirn berühren den Boden, manchmal nur ganz kurz, manchmal länger und ausdauernd. Der westeuropäische Katholizismus verwendet eher das Knien, bei dem der Oberkörper aufrecht bleibt; und in ganz seltenen Fällen, etwa bei der Priesterweihe, liegt der ganze Körper flach auf dem Boden.

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Dieses Sich-Niederwerfen kommt in der Bibel recht häufig vor, trotzdem ist es etwas Spezielles; man tut es nicht gewohnheitsmäßig. Diese Körperhaltung ist mit der Erfahrung von Schuld, Verzweiflung oder Abhängigkeit verbunden. Der Mensch, der entsetzt vor den Folgen seines Handelns steht; der Mensch, der völlig verloren ist; der Mensch, der sich die Hände eines anderen begibt: dieser Mensch macht sich klein, wirft sich nieder. „Josua zerriss seine Kleider und warf sich zusammen mit den Ältesten Israels mit dem Gesicht zu Boden bis zum Abend. Sie streuten sich Staub auf das Haupt“ (Jos 7,6). Oder Jesus im Garten Getsemani angesichts seines bevorstehenden Todes: „Jesus warf sich auf sein Gesicht und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ (Mt 26,39).

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Es gibt auch die völlig unerwarteten Offenbarungen, die einen buchstäblich umwerfen. Das sind Momente, die man nicht planen kann und für die es keine Regeln gibt, sondern nur spontane Regungen: „Ich hörte den Schall seiner Worte; beim Schall seiner Worte fiel ich betäubt zu Boden und blieb, mit dem Gesicht am Boden, liegen“ (Dan 10,9), „Eine Stimme erscholl aus der Wolke: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören. Als die Jünger das hörten, warfen sie sich mit dem Gesicht zu Boden und fürchteten sich sehr.“ (Mt 17,5–6)

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Bleibt schließlich noch das Sitzen. Das Sitzen auf Sesseln oder Bänken – so wie Sie jetzt – ist eigentlich eine verbürgerlichte Form. Das Ursprüngliche ist das Lagern auf dem Feld oder das Hocken auf dem Boden. Das hat für sich genommen eigentlich gar keine Bedeutung, aber da der Mensch nicht die Kraft hat, um immer zu stehen, dient das Sitzen dem Zuhören und der entspannten Aufmerksamkeit. Und dann gibt es auch noch den Fall, dass der Lehrer sitzt, wenn er lehrt. Die Bezeichnung „Lehrstuhl“ an Universitäten geht darauf zurück, ebenso die „Kathedra“ als der Thron des Bischofs in katholischen Kathedralen, die genau deswegen Kathedrale heißen. „Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und er lehrte sie.“ (Mt 5,1)

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Das christliche Ur-Bekenntnis zur Auferstehung drückt sich also durch das Stehen aus. Das Knien bedarf hingegen einer eigenen Begründung: Momente der Buße, der flehentlichen Bitte oder der spontanen Überwältigung. Und immer dann, wenn es darum geht, entspannt aufmerksam zu sein, kommt das Sitzen ins Spiel.

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Körperhaltungen waren auch ein Thema für das erste Konzil im Jahr 325. In respektvollen, aber doch deutlichen Worten, bestimmte das Konzil Folgendes:

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„Was die Angelegenheit betrifft, dass es bestimmte Menschen gibt, die am Sonntag und in den 50 Tagen von Ostern bis Pfingsten knien: Dem Konzil scheint es gut, dass man an allen Orten eine einheitliche Praxis anwendet und dass man zu Gott im Stehen betet.“

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Das ist eine feierlich-diplomatische Ausdrucksweise. Sie bedeutet: Jedenfalls am Sonntag und in der Osterzeit ist es den Christen verboten zu knien. Daran sollen sich alle gemeinsam halten, denn in einer gemeinsamen Körperhaltung kommt die Gemeinschaft im Glauben zum Ausdruck. Wer kniet, widerspricht mit seinem Körper dem, woran er glaubt.

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Aus irgendeinem Grund, vielleicht einer weitergeführten vorchristlichen Ausdrucksweise, war es allerdings den Karolingern ein Bedürfnis, so oft zu knien wie möglich, und sie machten das auch zunehmend zur Gewohnheit und zur Vorschrift. Das sollte Ehrfurcht vor Gott ausdrücken – das tut es gewiss, nur bedeutete es eben, dass man sich damit von den biblischen Quellen entfremdete und eine jahrhundertalte gemeinsame christliche Praxis einseitig aufkündigte. Die Karolinger waren sich dessen durchaus bewusst, denn zunächst achteten sie darauf, dass das Knien nur für Werktage gelten sollte, über die das Konzil ja nichts gesagt hatte. Sonntags wurde das Knien durch eine tiefe Verneigung ersetzt, aber spätestens im 11. Jahrhundert war auch das vorbei.

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Mit der Installation der Kirchenbänke begann dann in evangelischen wie in katholischen Kirchen Westeuropas ein regelrechter Wettstreit darum, welche Konfession ihre eigenen Leute besser disziplinieren und stillhalten konnte. Evangelische Kirchenbänke erinnern oft an einen Vortrags- oder Konzertsaal – es ging vorrangig darum, aufmerksam der Predigt zuzuhören. Katholische Bänke wurden dafür gemacht, dass man konstant andächtig knien und immer in dieselbe Richtung schauen soll. Allenfalls kann man sich zwischendurch mal nach hinten stützen und ein wenig ausrasten. Stehen – vor allem längeres Stehen – ist nicht vorgesehen.

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Und schon sind wir im 19. Jahrhundert, als die Ausdrucksformen der Liturgie neu erforscht und vieles verloren Gegangene neu entdeckt wurde. Und dann sind wir schon beim II. Vatikanischen Konzil mit seiner Liturgiereform, beschlossen 1963 und dann in den Folgejahren Schritt für Schritt umgesetzt. Es war absolut revolutionär, dass nicht mehr nur für die Priester, sondern auch für die Laien genaue Ordnungen für die Körperhaltung im Gottesdienst erarbeitet werden sollte. Gemeinschaft drückt sich auch körperlich aus und wird körperlich erfahren. Eine gemeinsame Körperhaltung stiftet Gemeinschaft.

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Was dann im Auftrag des Konzils erarbeitet wurde, kennen leider nur wenige, und in vielen Kirchenbänken lässt es sich gar nicht umsetzen, ohne dass man Rückenschmerzen oder klaustrophobische Zustände bekommt.

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Und damit will ich nun doch noch die Frage beantworten, was man denn nun eigentlich wann machen soll. Vorweg noch eines: Selbstverständlich muss und soll man Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse von alten, kranken, gebrechlichen und geschwächten Menschen. Dafür brauche ich kein Konzil und keine gedruckten Vorschriften, dafür genügen Moral und Hausverstand. Aber man sollte sich auch nicht selbst vorschnell für alt, krank, gebrechlich oder geschwächt erklären, wenn man es nicht ist.

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Also, hier nun zum Abschluss ganz kurz die offiziellen Informationen der römisch-katholischen Kirche:

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Liturgie wird grundsätzlich im Stehen gefeiert. Die Bedeutung haben wir schon erschlossen. Die stehende Haltung ermöglicht auch, sich im Kirchenraum zu bewegen und unterschiedliche Blickrichtungen einzunehmen, etwa zur Eingangstür (beim Einzug), zum Ambo (beim Evangelium) oder zum Altar (bei der Eucharistischen Liturgie).

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Sitzen ist vorgesehen, wenn für etwas längere Zeit das Hören im Vordergrund steht, etwa während biblischer Lesungen und der Predigt, nicht aber beim Evangelium. Das Evangelium wird stehend gehört, so geht die Gemeinde gewissermaßen sichtbar ihrem Herrn entgegen, der aus dem Evangelium zu ihr spricht. Bischöfe können im Sitzen predigen.

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Knien ist in der katholischen Messe, in der Wort-Gottes-Feier und im Stundengebet überhaupt nicht vorgesehen. Es ist nur eine regional traditionell verbreitete und insofern auch wertgeschätzte Alternativoption zum Stehen während des Hochgebets, das am Altar über Brot und Wein gesprochen wird.

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