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Andere Orte, Orte des Anderen: Theologisch-biografische Performanzen des Alteritären (Begrüßung zur inoffiziellen Abschiedsvorlesung)

Autor:Bauer Christian
Veröffentlichung:
Kategoriefak
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2023-03-14

Inhalt

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Es ist unüblich, eine Abschiedsvorlesung zu halten, wenn man nicht emeritiert wird, sondern einfach ‚nur’ die Stelle wechselt. Es ist genauso unüblich, eine (in Klammern: theologische) Abschiedsvorlesung an einem Ort wie der BÄCKEREI zu halten. Und es ist auch alles andere als üblich, dies in Form eines Dialogs zu tun. Aber davon, dass etwas unüblich ist, muss man sich noch lange nicht abhalten lassen, es zu tun. Vielleicht passt das sogar gar nicht so schlecht zu einem epistemisch widerborstigen Fach wie der Pastoraltheologie, das auf der theologischen Dignität von kleinen, alltäglichen und bisweilen auch subversiven Praktiken beharrt. So begrüße ich Sie und Euch alle nun auch sehr herzlich zu dieser in mancherlei Hinsicht ‚etwas anderen’ Abschiedsvorlesung. Sie findet in der – um das Ganze nun auch etwas wissenschaftlicher auszudrücken – Performanz des Alteritären nicht nur an einem anderen Ort, sondern auch auf eine andere Weise statt. Nicht als routinierter Professorenmonolog, sondern als ein prozessoffener Dialog im Anschluss an einen Film – auch wenn ich mir diese programmatischen Begrüßungsworte dann doch nicht verkneifen kann, die Ihnen und Euch zunächst einmal ein gutes Stück theologischer Theorie zumuten… ;-)

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1. Heteromorphien – vom Anderswo zum Anderswie

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Theologisches Anderswo und Anderswie hängen dabei eng zusammen. Eine performanzkritische Dynamik weg von den Andersorten, hin zu den Andersweisen führt mich gerade – nicht zuletzt inspiriert durch Christian Kern, der mit mir als Assistent nach Münster geht – vom heterotopen, d. h. andersortigen Anderswo zum „heteromorphen“[1], d. h. andersartigen Anderswie. Von den anderen Orten zu den Orten des Anderen. Wer mit mir schon einmal ein ekklesiologische Stellprobe im Spektrum zwischen introvertierter Komm-her-Pastoral und extrovertierter Geh-hin-Pastoral gemacht hat, weiß: Man kann an gesellschaftlichen Geh-hin-Orten auch eine kirchenzentrierte Komm-her-Pastoral machen und an kirchlichen Komm-her-Orten eine reichgottesfrohe Geh-hin-Pastoral. Auch im Kontext dieser dualen Konzilsekklesiologie[2] gilt: WIE schlägt WO, denn die Art und Weise macht den Unterschied.

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Ein Weiterdenken hat für mich hier vor allem die (angesichts ihrer systemischen Ursachen noch längst nicht ausgestandene) Missbrauchskrise bewirkt - die wohl größte Zäsur der Nachkonzilszeit, derentwegen Papst Franziskus uns vor eine zukunftweisende Entscheidung stellt: Klerikalismus oder Synodalität – das ist hier die Frage! - - - Diese Entscheidungsfrage nach einem neuen WIE von Kirche, das im Sinne eines vorkonstantinischen, vortridentinischen und vorpianischen Kirchenformats[3] eigentlich ein altes WIE ist, erfordert eine nicht nur heterotop-andersortige, sondern auch eine heteromorph-andersartige Pastoral. Eine im Wortsinn ‚synodale’ Pastoral des gemeinsamen Wegs (des „syn-hodos"), in welcher die ganze Kirche sich als eine ‚Societas Jesu’ begreift: als eine prinzipiell gleichstufige Weggefährt:innenschaft der Nachfolge. Nicht umsonst galten Christ:innen von Beginn an als die „Leute vom neuen Weg“ (Apg 9,2).

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Das synodale Reframing, zu dem Papst Franziskus unsere noch immer klerikalistisch deformierte Kirche ruft, weist in die Richtung dieses jesusbewegten und daher umkehrbereiten Anderswie - in einen epochalen Bekehrungsprozess kirchlicher Selbstevangelisierung vor jeder Fremdevangelisierung. Die Fastenzeit, in der wir gerade auf dem Weg nach Ostern stehen, ist sicher nicht die schlechteste Gelegenheit, sich selbst und einander immer wieder an die Umkehr zu diesem Anderswie lebensförderlicher Selbstbekehrung zu erinnern. Nichts wäre nicht nur innerkirchlich, sondern auch gesamtgesellschaftlich dringender als eine entsprechend evangelisatorische, d. h. in die Dynamik der anbrechenden Gottesherrschaft hineinziehende Wendezeit in der gegenwärtigen Zeitenwende, deren Zeichen gerade vehement auf Krise stehen: Coronapandemie, Klimakatastrophe, Ukrainekrieg.

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Vom Anderswo zum Anderswie, von den anderen Orten zu den Orten des Anderen - das gilt auch für den theologischen Diskurs. Auch diesen kann ich im übertragenen Sinn klerikalistisch und synodal formatieren. Wir müssen den traditionellen epistemischen ‚Klerikalismus’ („Der Professor kann und weiß alles") in Richtung einer ‚synodalen’ Epistemik überschreiten: Theologie als gemeinsamer Weg von Lehrenden und Studierenden, von akademischen Fachwissenschaftler:innen und alltäglichen Leutetheolog:innen, von Glaubenden und Zweifelnden. Entsprechende theologische Stilfragen (Stichwort: Anderswie) sind keine wissenschaftliche Quisquilie. An ihnen zeigt sich vielmehr das Ganze.

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Denn jede Theologie ist auf je eigene Weise performativ. Sie bewirkt in der Regel existenziell, was sie diskursiv besagt – und zwar im Guten wie im Schlechten. Emanzipatorische Theologie befreit, autoritäre Theologie knechtet. Und jede Theologin, jeder Theologe muss sich entscheiden, auf welcher Seite er oder sie stehen möchte. Befreiungstheologisch nennt man das das Treffen einer vorrangigen Option. Texte und Kontexte, Erkenntnisse und Interessen, Theologien und Biografien gehören dabei untrennbar zusammen. Daher konstelliere ich – um gleich zu Beginn einige für mich zentrale Begriffe im pastoraltheologischen Wortbingo abzuräumen – im Folgenden biografisch-theologische Performanzen auf explorativ-abduktive Weise zu einer (hoffentlich) kreativen Differenz von Praxisfeldern und Diskursarchiven, die im besten Fall dann auch den pragmatizistischen Wahrheitstest ihrer existenziellen Bewährung bestehen und somit nicht als epistemischer Klerikalismus der Macht enden, sondern sich als eine synodale Epistemik der Nachfolge erweisen. Denn, so mein großer Innsbrucker Vorgänger Josef Andreas Jungmann: „[Es gibt nichts Praktischeres] als eine gute Theorie“[4].

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2. Die BÄCKEREI – ein theologischer Andersort

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Das Anderswie dieser Vorlesung beginnt an einem Anderswo – und das hat zuallererst mit der theologischen Frage nach der Präsenz Gottes auf. Denn: Gott am Andersort, das ist eine biblische Weisheit – so wahr, dass man mit dem Buch Genesis auch von theologischen Andersorten wie der BÄCKEREI sagen kann: „Gott ist an diesem Ort, und ich habe es nicht gewusst" (Genesis 28,16). Auf einem Bierdeckel, den mir Franz Neuner einmal geschenkt hat, heißt es in Anspielung auf das Außerfern[5]: Gott ist alles - außer fern! Diese fast schon biblische Zusage gilt für jeden noch so abseitigen Ort menschlicher Existenz. Also: Gott am Andersort. Aber die Theologie? Theologie am Andersort? Das ist nicht der Normalfall. Es ist bisweilen sogar die große Ausnahme. Denn sie ist nicht immer da, wo Gott ist – daher ist sie gerufen, den Spuren seiner verborgenen Präsenz in der Welt zu folgen.

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Daher nun also: Theologie am Andersort.

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An der Konjunktur der Andersorte in Theologie und Kirche bin ich nicht ganz unschuldig – und nicht selten hätte ich gerne so etwas wie eine begriffliche Rückholaktion gestartet[6]. Denn das, was Michel Foucault „Heterotopien“[7] nannte (also: wirkliche Möglichkeiten), wurde nicht selten zu „Utopien“[8] (also: nur möglichen Wirklichkeiten). Außerdem ist mit der puren Andersheit eines Ortes erst einmal noch gar nichts gewonnen. Denn man kann auch an anderen Orten den alten Stiefel machen. Das Anderswo muss also auch hier mit einem Anderswie einhergehen: Auf eine andere Weise Kirche sein, Theologie lehren, Leben teilen. In jedem Fall gilt auch hier ein Spruch aus meiner Generation-X-Jugend in den Curt-Kobain-schwangeren 1990er Jahren: „Wir wissen nicht, ob alles besser wird, wenn es anders wird. Aber dass es besser werden muss, wenn es anders werden soll – das wissen wir!"[9]

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Auch in diesem Sinne nun also: Theologie am Andersort.

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Die Innsbrucker BÄCKEREI ist ein solcher Andersort – eine urbane Heterotopie in der sorgsam aufgestylten Gebirgskulisse von Tirol. Sie ist struppig, rau und irgendwie unfertig. Eine alte K.u.K-Militärbäckerei, die junge Leute mit wenig Geld, aber vielen guten Ideen zu einem inspirierenden Andersort gemacht haben. Denn das Leben feiern kann man überall. Auch auf Second-Hand-Möbeln und in Räumen mit recycelten Fenstern und unverputzten Wänden. Es ist wie in der Theologie: Überkommenes nicht einfach abreißen, sondern kreativ umdeuten, umbauen, umnutzen – und so neu erfinden. Auch hier gilt die Performanz des Ortes – denn auch dieses WO macht etwas mit dem WIE dessen, was hier geschieht. Daher habe ich mir die Bäckerei als Ort für diese Abschiedsvorlesung ausgesucht.

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Entdeckt habe ich sie bei unseren ersten Stadterkundungen nach dem Umzug hierher im August 2012  - und ich dachte sofort: Das ist hier ja wie in Berlin. In dessen ‚wildem Osten’ hatte ich zu Beginn der Nullerjahre gewohnt. Wirklich kennengelernt habe ich die Bäckerei dann aber erst über meine Frau, die als Referentin im „Haus der Begegnung“ hier zusammen mit anderen Akteur:innen der Zivilgesellschaft „Transition Tirol" gegründet hat. Die Bäckerei ist für mich daher nicht nur ‚ein Stück Berlin’ in Innsbruck, sondern auch ein Ort voll sozialer Phantasie und mit kulturellem Sexappeal. Sie ist für mich der Ort eines neuen pastoralen Existenzialismus – einer gemeinsamen Suche nach dem kleinen Glück in dieser Zeit, das zugleich ein möglichst gutes Leben für möglichst viele Menschen bedeutet.

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Hierher hat der Fachbereich Pastoraltheologie eingeladen, als wir im März 2015 turnusgemäß Gastgeber:innen für die Konferenz der Österreichischen Pastoraltheolog:innen inklusive des Vorstands der Österreichischen Pastoralkommission waren. Ich werde nie vergessen, wie der Leiter des gesamtösterreichischen Pastoralinstituts hier auf einem alten, durchgewetzten Sofa saß und wir alle – vorgetragen von einer Schauspielerin des Tiroler Landestheaters – Michel Foucaults berühmten Heterotopie-Text über die „Anderen Räume" („Des autres espaces") gehört haben. „Theologie am Andersort“ heißt  denn auch mein Youtubekanal, dessen erster Film „Explorative Theologie“ genau hier gedreht wurde, als erstes von mehreren in der Bäckerei aufgenommenen Videos – ich denke da nur an die Auf-ein-Bier-mit Gespräche mit Bischof Hermann, Paulina Pieper und Hadwig Müller.

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Hier in der Bäckerei habe ich aber nicht nur mit interessanten Menschen so manches Bier getrunken, hier habe ich mit meinen Doktorand:innen und Habilitand:innen unter anderem mit Hans-Joachim Sander dessen „Topologische Dogmatik“ diskutiert. Und hier hat auch eine Feldforschungsgruppe des Seminars „Orte sozialer Innovation in Innsbruck" gearbeitet, das ich vor einigen Jahren zusammen mit dem befreundeten Architekten Walter Klasz angeboten hatte. Eine weitere, mit Christoph und Flo von der BÄCKEREI entwickelte Seminaridee zur „Verlebendigung urbaner Nicht-Orte“ in Innsbruck ist leider erst in den Universitätsmühlen und dann an der Coronapandemie gescheitert. Dafür hatten wir hier bereits im Juli 2019 das interdisziplinäre Werkstattgespräch „Freigeben und Rückgewinnen? ‚St. Maria als…’ trifft die Bäckerei: Theologie und Stadtplanung im Gespräch".

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Theologie am Andersort.

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3.  Karl-Rahner-Platz 1 – ein persönlich motivierter Abschied

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Heute Abend gehen hier für mich nun elf Jahre Forschung und Lehre in Innsbruck zu Ende. Es waren elf intensive und – in Summe – auch sehr gute Jahre, mit unvergesslichen Gesichtern (von vielen wunderbaren Freund:innen und Bekannten überall in Österreich) und Geschichten (einige davon gehen weiter, da wir erst einmal hier wohnen bleiben). Auch mit Blick auf die Innsbrucker Fakultät waren diese Jahre in jeder Hinsicht intensiv: intensiv schön und beglückend, aber auch intensiv anstrengend und konfliktreich. Mit manchem bin ich hier angeeckt, und ich habe dabei auch so manche Federn gelassen. Zu den besten Momenten zähle ich die Begegnungen mit den Studierenden: vom Dienstagabend in Hörsaal 1 über das Arkadenhoffest bis hin zum Versumpfen mit Unweltingenieuren nach einem interdisziplinären Seminarabschluss, dessentwegen ich dann eine Onlinesitzung verpasst habe.

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Dass Studierende dabei in Sachen Glauben ihre eigene, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch existenzielle Sprache finden – dafür ist Theologie da. Später sollen sie in Pfarrgemeinden und Klassenzimmern, in der Citypastoral, bei der Caritas und an anderen pastoralen Orten dann ja auch selbst einmal eigenständig und kreativ „situationselastisch“[10] und „signalresonant“[11] (um zwei österreichische Politiker zu zitieren) agieren. Dazu braucht es neben einer Haltung der unaufdringlichen Antreffbarkeit, der überraschbaren Offenheit und des mitgehenden Interesses auch eine eigene, dauerhaft suchende theologische Sprache. Dann können auch die genannten pastoralen Orte zu Orten des Evangeliums werden, an denen Menschen aufatmen und über sich hinauswachsen, aufrecht gehen lernen und zu sich und zueinander finden – und sich ihr Leben zum Guten wendet. Eigentlich müsste auch eine theologische Fakultät ein solcher Ort sein. Und in ihren besten Momenten ist sie es auch.

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Tirol mit seinen Trachten, Schützen und Landesgelöbnissen, mit seiner allmächtigen Adlerrunde und unsäglichen Ludersagern ist mir dabei in mancherlei Hinsicht ein Andersort geblieben. Unvergesslich die erste Landesprozession zu Fronleichnam, als mich mein damals noch sehr kleiner Sohn Frederik tröstete: „Mach’ Dich locker, Papa – das ist doch alles nur Tradition." Manche Dinge hier sind mir auch nach elf Jahren noch reichlich fremd – und ich weiß, dass auch viele von Euch damit nicht wenig fremdeln.

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Aber Tirol ist mehr als nur ein in weiten Teilen schon sehr traditionalistischer Alpenkatholizismus[12] – hier in Tirol hat nach dem Missbrauchsfall Groer auch jenes Kirchenvolksbegehren begonnen, dessen Reformanliegen ich 1995 als junger Pfarrgemeinderat in meiner Heimatpfarre am Stadtrand von Würzburg unterschrieben habe. Es gibt – gerade hier und heute in der BÄCKEREI - auch viele Tiroler:innen, die anders sind. Engagierte Zeitgenoss:innen, die anders denken und weit blicken. Hier und anderswo in Österreich habe ich seit 2012 großartige Mit-Christ:innen gefunden, mit denen man „Pferde stehlen, Kirchenbonzen stürzen und anderen heiligen oder unheiligen Schabernack treiben kann“[13]. Schön, dass so viele von Euch heute Abend hierher gekommen sind (einige haben mir geschrieben, dass sie sehr gerne gekommen wären, aber leider anderweitig gebunden sind) – das lässt mich sehr dankbar auf die vergangenen elf Jahre zurückschauen!

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„Theologie  am Andersort" - unter diesem Gesamttitel möchte ich nun mit Euch zunächst den etwa 30-minütigen Film „Invisible Ground" des Innsbrucker Snowboardprofis Elias Elhardt anschauen und dann darüber ins Gespräch kommen: zunächst mit Elias selbst und dann mit Euch allen. Rechtzeitig zum Beginn des Borussenspiels in der Championsleague sind wir dann gegen 21:00 Uhr fertig. Ich freue ich mich jedenfalls schon sehr auf einen spannenden Abend gelebter christlicher Zeitgenossenschaft – das Thema meiner vor fast genau zehn Jahren gehaltenen Innsbrucker Antrittsvorlesung[14]. Public Theology aus dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils – genau das wünsche ich zum Abschied auch der hiesigen Fakultät: dass sie ihr großes konzilstheologisches Erbe selbstbewusster als bisher annimmt und es in kreativer Weise fortschreibt. Karl-Rahner-Platz 1 – diese für einen Theologen wohl schönste Dienstadresse der Welt jedenfalls vermisse ich schon jetzt…

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Wenn ich diese wunderbare Adresse nun aufgebe, so werden neben vielen Freundschaften auch zahlreiche Solidaritäten mit der österreichischen und der Südtiroler Kirche bleiben. Und eine große Liebe zur Region. Denn wo sonst kann man bei einer Teamklausur auf noch sonnenwarmen Felsen über den Geislerspitzen den Mond aufgehen sehen oder unter einem gar nicht so kalten Wasserfall baden? Wo sonst gibt es den besten Macchiatone nördlich der Alpen? Wo sonst kann man im März – meinem Innsbrucker Lieblingsmonat – junge Leute mit T-Shirt und Snowboard unter dem Arm in der Stadt sehen? Und wo kann man in 1,5 Stunden von zuhause aus auf seinem Lieblingsweg zur Enzianhütte gehen? Oder zum Höttinger Bild, zum Rechenhof oder zur Thaurer Burgruine? Allein deswegen freut es mich schon, dass dieser Abschied kein endgültiger und vollständiger ist, sondern eher ein mehrjähriger fließender Übergang, bei dem so manches Liebgewordene bleibt.

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Ich bin oft gefragt worden, warum ich den Ruf nach Münster angenommen habe. Es waren nicht nur Ansehen und Profil, Größe und Zukunftsfähigkeit dieser weltbekannten, geschichtsträchtigen Fakultät – es waren vor allem persönliche Gründe. Der Wunsch, mich weiterzuentwickeln und die eigene Lernkurve im positiven Bereich zu halten. Zu hören, wohin ich nicht nur akademisch gerufen, sondern auch spirituell berufen bin. Und: Ich werde heuer im Juli (genau zur rechten Zeit, um etwas Neues zu beginnen) fünfzig Jahre alt – auch das hat eine Rolle gespielt. Ein guter Freund hat mir im ‚Entscheidungssommer’ des letzten Jahres folgende Zeilen aus dem Buch Levitikus[15] geschickt:

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„Du sollst sieben Jahreswochen, siebenmal sieben Jahre, zählen; die Zeit von sieben Jahreswochen ergibt  […] neunundvierzig Jahre. Im siebten Monat […] sollst du das Signalhorn […] am Versöhnungstag  […] ertönen lassen. Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren.“ (Lev 25, 8-10).

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Letzten Endes war es aber, wenn ich ehrlich bin, auch eine gewisse Abenteuerlust, die den Ausschlag gegeben hat – selbst wenn mit diesem Wechsel erst einmal viele, viele Bahnkilometer verbunden sein werden. Ein befreundeter Jesuit hatte mir im letzten Sommer einen auch diesbezüglich sehr passenden Ratschlag aus seinen Weiheexerzitien weitergegeben: Man muss sich immer für die Option entscheiden, vor der man – ein bisschen – Angst hat. Manchmal muss man dann tatsächlich auch einmal etwas Verrücktes tun, um lebendig zu bleiben. Auch wenn Hermann Hesse nicht selten hart an der Kitschgrenze segelt und sein leider fast schon kaputtzitiertes Gedicht „Stufen“ vielleicht eine Prise zuviel Hegel in sich trägt, so kann ich mich in diesem Gedicht doch auch ganz gut wiederfinden:

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Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

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Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.

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Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

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Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

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Bevor es nun gleich in diesem Sinne ‚gesund’ und ‚heiter’ weitergeht, möchte ich noch einigen Personen danken. Der erste und größte Dank gilt meiner Familie, ohne die alles, was ich in der Theologie so treibe, nicht möglich wäre: meiner Tochter Anne, meinem Sohn Frederik und meiner Frau Alexandra. Ihr seid mir unendlich Vieles - unter anderem Lagerfeuer und Tankstelle, Basislager und Heimathafen.

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Ganz herzlich danken möchte ich aber auch allen, die mithelfen, diesen Abend besonders machen, indem Sie Musik und Sketchnotes beisteuern: Vera Lochmann und ihren „Saxofemmes+" und Nicolas Bleck und seinem Zeichenstift. Vielen Dank auch an das Team der Bäckerei, insbesondere an Jana hinter der Theke, und an das Team meines bald ehemaligen Fachbereichs, insbesondere an Raimund hinter der Kamera. Vielen Dank auch an meine ebenso bald ehemalige Fakultät, die mich ganze elf Jahre lang ge- und ertragen hat. Vor allem aber danke ich Dir, lieber Elias, dass Du heute Abend hier bist und mit uns ins Gespräch gehst. Dazu begrüße ich Sie und Euch allen nun sehr herzlich: Herzlich WILLKOMMEN - und uns allen nun einen vergnüglichen, hoffentlich auch inspirierenden Abend!

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Anmerkungen

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[1] Christian Kern forscht an einer theologischen ‚Performanzkritik’ von homo- und heteromorphen sozialen Praktiken in Kirche und Gesellschaft.

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[2] Vgl. expl. Christian Bauer: Diakonische Mission? Konzilstheologische Inspirationen aus Gaudium et spes und Ad gentes, in: Christoph Böttigheimer (Hg.): Vatikanum 21. Erschließung und bleibende Aufgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils für Theologie und Kirche im 21. Jahrhundert, Freiburg/Br. 2016, 403-425, 424f.

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[3] Rainer Bucher spricht vom „Niedergang der konstantinischen, tridentinischen und pianischen, also sanktionsbewährten Formationen von Kirche“ (Hinterm Horizont geht’s weiter, in: Lebendige Seelsorge (2022), 418-422, 419).

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[4] Josef Andreas Jungmann: Die Frohbotschaft und unsere Glaubensverkündigung, Regensburg 1936, VII.

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[5] Allein schon der Name des ‚Außerfern’ – des „Outer Rim“ Tirols – hat meine theologische Phantasie schon lange beflügelt.

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[6] Vgl. Christian Bauer: Pastorale Andersorte? Eine kleine theologische Sprachkritik, in: Diakonia (2015), 136-141.

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[7] Michel Foucault : Des espaces autres, in: Ders., Dits et Écrits II (1976-1988), Paris 2001, 1571-1581, 1574.

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[8] Ebd.

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[9] Dieser Satz geht auf einen prominenten Aufklärer zurück: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“ (Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher Heft K, 293).

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[10] Zitat des ehemaligen österreichischen Verteidigungsministers Gerald Klug (SPÖ).

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[11] Barbara Guwak, Matthias Strolz: Die vierte Kränkung. Wie wir uns in einer chaotischen Welt zurechtfinden, Berlin 2012, 176.

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[12] Karl Rahner sprach von einem „Trachtenvereinschristentum“ mit „Steckerlgotik und anderem kleinbürgerlich reaktionären Material“ (Theologische Deutung der Position des Christen in der modernen Welt, in: Ders.: Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, Innsbruck 1961, 13-47, 38f).

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[13] Kurt Marti: Lachen, Weinen, Lieben. Ermutigungen zum Leben, 1985, 88.

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[14] Christian Bauer: Christliche Zeitgenossenschaft. Pastoraltheologie in den Abenteuern der späten Moderne, in: International Journal of Practical theology (2016), 4-25.

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[15] Ich verstehe diesen Text als eine rekonstruktive Deutungsfolie, um biblische und eigene Erfahrungen in Analogie und Differenz abduktiv ineinanderzulesen.

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