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Die Sprengkraft der Vision. Fratelli Tutti als Provokation der Paternalisten

Autor:Quast-Neulinger Michaela
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2020-10-20

Inhalt

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Ein religiöser Funktionär, der das Wirken seiner Gemeinschaft nicht auf den privaten Bereich beschränken will und selbst den geistlichen Amtsträgern eine politische Dimension der Existenz zuspricht[1], ja noch mehr, einen Entwurf der „besten Politik“[2] vorlegt und die Anleitung zum Aufstand liefert, um jene zu entmachten, die Unrecht tun[3]. Ein klarer Fall für die staatliche Dokumentationsstelle „Politischer Katholizismus“, so es sie denn gäbe? Oder doch eher für die Anstalt „Naiver Träumer“? Ein „Plädoyer für universales Gutmenschentum“, das den Namen „Sozialenzyklika“ nicht einmal verdiene, da es an wissenschaftlichem Niveau mangle, so polemisiert Hans Winkler gegen Fratelli Tutti in der Presse.[4] In eine ähnliche Kerbe schlägt Ulrich Körtner in der Wiener Zeitung: „Diese Enzyklika ist sozialethisch und politisch unterkomplex. Auch theologisch gibt sie nicht viel her.“[5]

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Hier gilt es doch genauer zu reflektieren und vor allem den Text der Enzyklika tatsächlich zu lesen. Fratelli Tutti ist dem Charakter nach kein akademisches Lehrschreiben, sondern richtet sich an eine breite Öffentlichkeit. Die Wortwahl ist mitunter eingängig, direkt, vielfach sind es Zitate aus Predigten und öffentlichen Ansprachen, die auf ein möglichst gutes Verständnis abzielen. Verständlich darf natürlich nicht intellektuell schwach bedeuten. Der Text beinhaltet definitiv Passagen, die kritisiert werden können und müssen. Doch Franziskus selbst stellt bereits eingangs klar, dass es sich um den Text eines engagierten Seelsorgers handelt, der zu einem Diskussionsprozess anregen möchte. Die folgenden Ausführungen sollen einen Beitrag zu diesem Prozess liefern, indem sie die zentralen Themen des Schreibens herausarbeiten und diese kritisch würdigen für die weitere Debatte.

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Lex vivendi, lex credendi: Franziskus lebt vor, was er glaubt & lehrt

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Mit der Sozialenzyklika „Fratelli Tutti“ (3.10.2020) legt Papst Franziskus die Vision einer umfassenden Geschwisterlichkeit als Grundlage für eine neue Weltordnung vor. Es ist ein „demütiger Beitrag zum Nachdenken“ (Nr. 6), der sich aus dem christlichen Glauben speist und im Dialog mit zahlreichen Gesprächspartnern gewachsen ist. Einmal mehr dient Franz von Assisi als Vorbild – Franz, der den gesamten Kosmos als Bruder und Schwester erfährt, der an der Seite der Geringsten lebt und in aufrichtiger, selbstbewusster Demut an Sultan Malik al-Kamil herantritt.[6] Wie der Poverello lebt der Papst, was er glaubt und lehrt – lex vivendi, lex credendi. Das Treffen im Februar 2019 mit Großimam Ahmed al-Tayyeb in Abu Dhabi und das gemeinsam unterzeichnete Dokument über die Geschwisterlichkeit setzt er selbst in die Tradition des Dialogs zwischen Franz und dem Sultan. Mehrmals an prominenter Stelle in der Enzyklika verweist Franziskus auf das Abu-Dhabi-Dokument. Das gemeinsame Wort, die gemeinsame Tat des Großimams und des Papstes rückt damit ins Zentrum der katholischen Lehre –ein bahnbrechendes Moment der christlich-muslimischen Beziehungen.

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Angesichts einer immer stärker zerbröckelnden Weltordnung, die von der Zügellosigkeit der Wirtschaft überrollt wird (Nr. 14) und Menschen dem Paradigma der Nützlichkeit unterworfen und ihrer Rechte beraubt werden (Nr. 19-23), in einem Klima der Angst und Unsicherheit und des v.a. in den Medien gestreuten Hasses und der Verachtung (Nr. 42-50), entwirft Franziskus die Grundlinien einer neuen Politik. Getragen vom Motiv der umfassenden Liebe sollen Wege zu einem neuen Wir, einer wahren Einheit, die jenseits jeglicher Egozentrik steht, aufgezeigt werden.

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Aufgewühlt werden – das ist Würde

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Theologische Grundlage dafür ist das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37), der sein Herz für den ihm fremden Verletzten öffnet. Diese Folie ist von Franziskus bewusst gewählt, da sie eine Erfahrung anspricht, die jedem Menschen, unabhängig von religiösem Bekenntnis, zugänglich ist. In der Haltung des Samariters ist für Franziskus „der einzige Ausweg“, „jede andere Entscheidung führt auf die Seite der Räuber oder derer, die vorbeigehen, ohne Mitleid zu haben mit den Schmerzen des Menschen, der verletzt auf der Straße liegt“ (67). Bei allem Bekenntnis zur Offenheit und zur Prozesshaftigkeit, angesichts des Leidens gibt es für Franziskus nur zwei Optionen: sich vom Leid berühren lassen und helfen oder gehen, beschleunigen, abwenden. Doch wirkliches Menschsein liegt im tiefen Berührtwerden aus Liebe zum Mitmenschen:

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„Wir sind für die Fülle geschaffen, die man nur in der Liebe erlangt. Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem Schmerz zu leben; wir können nicht zulassen, dass jemand ‚am Rand des Lebens‘ bleibt. Es muss uns so empören, dass wir unsere Ruhe verlieren und von dem menschlichen Leiden aufgewühlt werden. Das ist Würde.“[7]

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Diese Offenheit ist kein Privileg der Gläubigen bzw. jener, die sich dafür halten, sondern „paradoxerweise können diejeningen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden“ (74). 

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Offen für Beziehung

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Franziskus‘ Anthropologie ist relational durch und durch. Der Mensch findet nur in Beziehung zum Nächsten zu sich selbst: „Der Mensch mit seinen unveräußerlichen Rechten ist von Natur aus offen für Bindungen. Zutiefst wohnt ihm der Ruf inne, sich in der Begegnung mit anderen zu transzendieren“ (111). Echte Liebe bedeutet, sich in Beziehung vervollkommnen zu lassen (89), in der offenen Begegnung mit dem anderen zu wachsen. „Deshalb kann niemand ohne die Liebe zu konkreten Mitmenschen den Wert des Lebens erfahren“ (87). Die Egozentrik des gegenwärtigen Menschen, die ihre gesellschaftliche Form im Nationalismus und der Kultur der Abschottung findet, steht jeder Form der Geschwisterlichkeit und letztlich dem Frieden entgegen.

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Die Praxis der Liebe, die Franziskus vorlegt, ist nicht naiv, sondern klassisch thomistisch: „Die Liebe zum anderen drängt uns aufgrund ihrer Natur, das Beste für sein Leben zu wollen“ (94). Die Forderung nach universaler Geschwisterlichkeit darf nicht in einem Zwang zur Homogenität oder falscher Offenheit münden, die zu einer Auslöschung der je eigenen Identität oder in totalem Relativismus mündet. Franziskus sucht hier immer wieder neu die Balance zwischen einer berechtigten Sorge um die je eigene Identität, einem klaren Bekenntnis zu den tragenden Prinzipien und einer „gesunden Offenheit“ (148). Eine lokale Gemeinschaft und eine Weltordnung, die echten Austausch und aufrichtige Beziehungen ermöglichen, sind ein permanenter Drahtseilakt. Das Wir ist Arbeit, lokal wie global, in der Familie wie auf Ebene der Weltgemeinschaft. 

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Eine Politik der Liebe: Spielregeln für den Markt

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Franziskus sieht ab von der Definition einer christlich-sozialen Politik, wie sie etwa in Österreich zuletzt im Zuge der Restrukturierung der ÖVP diskutiert wurde.[8] Politik hat kein religiöses Label, sondern steht im „Dienst am wahren Gemeinwohl“ (254). Demagogischer Populismus, den Franziskus abgrenzt von anderen, durchaus positiven Formen eines „Populismus“, den er vor allem aus der südamerikanischen Befreiungstheologie ableitet, und ein außer Rand und Band geratener Neoliberalismus stürzen insbesondere die Ärmsten in den Abgrund, während sich einige wenige grenzenlos bereichern und ihre Machtbastionen weiter ausbauen.[9]

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Franziskus lehnt Wirtschaft nicht grundsätzlich ab, wie ihm immer wieder, auch im Zuge der Rezeption der vorliegenden Enzyklika unterstellt wird. Es geht ihm um die Rahmenbedingungen menschlichen Lebens. „Der Markt allein löst nicht alle Probleme“ (168), es braucht eine aktive Wirtschaftspolitik, die den zügellosen Neoliberalismus überwindet und den „kleinkarierten und monochromatischen Wirtschaftstheorien“ (169) eine Absage erteilt. Diese Position ist weder naiv noch wirtschaftsfeindlich, sondern realistisch und menschenfreundlich.[10]

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Gerade angesichts des realen Machtverlusts der Nationalstaaten[11] ist ein Neubekenntnis zum Primat demokratisch legitimierter Politik notwendig, die sich auf soziale und politische Liebe stützt (176-185). Dazu gehört ein unbedingtes Bekenntnis zu den Menschenrechten (188), die politisch effektiv umgesetzt werden müssen. Es ist die Aufgabe der Politik, Spielregeln – sprich einen Rahmen – zu entwickeln, die das Leben aller ermöglichen. Hier trifft sich Franziskus mit seinen Kritikern, die ihm Feindseligkeit gegenüber dem Liberalismus unterstellen.[12] Der Papst stellt sich gegen eine bestimmte Form des Liberalismus, die dem demokratisch nicht legitimierten Markt das Spiel überlässt, nicht jedoch gegen den liberalen Staat als Rahmenordnung einer offenen Gesellschaft. 

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Die Welt als Polyeder

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In einer Zeit der Krise internationaler Organisationen, denen autoritäre Staatsmänner gerne den letzten Todesstoß versetzen möchten, erscheint Franziskus als einer der letzten Multilateralisten. Deutlich vernehmbar ist die Kritik an jenen Staaten, die internationale Abkommen mit unilateralen Verträgen unterwandern (153)[13], Verträge nicht einhalten[14] und aus nationalistischer Engstirnigkeit das System internationaler Beziehungen (zer)stören nach dem Motto divide et impera.

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Die Welt erscheint ihm als fraktaler Polyeder, in dem Menschen in all ihrer Pluralität ihren je eigenen Raum der Entfaltung finden, insbesondere die heute noch Ärmsten. Aufgabe der Regierenden ist es als Architekten dieses Raums die Strukturen bereitzustellen, die es Menschen ermöglichen ihr Leben in Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zu gestalten (vgl. 103-105; 190).

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Franziskus entfaltet grundlegende Prinzipien der katholischen Soziallehre – Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl – und legt ihnen eine existenzielle Haltung des Dialogs zugrunde. Dieser zielt immer auf das Gemeinwohl, nicht auf Sicherung herrschaftlicher Macht (201-202). Der Dialog fordert, den Gegner zu verstehen, wenn ich auch seine Position nicht teile. Er ist die Überwindung der Polarisierung und basiert auf der Achtung der unbedingten Würde jedes Menschen.

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Ek-Zentrisch leben ohne Ende: Mut zur Aussaat

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Die ek-zentrische Vision von Kirche, die Franziskus in Evangelii Gaudium ausführt, wird nun in Fratelli Tutti global geweitet. Es gilt auch in Politik und Gesellschaft von den Rändern her zu denken und in Demut Verantwortung füreinander zu übernehmen:

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„Mit Verzicht und Geduld kann ein Regierender die Schaffung jenes schönen Polyeders begünstigen, in dem alle Platz finden. In diesem Bereich funktionieren die Verhandlungen nach Art der Wirtschaft nicht. Es ist mehr als das, es ist ein Austausch von Angeboten zugunsten des Gemeinwohls. Das scheint eine naive Utopie, aber wir können auf dieses höchste Ziel nicht verzichten.“[15]

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Die „beste Politik“ (Kap. V), die Franziskus vorschlägt, ist nicht vereinbar mit der autokratischen Anerkennungsmaschinerie der Gegenwart[16], denn sie fordert von den Verantwortungsträgern ein Moment der Demut, der Hingabe, der Entäußerung für den Nächsten. Nicht die Machttat steht im Zentrum, sondern die zärtliche Hinwendung zum Menschen, insbesondere den Geringsten (233-235). Politik im besten Sinne ist ein permanenter, dialogischer Prozess, dessen Ernte (vielleicht) von anderen eingebracht wird (194-196). Wer heute einen Wald pflanzt, dessen (Kindes-)Kinder werden (über-)morgen ernten können.

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Keine Gemeinschaft ohne Erinnerung und Vergebung

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Politik ist für Franziskus wesentlich Friedensarbeit, die bei der Arbeit an sich selbst, der Bildung einer dialogischen Haltung der Liebe beginnt und kein Ende findet. Gelingen kann sie nur unter dem Anspruch „nackter Wahrheit“ als Grundlage jeder Beziehung, wobei Franziskus auf die Erfahrungen in der Versöhnungsarbeit Südafrikas verweist (226-227; 229). Die schonungslose Aufarbeitung von Konflikt und Gewalt ist unbedingte Voraussetzung von Vergebung, die nie ohne Erinnerung an das Leid der Opfer geschehen kann (vgl. 244-254 unter besonderer Berücksichtigung der Shoah und der Atombomben von Nagasaki und Hiroshima). Damit schließt sich die Klammer zur Warnung vor der Geschichtsvergessenheit der gegenwärtigen Welt in Kapitel I (35).

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Todesstrafe, lebenslange Haft, gerechter Krieg: „falsche Antworten“ (255)

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Unter dem Kapitel „Wege zu einer neuen Begegnung“ verschärft Franziskus die Zurückweisung der Todesstrafe und reiht auch lebenslange Haftstrafen als „verdeckte Todesstrafe“ (268) ein (263–270). Bereits die Streichung aus dem Katechismus hatte vehemente Reaktionen aus konservativen Kirchenkreisen und insbesondere den USA hervorgerufen, wo unter Präsident Trump das Memorandum der Todesstrafe auf Bundesebene ausgesetzt wurde. Mit der Zurückweisung lebenslanger Haftstrafen fordert Franziskus das Strafrechtssystem beinahe aller gegenwärtigen Staaten heraus.

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Die Lehre vom „gerechten Krieg“, über Jahrhunderte intensiv debattiert und auch Teil des Katechismus der Katholischen Kirche, wird von Franziskus zwar nicht völlig gestrichen, aber so deutlich in die Schranken gewiesen, dass es einer Streichung nahezu gleichkommt (256-262, bes. 258). „Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit“ (261) und kann praktisch nicht gerecht und rational verantwortbar sein. Eine Politik der Abschreckung kann nie Grundlage nachhaltigen Friedens sein (262), nur das klare Bekenntnis zur Charta der Vereinten Nationen (257) und die dort eingeforderte „unangefochtene Herrschaft des Rechts“ kann Prozesse des Friedens begleiten.

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Ulrich Körtner markiert hier berechtigt eine markante Schwachstelle der Enzyklika.[17] Es braucht eine genauere Differenzierung, wann tatsächlich von „gerechtem Krieg“ gesprochen werden kann, zugleich aber ist nicht abzustreiten, dass die Lehre vom „gerechten Krieg“ permanent pervertiert wird. Eine Spannung innerhalb der Enzyklika tut sich auch auf, wenn einerseits der „gerechte Krieg“ zurückgewiesen wird, andererseits aber ein Aufstand gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit geradezu gefordert wird (241). 

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Der politische Auftrag der Kirche: Gefährliche Gratwanderung

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Fratelli Tutti kann als Aufriss des politischen Auftrags der Kirche gelesen werden. Franziskus schärft die im Zweiten Vatikanischen Konzil erfolgte Anerkennung der Autonomie der Welt ein, aber macht zugleich deutlich, dass Kirche eine öffentliche Mission hat. Dabei gesteht er auch Amtsträgern eine politische Existenz zu, wenngleich sie im Gegensatz zu Laien nicht parteipolitisch aktiv sein dürften (276). Wo liegt nun der legitime Ort von Kirche, von Religion im Politischen? Dies gilt es in der Rezeption der Enzyklika genau zu differenzieren, um nicht in die institutionelle Vermengung von Politik und Religion zurückzufallen und dennoch die kritisch-aktive Präsenz von Religion im Politischen zu wahren.[18]

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„Nicht Liebe und Barmherzigkeit, sondern Gerechtigkeit, Herrschaft des Rechts und Sicherheit sind seine Aufgabe“, hier ist Ulrich Körtner definitiv zuzustimmen.[19] Wie er dazu kommt, Papst Franziskus zu unterstellen, diese Aufgabe in Barmherzigkeit aufzulösen, scheint ein Rätsel. Denn die Herrschaft des Rechts fordert Franziskus immer wieder ein, explizit etwa in 174 („pacta sunt servanda“) und 257:

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„Zu diesem Zweck muss die unangefochtene Herrschaft des Rechtes sichergestellt werden sowie der unermüdliche Rückgriff auf die Verhandlung, die guten Dienste und auf das Schiedsverfahren, wie es in der Charta der Vereinten Nationen, einer wirklich grundlegenden Rechtsnorm, vorgeschlagen wird.“

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Doch es ist nicht Aufgabe der Kirche eine Staatslehre vorzulegen. Die Vergangenheit (und mitunter auch die Gegenwart) weist genug Beispiele auf für die verheerenden Konsequenzen einer religiösen Staatsdoktrin und der institutionellen Verschmelzung von Staat und Religion. Was sie jedoch sehr wohl leisten kann, und hier ist auf das mittlerweile klassische Böckenförd’sche Dictum zu verweisen, ist die Herausbildung von Haltungen, die es ermöglichen unter Treue zu grundsätzlichen Prinzipien in Pluralität zu leben. Das scheint auch die Botschaft von Fratelli Tutti zu sein: Wie kann eine Kultur des Dialogs und eine tiefe Geschwisterlichkeit gelingen, in Achtung unserer bleibenden Differenzen und unveräußerlichen Rechte?

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Ein entscheidender Beitrag dazu ist die in einer polyedrisch gedachten Gemeinschaft permanent geforderte Diskussions- und Streitkultur. „Grundkategorie des Politischen ist nicht allein der Konsens - schon gar nicht Harmonie -, sondern auch der Konflikt“, so Ulrich Körtner.[20] Papst Franziskus sucht auch nicht eine homogene Masse, sondern den Drahtseilakt zwischen Homogenität und Heterogenität, zwischen dem Bedürfnis nach Identität und dem Wachstum aus Offenheit für den anderen. Politische Liebe ist keine rosarote Brille, sondern jene Haltung, die es ermöglicht – und hier ist auf Chantal Mouffe[21] zurückzugreifen – im Anderen den legitimen Gegner zu erkennen, nicht länger den Feind. Auch unter Geschwistern kann und muss gestritten wird. Entscheidend ist, wie. 

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Ein naiver „Islamversteher“?

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Fratelli Tutti ist eine direkte Fortsetzung des „Dokuments über die Brüderlichkeit“, das Franziskus gemeinsam mit Großimam Ahmed al-Tayyeb unterzeichnete. Bereits damals wurde dem Papst Naivität, eine Verharmlosung des Islam in seiner politischen Dimension oder ein Verrat an den Christen im Nahen Osten unterstellt. Nun wirft Hans Winkler ein: „Entgegen den Erfahrungen von Millionen Christen in Afrika und im Nahen Osten mit dem Islam möchte der Papst die Vorstellung nicht aufgeben, der Islam könne so etwas wie eine Partnerreligion bei der Lösung globaler Probleme sein.”[22]

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Wieder ist ein Körnchen Wahrheit dran. Eine Religion, die grundlegende Freiheiten nicht achtet und die Welt unter ihre politische Herrschaft zwingen will, ist ein massives Problem. Der Staatsislam im Iran, der Türkei und Saudi Arabien werden hier von Ulrich Körtner berechtigt genannt.[23] Aber ebenso problematisch ist die pauschale Exklusion von Religion aus dem Politischen. Es gilt genau zu differenzieren zwischen dem Recht auf Partizipation im politischen Prozess – auch von Muslimen, und dem Missbrauch dieses Rechts mit dem Ziel der Implementierung totalitär-religiöser Herrschaft. Felix Körner SJ weist zurecht darauf hin, dass Religionen ein Interesse daran haben, weltgestaltend tätig zu sein und sich damit automatisch Überschneidungen zum Politischen ergeben.[24] Entscheidend für eine gerechte, offene, das Leben aller ermöglichende Gesellschaft ist, welcher Rahmen diesen Prozessen der Weltgestaltung durch den demokratischen Staat gegeben wird. 

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Fratelli Tutti – ein Stachel für katholische Paternalisten

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Fratelli Tutti ist die Summe aus zahlreichen Predigten, Schreiben, Gesprächen des bisherigen Pontifikats und gibt daher mitunter den Anschein eines Sammelsuriums. Doch bei genauer Lektüre ist eine klare Handschrift zu erkennen, ein durchgängiger Stil, der diesen Papst kennzeichnet.

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Der Historiker James Chappel[25] unterscheidet zwei katholische Reaktionsmodelle auf die Moderne – paternalistischer Modernismus und fraternalistischer Modernismus, die sich in der Zwischenkriegszeit herauskristallisieren. Franziskus kann klar dem fraternalistischen Schema zugeordnet werden, insofern Zivilgesellschaft, Solidarität, Dialog und Liebe für ihn eine zentrale Rolle spielen. Entsprechend zweigeteilt fallen die ersten Reaktionen auf die Enzyklika aus. Franziskus‘ Stil fordert vor allem jene heraus, die einem „katholischen Paternalismus“ anhängen, den R. Reno an „powerful counter-authorities rooted in fierce loyalties to natural and revealed truths“[26] festmacht – und einfordert. Franziskus jedoch versteht sein Papstamt nicht im Sinn einer paternalistischen Herrschaftsautorität, sondern als Dienst, der seine Autorität aus der Beziehung mit den ihm Anvertrauten und der authentisch gelebten Botschaft des Evangeliums gewinnt.

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Das Recht auf Privateigentum ist ein Kerngedanke der Katholischen Soziallehre, doch Fratelli Tutti betont die soziale Funktion des Eigentums (vgl. 120) wider einen zügellosen Neoliberalismus, der mitunter auch unter dem Label „katholisch“ verkauft wird. Auch hier distanziert sich Franziskus vom katholischen Paternalismus und seiner mitunter blinden Verteidigung der Macht des Marktes. R. Reno fasst kurz zusammen wofür der neue Paternalismus 2020 stehen müsse:

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“Whereas paternal Catholicism leaned on counter-authorities to resist totalitarianism – the moral culture of the family underwritten by natural law and the authority of the Church grounded in divine truths – fraternal Catholicism called for an anti-authoritarian ethos. It envisioned ‘fraternal humanity without a father,’ cooperation without authority, pluralism without a dominant center, and a world without nations. These ideals retain force today, finding expression in gender theory, multiculturalism, and end-of-history globalism.”[27]

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Franziskus widersetzt sich in Fratelli Tutti dieser Polarisierung, wie sie insbesondere von Vertretern des US-Katholizismus verbreitet wird und vertritt exakt das, wofür der „fraternal Catholicism“ steht: eine geschwisterliche Menschheit, Prozesse statt hierarchischer Strukturen, Multilateralismus unter Begleitung internationaler Organisationen statt nationalistischer Machtspiele. Die paternalistischen Identitätsmarker „Abtreibung“ und „christliche Werte vs. Islam“ umschifft er, indem er universal für das Leben aller eintritt, nicht nur für jenes der Ungeborenen, und zeigt, dass gute Politik nicht „christlich“ ist, sondern schlicht gut. Anti-muslimischen christlichen Kulturkämpfern wird dies wohl wenig gefallen, ebenso wenig christlichen Befürwortern von Todesstrafe und Waffenbesitz, die zugleich als Anti-Abtreibungs-Aktivisten auftreten. Lebensschutz heißt Lebensschutz für – alle. 

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Weder naiv, noch harmlos

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Franziskus mag ein Träumer sein, doch ist dies in unseren Zeiten eine Auszeichnung. In einer zerbröckelnden Weltordnung braucht es Visionen, die Grenzen überschreiten. Wer spricht heute noch vom Wohl aller? Wer wagt es noch, Prozesse zu initiieren, wenn es doch um Effektivität und Evaluation am Stichtag geht? Die Ernte, so wird behauptet, ist immer noch am Wahltag – und nicht in der nächsten, übernächsten Generation. Eine Politik, die mehrheitlich als Marketinggewerbe betrieben wird, kann nicht mutig gestalten.[28]

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Doch diese Enzyklika will nicht belehren, sondern zum Gespräch einladen, um gemeinsam weiterzudenken und zu arbeiten. Nicht belehren, sondern ermutigen, um aufzustehen und eine neue Welt zu gestalten. Wer wird dies in Österreich übernehmen, wenn die Katholische Sozialakademie inmitten der Krise ihrer Arbeitsfähigkeit beraubt wurde? Wer wird die Stimme in Europa erheben, wenn christliche Paternalisten ihren politischen Totalitarismus gegen jene durchsetzen, die sie als „nutzlos“ oder „gefährlich“ brandmarken für ihr Projekt des „christlichen Abendlandes“?

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Diese Enzyklika ist weder naiv noch harmlos. Sie hat eine Sprengkraft, die sich denjenigen offenbart, die die Einladung zur geschwisterlichen Strukturrevolution aufgreifen – in Welt und Kirche.

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Anmerkungen

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[1] Vgl. Fratelli Tutti 276.

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[2] Vgl. Fratelli Tutti Kapitel 5.

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[3] Vgl. Fratelli Tutti 241–243.

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[4] Vgl. Winkler, Hans, Plädoyer für ein universales Gutmenschentum. In: Die Presse (5.10.2020). Online unter: https://www.diepresse.com/5877638/pladoyer-fur-ein-universales-gutmenschenshytum (zuletzt: 19.10.2020).

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[5] Körtner, Ulrich, All you need is love. In: Wiener Zeitung (7.10.2020). Online unter: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2077835-All-you-need-is-love.html (zuletzt: 19.10.2020).

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[6] Vgl. Quast-Neulinger, Michaela, Konversion zur gemeinsamen Mission. Eine katholische Perspektive auf christlich-muslimische Beziehungen 800 Jahre nach Damiette. In: Dziri, Amir / Hilsebein, Angelica / Khorchide, Mouhanad / Schmies, Bernd (Hg.), Der Sultan und der Heilige. Islamisch-Christliche Perspektiven auf die Begegnung des hl. Franziskus mit Sultan al-Kamil (1219-2019). Münster: Aschendorff 2021 [im Erscheinen].

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[7] Fratelli Tutti 68.

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[8] Vgl. den Sammelband der Politischen Akademie Rausch, Bettina / Varga, Simon (Hrsg.), Christlich-soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte. Wien 2020.

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[9] Die massiven Gewinnzuwächse von Amazon & Co. in

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Die US-Banken Goldman Sachs und JP Morgan konnten ihre Gewinne in den vergangenen Monaten massiv steigern. Vgl. Der Standard, Goldman Sachs verdoppelt Gewinn und stiehlt US-Banken die Show. Online unter: https://www.derstandard.at/story/2000120923216/goldman-sachs-verdoppelt-den-gewinn-und-stiehlt-us-banken-die (zuletzt: 20.10.2020). Milliardäre konnten gerade in der Krise ihren Besitz vermehren, insbesondere die „großen Namen“ der Tech-Branche wie Jeff Bezos, Bill Gates, Elon Musk und Mark Zuckerberg, vgl. Ritter, Johannes, Die Reichen werden immer reicher. FAZ (7.10.2020). Online unter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-reichen-werden-waehrend-der-corona-krise-immer-reicher-16989997.html (zuletzt: 20.10.2020). Mitunter wird eingeworfen, dass Milliardäre doch auch (vermehrt) spenden würden, besonders in Krisenzeiten. Doch dieses Argument verdeckt die Grundproblematik ungerechter Strukturen, die eine offene Teilhabe am Gemeinschaftsleben verhindern. Milde Gaben sind ein Tropfen auf dem heißen Stein, doch sie laufen große Gefahr, Bedürftige ihrer Würde zu berauben und ihnen die Möglichkeit zur Entfaltung und Teilhabe zu verwehren.

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[10] Zum Zusammenhang von Markt und Moral aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive vgl. zuletzt den Kommentar von Sturn, Richard, Wieso der Kapitalismus viel mit Fairness zu tun hat. In: Die Presse (15.10.2020), online unter: https://www.diepresse.com/5882813/wieso-der-kapitalismus-viel-mit-fairness-zu-tun-hat (zuletzt 20.10.2020). Sturn, Leiter des Instituts für Finanzwissenschaft und Öffentliche Wirtschaft sowie des Graz Schumpeter Centres, betont: „Sowohl der moderne Markt als auch marktförmiger Austausch unter ‚Urvölkern‘ ist nicht voraussetzungslos. Er setzt die Befolgung bestimmter Regeln und gewisse Tugenden voraus.“ Markt und Moral bedingen sich laut Sturn, aber nicht im Sinne, dass der Markt zu Moral führe. Die Verhältnisse sind komplexer: „Interessant ist vielmehr, was man dafür tun kann, um die Symbiose von Markt und Moral durch kluge Entwicklung der Spielregeln in der digitalen Transformation für das 21. Jahrhundert weiterzuentwickeln.“

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[11] Vgl. dazu bereits lange den britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch.

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[12] Vgl. z.B. Freytag, Aurelius, Kein Dialog mit dem Liberalismus. In: Die Furche 42 (15.10.2020) 10.

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[13] Die einzelnen Staaten werden nicht genannt, aber die USA, China und Großbritannien liegen hier sehr nahe.

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[14] Vgl. die Diskussion um den Brexit, wo Großbritannien bewusst gegen den Grundsatz pacta sunt servanda verstoßen will und damit das System internationaler Beziehungen radikal untergräbt.

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[15] Fratelli Tutti 190.

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[16] Vgl. zu fehlgeleitetem Streben nach Anerkennung bei autokratischen Führern u.a. Fukuyama, Francis, Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hamburg ³2019.

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[17] Vgl. Körtner, Ulrich, All you need is love. In: Wiener Zeitung (7.10.2020). Online unter: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2077835-All-you-need-is-love.html (zuletzt: 19.10.2020).

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[18] Vgl. dazu Neulinger, Michaela, Zwischen Dolorismus und Perfektionismus. Konturen einer Politischen Theologie der Verwundbarkeit. Paderborn 2018.

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[19] Körtner, All you need is love.

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[20] Körtner, All you need is love.

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[21] Vgl. u.a. Mouffe, Chantal, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt 2007; Dies., Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin 2014.

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[22] Vgl. Winkler, Plädoyer für ein universales Gutmenschentum.

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[23] Vgl. Körtner, Ulrich, All you need is love.

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[24] Vgl. Körner, Felix, Politische Religion. Theologie der Weltgestaltung – Christentum und Islam. Freiburg 2020.

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[25] Vgl. Chappel, James, Catholic Modern. The Challenge of Totalitarianism and the Remaking of the Church. Cambridge – London 2018. Zur Einordnung von Franziskus unter das fraternalistisch-solidarische Schema vgl. zuletzt Palaver, Wolfgang, "Fratelli tutti": Die neue Enzyklika von Papst Franziskus. In: Die Furche 41 (7.10.2020). Online unter: https://www.furche.at/religion/fratelli-tutti-die-neue-enzyklika-von-papst-franziskus-3853066?%2041%20%2F%208.%20Oktober%202020 (zuletzt: 20.10.2020).

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[26] Reno, Russel R., Fierce Loyalities. In: First Things. Online unter: https://www.firstthings.com/article/2020/02/fierce-loyalties (zuletzt 8.10.2020).

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[27] Reno, Russel R., Fierce Loyalities.

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[28] Vgl. zur Entwicklung von Politik als Marketing höchst erhellend Lepore, Jill, Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. München 2019. Lepore zeigt, wie in den USA seit den 1920er Jahren Politik zusehends von Marketingbüros unterminiert wird, die gezielt die öffentliche Meinung manipulieren. 

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