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„Vergeben“: ein Hauch von Erlösung
(Predigt am 24. Sonntag im Jahreskreis 2020; 13. September 2020)

Autor:Siebenrock Roman
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2020-09-21

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Lesung: Röm 14, 7–9; Evangelium Mt 18, 21–35

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Die Frage des Petrus an Jesus ist heute so aktuell wie zu allen Zeiten: Wie oft muss ich meinem Bruder oder meiner Schwester vergeben? Doch halt: So steht das nicht im Evangelium. Wörtlich steht ein Futur und die Frage Petri lautet deshalb ganz im Wortlaut übersetzt: Wie oft wird sündigen gegen mich - mein Bruder und werde ich vergeben ihm? Bis siebenmal?

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Wenn wir die Frage so stellen, dann merken wir, dass es im heutigen Evangelium nicht primär und Moral gehen kann. Vergeben kann man nicht machen und daher auch nicht fordern oder gar vorschreiben. In der Frage des Petrus geht es also nicht um ein Müssen, Sollen oder Können, sondern um ein Ereignis das mit und an uns geschieht. Denn im zweiten Teil der Frage schwingt die Besorgtheit Petri selbst durch: werde ich vergeben ihm? Wir merken nach der wörtlichen Übersetzung auch, wie realistisch das Evangelium unsere Lebenswirklichkeit erfasst. Sündigen bedeutet in der Schrift grundsätzlich gegen Gott, den Freund des Lebens, und seine uns bekannten Regeln zu verstoßen. Sündigen heißt das Leben beeinträchtigen oder zerstören. Und das ist der Sinn dieser Zahl „siebzig-mal-sieben-mal“: Wir leben in einer Welt, in der wir vor Verletzungen und Gemeinheiten nicht verschont sind und wir immer Täter und Opfer zugleich sind. Immer wird gegen mich gesündigt und immer sündige auch ich. Wir leben immer mit beschädigtem Leben. Werde ich dann vergeben, d.h. einen neuen Anfang ermöglichen? Oder verliere ich mich in der Endlosschleife von Verletzen, Vorwürfen, Rückforderungen und damit Gewalt? Deshalb kommt in der Frage des Petrus die Grundfrage der Schrift und des Evangeliums zum Ausdruck: Wie können wir leben, nicht nur dahinleben, sondern voll und ganz leben in einer Welt und Geschichte, die kein Paradies mehr ist. Das Evangelium des Matthaus sagt: Wir können wirklich leben, wenn in unserer Lebensweise das Himmelreich in und mitten unter uns aufgeht; jenes Himmelreich, das Jesu ist, das er programmatisch in seiner Bergpredigt ausgedeutet hat und durch seine Hingabe am Kreuz in unsere Geschichte unauslöschbar eingeschrieben hat. Denn im Vergeben ereignet sich Himmelreich; - der Inbegriff von gelingendem Leben. So wird die Frage des Petrus auch unsere Frage: Wie geht Leben, richtiges und ganzes Leben, wenn es immer ein verletzbares und verwundetes Leben sein wird? Und werde ich es leben im Vergeben?

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Mit dem ausdeutenden Gleichnis stellt der Evangelist uns vor Augen, wie Vergeben und Himmelreich zusammenhängen. Zweimal wird jemand im Gleichnis um Schuldenerlass angegangen, doch die Personen reagieren höchst unterschiedlich. Die erste Schuld ist aberwitzig hoch: 10 000 Talente, nicht zu überbieten. Angesichts der Tatsache, dass das ganze Steueraufkommen von Galiläa und Peräa im Jahre vier 200 Talente umfasste, ist klar: Eine solche Schuld kann der Schuldner niemals zurückzahlen, sein Angebot ist absurd. Doch der Herr erlässt ihm diese Last. Dem gerade Entlasteten schuldet ein Mitknecht im Vergleich dazu lächerlich wenig: 100 Denare. Der Tageslohn eines Arbeiters betrug damals 1 Denar. Das Angebot des Schuldners auf Rückerstattung war also realistisch, er hätte es abarbeiten können. Jetzt reagiert der kurz zuvor entlastete Schuldner zwar nach Recht und Gesetz, aber grotesk unbarmherzig. Verständlich ist die Empörung der Mitknechte, und der zuvor großzügige König liefert den Knecht seiner eigenen Logik aus; – nicht der Willkür, sondern dem Lauf von Recht und Gesetz.

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Damit scheint die Frage des Petrus beantwortet zu sein: Wir sollen das uns Geschenkte, die Gabe weitergeben. Wer viel Gutes erfahren hat, ist verpflichtet in gleicher Großzügigkeit zu handeln. Ohne Barmherzigkeit wird das Gesetz und die Gerechtigkeit zur Falle. Und wir in der Spur Jesu sollen barmherzig sein, wie der Vater im Himmel barmherzig ist (Lk 6,36; Mt 5,48). Aber geht es so einfach mit dem „sollen“. Gebote, Forderungen und Vorschriften regulieren das äußere Verhalten. Natürlich ist es richtig und gut, ethisch zu handeln, barmherzig zu sein. Ich schätze Höflichkeit und gutes Benehmen im alltäglichen Leben, mit der Respekt und Achtung gewahrt, mindestens nicht zerstört wird. Wer von uns schon einmal ein Festmahl, z.B. bei der Hochzeit, ausrichten musste, weiß was ich meine. Da überlegen wir: Wer kann neben wem sitzen, ohne dass alle auf heißen Kohlen sitzen müssen? Ethik ist wichtig und unverzichtbar. Aber reicht sie hin? Dem Evangelium geht es um mehr, denn vergeben ist mehr, als einen Geldbetrag nachzulassen. Vergeben ist die Möglichkeit eines neuen Anfangs, die Möglichkeit einander auf unverstellte Weise neu begegnen zu können. Vergeben ist ein Teil jener Versöhnung, die nach Paulus der entscheidende Auftrag der Apostel und der ganzen Kirche ist (2 Kor 5,11-21). Im Vergeben berührt uns ein Hauch von Erlösung, in der Erfahrung der Vergebung ist das Himmelreich da.

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Aber wie geht das? Wie geht vergeben von Herzen, wie Jesus am Ende sagt (Mt 18,35)? Ist das überhaupt möglich, wenn wir wirklich verletzt worden sind? Wir spüren, wenn wir in solchen Situationen Entschuldigungen hören oder selber um Verzeihung bitten, dass etwas in uns noch ganz anders rumort und brodelt und wir müssen es wenigstens uns eingestehen: Nichts ist versöhnt, keine Wunde vernarbt. Sollen wir uns also mit dem äußeren Verhalten zufriedengeben? So wichtig und gut dieses ist, meine ich dennoch: Das genügt nicht. Erstens meldet sich Verdrängtes mit noch größerer Wucht zurück, weil wir nichts vergessen. Wir müssen es aufarbeiten, wie man heute sagt und dafür hat sich ein ganzer Wissenschafts- und Erwerbszweig entwickelt: Die Therapieszene. Auch diese Möglichkeit ist gut und wichtig. Doch ich möchte das Evangelium beim Wort nehmen: Es verspricht uns ein neues Herz, die unglaubliche Freiheit der Kinder Gottes. Das möchte ich ausprobieren. Wie könnten wir denn auf Dauer nach der Kultur des Evangeliums leben, wenn wir nicht aus Gott neugeboren würden? Denn nicht Moral und Zustimmung zu Sätzen, sondern Neuwerdung, Wiedergeburt ist die Mitte des christlichen Glaubens.

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Sie geschieht, wenn der Christus in uns uns verwandelt. Paulus hat diese seine ihn wandelnde Erfahrung in der Lesung wunderbar ausgedrückt: Christlicher Glauben heißt mit Christus zu leben und zu sterben. Aber: Ist das nur etwas für Spezialisten, für große Heilige oder besonders begabte mystische Menschen oder können auch wir Normalchristen das erfahren, wenigstens etwas verkosten? Ich bin davon überzeugt, dass dies möglich ist, weil es uns allen in der Taufe versprochen worden ist. Wir alle wurden in den Tod und die Auferstehung des Herrn, also in ihn hinein getauft. Wäre es dann nicht an der Zeit, zu erproben ob das auch stimmt, ob sich dieses Versprechen auch auswirkt in unserem alltäglichen Leben? Sollten wir nicht anfangen, Jesus beim Wort zu nehmen? Ja wir sollten uns nicht mit weniger zufriedengeben, als mit der Erfahrung der Gottesgeburt in unserem Leben. Die Frage des Petrus und das heutige Evangelium sind dafür eine ideale Gelegenheit. Denn das Himmelreich geht in und unter uns auf, wenn wir vergeben können, immer. Denn Vergeben ist der Atem der Erlösung und des neuen Lebens in der Freiheit der Kinder Gottes. Denn wenn in uns Vergeben nicht geschieht, bleiben wir abhängig und gebunden an andere Mächte, vor allem an die Macht des Zornes, der Revanche; und wenn wir uns als Opfer nur betrachten, bleiben wir abhängig von jenen, die uns verletzt haben. Doch Zorn frisst die eigene Seele auf. Wenn wir uns nun diesem Zirkel nicht ausliefern wollen, sollte ich den Auszug wagen und den Weg des Evangeliums in der Tradition der christlichen Mystik einmal versuchen. Mir scheint, dass drei Dimensionen zusammenspielen, wenn sich Vergeben in uns ereignen können sollte. Ich habe einen Weg als hilfreich erfahren, der aus buddhistischen und christ-katholischen Weisheiten erwächst und immer wieder von den Exerzitien des Ignatius inspiriert wird.

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Der erste Schritt ist radikale Ehrlichkeit: der Bauch lässt sich nicht betrügen, auch wenn der Kopf trickst und täuscht. Ignatius ermutigt uns, die verschiedensten Geister in uns wahrzunehmen und zu spüren, um sie von unterschiedlichen Seiten anschauen zu lernen. Aufmerksam und achtsam werden, ist der Beginn der Umkehr. Die buddhistische Tradition lehrt uns auf dieser Stufe durch kontemplative Meditationsformen, nicht anzuhaften. In christlicher Tradition nennt man diesen Schritt: loslassen. Wir werden darin eingeübt, die Übelgeister und auch andere kommen und gehen zu lassen, weder an der Verletzung noch an anderem anzuhaften: Nicht anhaften, loslassen. Alles kommen und gehen lassen und es lächelnd verabschieden. Also: Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit ohne anzuhaften, loslassen also.

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Der zweite Schritt heißt: anvertrauen. In meiner oberschwäbischen Volksfrömmigkeit habe ich gelernt, alles was einen belastet und undurchdringlich dunkel zu werden droht (und bisweilen bin ich mir selbst ja eine Last und ein großes Dunkel) vor einem Marienbild, der Mutter Gottes loszulassen und ihr anzuvertrauen. In meiner Heimat ist es oft eine Pietà. Im Blick auf dieses Bild ist es nicht mehr zu verdrängen: dieser Frau mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß wurde in ihrem Leben nichts erspart und doch vermittelt jede Pietà nicht den Eindruck der Resignation oder der Rache. Von diesen Bildern geht der Hauch leiser Hoffnung aus. Loslassen und Anvertrauen: vor einem Andachtsbild fällt mir diese zweite Dimension leichter. In unserer Jesuitenkirche hier ist mir ein solcher Ort aufgegangen. Ich nenne ihn die Achse der Barmherzigkeit. Sie erstreckt sich zwischen der Mutter der Barmherzigkeit und dem Herz-Jesu-Bild. Unsere „Mutter der Barmherzigkeit“ im Seitenalter lächelt mich manchmal an wie ein Buddha, und sie trägt das Kind; und beide aus einer Sphäre alles überwindender Barmherzigkeit. Loslassen und Anvertrauen bedeutet dann: das letzte Urteil ihm und der Fürbitte seiner Mutter anvertrauen. Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet (Mt 7,1): Welch eine erlösende Intervention!

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Wenn ich vor dem Herz-Jesu-Bild sitze, ereignet sich in mir bisweilen der dritte Schritt, der sich mir mit der Schlussbetrachtung der Exerzitien verbindet, die ich Ihnen sehr ans Herz legen möchte: „Die Betrachtung zur Erlangung der Liebe“. Sie ist Balsam für die Seele, täglich können wir uns ihr anvertrauen. Ignatius lädt uns in dieser Betrachtung ein, zuerst auf das zu schauen, was uns geschenkt worden ist. Ich bin immer mehr als meine Verletzungen und Frustrationen. Mir ist von so vielen Menschen so viel geschenkt worden. Wie viel Liebe habe ich schon erfahren. Und welch‘ eine Botschaft ist mir im Evangelium zugesagt: Gott hat sich mir selbst geschenkt. Er hat in seinem Sohn sich selbst gegeben. Was im Sakrament der Taufe zeichenhaft geschah, will dieses Bild Ereignis werden lassen: Christus schenkt mir sein Herz. Paulus lebt ganz aus der Erfahrung dieses Versprechens: Christus lebt in mir, lebt in Dir, lebt in uns allen. Dann darf ich ihm alles schenken und anheimstellen; und mich und meine Ängste, Sorgen und Erfahrungen vergessen. Wenn ich dann auch noch loslasse, was ich alles wollte und sollte, wenn es also geschehen sollte, dass in einem Augenblick der Ewigkeit das Vergeben-Müssen selbst vergessen wird, dann geschieht Neugeburt. Wer Gott um Gottes willen verliert, und sich selbst darin, dem wird alles neu gegeben und er darf dann, wie Ignatius in seiner Betrachtung uns anleitet, jeden Tag seine Aufmerksamkeit darauf richten, wie Gott täglich schwere Arbeit auf sich nimmt, für mich, für Dich, für uns alle. Nicht-Anhaften, Loslassen und Anvertrauen ermöglichen eine Sicht- und Sinneswandel, eine „Metanoia“. Denn die Orte, an denen ich diesen für mich arbeitenden Gott finde, werden durch die Dankbarkeit gefunden. Dankbarkeit ist die Wurzel des Glaubens. Ich weiß nicht, ob ich wirklich und zweifelsfrei einen solchen Augenblick schon erfahren habe, manchmal bilde ich es mir ein, manchmal erwacht auch der Skeptiker in mir. Auch das ist loszulassen, selbst an dem möglichen Genuss eines solchen Augenblicks brauche ich nicht anzuhaften. Alles darf ich dem Herrn anvertrauen, selbst mein Glaube oder Unglaube. Vergeben ist möglich, weil uns so viel geschenkt worden ist, weil wir immer zuerst geliebt worden sind und wir durch die Taufe wissen dürfen, dass wir in Gottes Herz eingeschrieben sind. Vergeben erwächst aus der Dankbarkeit.

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Wir erfahren die Geburt des Himmelreiches, wenn wir uns auf die drei Schritte der Mystik einlassen: Nicht-Anhaften und Loslassen, Loslassen und Anvertrauen, anvertrauen und jenen Herzenstausch er bitten und geschehen lassen, durch den ich zu jener Dankbarkeit umgekehrt werde, die dann auch jenes mögliche Gute bei jenen zu beachten vermag, die uns enttäuscht oder verletzt haben. Solches geschieht nie auf Befehl und ist mit Technik nicht zu machen. Sie kann und will aber eingeübt werden. Die „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ ist hierfür eine wunderbare Hilfe. Aber auch alles christliche Beten und vor allem jede Eucharistiefeier lädt uns zu diesem Herzenstausch ein. Öffnen wir uns jetzt für dieses stille Wunder, das sich oft dann ereignet, wenn wir es selbstvergessen geschehen lassen. Feiern wir Eucharistie und lassen uns auf jenen Herzenstausch ein, der uns einen Geschmack des Himmelreiches zu verkosten verspricht.

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Amen

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