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Die Zähmung des Drachen

Autor:Quast-Neulinger Michaela
Veröffentlichung:
Kategoriekurzessay
Abstrakt:
Publiziert in:Tiroler Sonntag, 2. April 2020 (gekürzt)
Datum:2020-04-06

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Einmal nur wie Siegfried im Drachenblut baden oder wie Achill in den Styx eintauchen. Der Traum der absoluten Unverwundbarkeit ist quer durch die Menschheitsgeschichte zu finden. Das perfekte Leben, die perfekte Beziehung, eine geile Zeit ohne Grenzen und Kompromisse. Nicht mehr mit Drachenblut, mit Botox, Beton und Berechnung kämpft der Mensch des 21. Jahrhunderts gegen die Verwundbarkeit des Lebens. Doch die Ereignisse der letzten Wochen zeigen: Leben lässt sich nicht kontrollieren, der Stachel des Todes, der Wurm der Vergänglichkeit bleibt und bohrt. Der Mensch ist verwundbar, vom Scheitel bis zur Sohle, wie Emmanuel Lévinas schreibt.

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Im Alltag begegnet diese Verwundbarkeit immer wieder. Wir erfahren Schmerz und Unvollkommenheit. Immer wieder scheitern wir an den eigenen moralischen und rationalen Ansprüchen. Sich vornehmen großzügig, aufrichtig, mitfühlend zu sein – und im nächsten Moment wieder dem Nachbarn den Garten neidisch sein. Der Mensch ist verwundbar in seiner Verwiesenheit. Wir sind keine Nestflüchter wie Feldhasen, Menschen brauchen Fürsorge und Beziehung vom Anfang bis zum Ende, sind abhängig von einem Anderen. Der Nabel erinnert permanent daran, dass mein Leben nicht absolut in meiner Macht steht. Ich bin ausgesetzt, in eine Welt geworfen, die ich mir nicht ausgesucht habe. Doch was verbirgt sich hinter diesen Erfahrungen? Für den Anthropologen Ernest Becker ist es die Angst vor dem Tod, der Wurm in unserem Herzen, der uns dazu treibt in Kunst, Architektur, Wissenschaft symbolisch „unsterblich“ zu werden. Aber dieser Wurm kann den Menschen auch in Abgrenzung, Nationalismus und Gewalt führen. Rühr mich nicht an, gefährde mein wohlig warmes Leben nicht, das ich mir so schön eingerichtet habe. Der Kampf gegen die Verwundbarkeit begegnet auch in Beziehungen: Warum Kompromisse machen, wenn es allein perfekt nach meinem Willen geht? Liebe erscheint als Gefahr des perfekten, kontrollierten Menschen. Oder aktuell in der Politik: Warum gemeinsam nach einem Impfstoff suchen, wenn ich ihn für mich alleine profitabel machen will? Solidarität wird zum Feind.

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Wer die Angst vor der Verwundbarkeit verdrängt, ist ihr ausgeliefert. Keine Schwäche zeigen, nur die Harten kommen durch. „Unsere Gefühle der Unzulänglichkeit, der Hilflosigkeit, des Leidens, der Verzweiflung und der Angst werden als Schwächen eingestuft, sie müssen geradezu verneint und als ‚weiblich‘ abgetan werden“, so der Psychoanalytiker Arno Gruen. Doch diese Verdrängung führt direkt in eine Kultur der Beziehungslosigkeit, der totalen Macht und Unterwerfung.

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Der Wurm in unserem Herzen darf nicht verdrängt werden, er will gezähmt werden. Der christliche Glaube kann dazu einen Beitrag leisten. Das Leben Jesu zeigt immer wieder aufs Neue, wie Beziehung und damit Solidarität aus der Begegnung mit dem verwundbaren Menschen entsteht. Jesus wird nicht antiker „Superheld“, sondern Mensch. Er übt keine imperiale Macht à la Pilatus aus, sondern Vollmacht in Beziehung mit dem Vater. Jesus ist kein Schmuckstück, kein Dekor der Mächtigen. Der „schwierige, nackte Jesus“ (G. Bachl) riskiert die Liebe bis ans Kreuz zur Auferstehung.

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Die aktuelle Krise zeigt uns aufs Neue, wie verwundbar wir Menschen sind, mögen wir es auch noch so sehr bekämpfen mit Selbstkontrolle, Perfektion, Abgrenzung und Gewalt. Doch die Auseinandersetzung mit unserer Verwundbarkeit, der Angst vor dem Tod kann auch zur Chance für eine neue Solidarität, eine neue Gemeinschaft werden. Der Wurm in unserem Herzen wird bleiben, doch er kann auch zur Hilfe werden. Siegfried tötet den Drachen, um unsterblich zu werden. Die Hl. Margareta aber zähmt ihn, um ihn zu ihrem Verbündeten zu machen. Aus Glauben wächst der Mut zur Beziehung, zur Verwandlung.

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