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Wähle das Leben! Predigt zum Ersten Fastensonntag 2020

Autor:Siebenrock Roman
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2020-03-02

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Predigt zum Ersten Fastensonntag 2020 in der Jesuiten- / Universitätskirche Innsbruck.1

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1. Lesung: Gen 2,7-9 + Gen 3,1-7

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2. Lesung: Röm 5, 12-19

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Evangelium: Mt 4,1-11

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Der Sinn dieser Zeit, die wir österliche Bußzeit oder Fastenzeit nennen, wird zu Ostern sichtbar: die Kirche ruft uns durch das Evangelium Jesu Christi in den Herrschafts-, das heißt in den Wirklichkeitsraum des lebendigen Gottes. Diesem ist es eigen, dort einen neuen Anfang zu setzen, wo wir Menschen mit besten Gründen meinen, dass alles zu Ende sei. Diese Zeit von 40 Tagen, die in uns die 40 Jahre der Wüstenwanderung Israels nach dem Auszug aus Ägypten wachruft, will uns trotz aller scheinbar evidenten Gegenerfahrung unserer menschlichen Geschichte, dazu ermutigen, dem Leben zu trauen; – dem Leben mehr zu trauen als allen Mächten des Todes.

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Trauen trotz alledem: Trotz unserer Hinfälligkeit, an die wir am Aschermittwoch erinnert worden sind: Staub sind wir! Ja mehr noch: angesichts des immer noch beschleunigt expandierenden Universums sind wir kaum Nanosekundennichtse, ja noch viel belangloser. Dem Leben trauen trotz alledem: Trotz unserer Gewalttätigkeit, die das Gesicht der Karwoche prägen wird, mit aller Heuchelei und doch nicht vertuschbaren Brutalität. Dem Leben trauen und der verborgenen Sehnsucht glauben: trotz aller jener Leidenschaften, Begierden und Phantasien, die im heutigen Evangelium uns vor Augen gestellt werden. Diese 40 Tage sollen zu einer Zeit werden, erneut einzuüben, dem Leben und seinem inwendigen, wenn auch oftmals überblendeten „lieben Licht“2 zu trauen.

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Dass das heutige Evangelium keine zufällige Episode des menschlichen Weges Jesu erzählt, hat Paulus im Römerbrief dargelegt, dessen Komplexität ich hier mit meinen Anspielungen nur ein wenig andeuten kann. Paulus übersetzt die Bilder des Evangeliums in eine prinzipielle Analyse der menschlichen Geschichtssituation. Die ganze Geschichte, so seine Interpretation der Erzählung vom sogenannten Sündenfall, steht im Schatten des Handelns eines einzigen Menschen, im Schatten eines prekären Anfangs also. Die Menschheit bildet also eine Schicksalsgemeinschaft. Paulus sieht in dieser Erzählung den Ursprung der Sünde und daher auch des Todes, weil die Menschheit die Unmittelbarkeit zu ihrem Schöpfer verlor und dadurch den Baum des Lebens beschädigt hat. Der von seinem Ursprung abgespaltene Mensch hat dann begonnen, mit seinen Mitteln die große Leere und Ratlosigkeit zu füllen, bis heute in immer neuen Variationen.3

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Was wir auch immer mit den uralten Bildern von Eva, Schlange, Frucht und Baum verbinden wollen, eines ist wohl auch uns heute einsichtig: Wenn einmal das Misstrauen gegen das Leben und seinen Ursprung ausgebrochen ist, wenn ich dann den Ursprung des Lebens als misstrauischer und neidischer Oberzensor anzusehen vermag, greift die Angst um sich (Gen 3,10). Wenn ich aus dieser Angst, die sich maßgeblich in der Sorge um sich selbst ausdrückt, allem, was ich und andere tun, misstraue, dann wird alles kontaminiert: dann bricht der reale und der allegorische Tod deshalb überall durch, weil ich zu mir selbst und allen anderen in Zwiespalt geraten muss. Dann fühlen wir uns als Verurteilte, die das Leben nur noch als Unglück empfinden können, über dessen Misere wir uns mit entsprechenden Narkotika hinweghelfen müssen. Und weil Misstrauen immer neues Misstrauen und der Verdacht neuen Verdacht sät, bleiben wir im Hamsterrad der beschleunigten Selbsteinschnürung in uns verfangen. Dann zeigt das Gesetz immer nur jene Sünde, die von Anfang an war. Nichts genügt und nie sind wir in Frieden.

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Paulus ist ein Radikaler, der hier die Konsequenz aus seinen Erfahrungen als eifriger Pharisäer zieht. Aber er weiß noch, dass die Tora, die gute Gabe Gottes, davon lebt – und dieses Wissen feiert Israel bis heute am Yom Kippur –, dass nicht die Einhaltung des Gesetzes rettet, sondern die grundlos uns geschenkte Barmherzigkeit des HERRN. Und diese Barmherzigkeit des HERRN, das ist die Mitte seiner „Bekehrungserfahrung“ auf dem Weg nach Damaskus, hat für ihn ein konkretes Gesicht und einen bestimmten Namen bekommen: Jesus Christus. Deswegen fordert er immer dazu auf, auf diesen Herrn als die letzte Orientierung unseres Lebens zu schauen. Und das wird das ganze Neue Testament prägen. In diesem Sinne transformiert dann Matthäus den offenen Gottesnamen „Ich bin, der ich bin“ (Ex 3,14) in das Versprechen Jesu Christi am Ende seines Evangeliums: „Ich bin mit euch alle Tage, bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).

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In diesem Licht lese ich das uns so vertraute Evangelium von den Versuchungen Christi, das immer am Ersten Fastensonntag verkündet wird. Diese Erzählung stellt uns vor Augen, wie Jesus Christus auf Versuchungen, d.h. auf Grundoptionen antwortet, die scheinbar das Leben fördern, aber tatsächlich zum Tod führen. Das heutige Evangelium stellt für mich einen narrativen Kommentar zum Schlusswort der Tora dar: „Denn dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. … Siehe, hiermit lege ich Dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor“ (Dtn 30,11-14). Weil die Tora aber für das Leben gegeben worden ist (Lev 18,5), ergeht auch an uns heute für die Fastenzeit der Ruf: „Wähle das Leben“!

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Das Evangelium illustriert die damit verbundenen Konflikte und die dafür notwendigen Entscheidungen zwischen Leben und Tod durch den Gegensatz der Gestalt Jesu Christi und der Gestalt des Teufels. Diese Bezeichnung „Teufel“ verweist nicht auf jemanden. Das Wort symbolisiert vielmehr allen Widerspruch zum Leben. Drei Optionen stellt der Versucher Jesus und uns vor Augen. Und das ist die erste Botschaft des heutigen Evangeliums: Diese Optioen dürfen nach dem Evangelium Jesu Christi niemals mit dem Namen des Heiligen verbunden werden dürfen. Auf diesen Wegen ist der Ursprung des Lebens, in dieser Spur ist der Heilige Israels nicht zu finden. Denn diese Handlungen zerstören letzten Endes alles Leben, auch wenn sie scheinbar zum Leben führen und daher auch in uns allen lebendig sind. Versuchungen kommen immer als verlockende Versprechen, deshalb beginnen alle Katastrophen als Verheißungen.

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Die erste Versuchung fordert zu einem spektakulären Wunder ohne Sinn auf, weil nicht gesagt wird, für wen das Brot gut sein sollte: Mach‘ Steine zu Brot! Jesus widerspricht, denn das ist nicht seine Sendung. Er müsse vielmehr die einzige Quelle des Lebens neu sprudeln und fruchtbar werden lassen: Das Wort aus Gottes Mund. Daher spielt er sich auch später nie als Wunderwuzzi auf, sondern nimmt sich ganz hinter dem einen und einzigen HERRN, den er seinen und unseren VATER nennt (Mt 6,9-16; Joh 20,17), zurück. So sagt er immer wieder nach Heilungen: Dein Glauben hat Dir geholfen. Niemals sagt er: „Ich habe Dich geheilt, nun verehre mich.“ Auch wird Jesus niemals ein Wunder für sich oder zur Unterhaltung wirken, die niemandem Segen schenkt. Dafür wird er ja noch am Kreuz verspottet: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten“ (Mt 27,42). Das bedeutet für mich: Unser Leben bedarf, wenn es gelingen will, einer selbstvergessenen Sorglosigkeit, die nichts dem Wort Gottes vorzieht und daher auch nicht sich selbst inszeniert. Nur in der Befreiung von der Angst um uns selbst, kann gelingendes Leben zur Vollendung wachsen. Eine ähnliche Struktur hat die zweite Versuchung. Wieder soll Jesus für sich und zum Selbstbeweis ein Wunder wirken. Daran hat Jesus aber kein Interesse und nimmt uns dadurch noch heute die Angst um uns selbst. Jesus ist ein wunderbares Medikament gegen unseren angeborenen Narzismus.

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Besonderes Gewicht aber gewinnt bis heute die dritte Versuchung. Denn diese Versuchung lebt in uns allen und berührt die Sendung Jesu zentral. Denn er ist für die ganze Welt gekommen und, er wird von sich sagen: „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf Erde“ (Mt 28,18). Es geht also um die Frage, worin diese letzte Macht aller Wirklichkeit besteht und wie sie sich zeigt. Das ist die zentrale Frage aller drei Versuchungen. Welche Grundoptionen treffen wir und welche Überzeugungen von dem letzten Grund aller Wirklichkeit prägen uns? Mit seiner Antwort zieht Jesus eine scharfe Grenze: Nicht jene Macht, die der Teufel darstellt, die Tötungsmacht, jene Macht, die aus der Gewalt kommt und sich im Tötenkönnen erweist; also jene Macht, mit der alle Supermächte der Geschichte sich gebrüstet haben und bis heute brüsten. Nach dieser Logik wäre der Tod die alles bestimmende Wirklichkeit. Nein, so nicht! Wenn wir uns daran erinnern, dass die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit Verheißungen begonnen haben, mit der klassenlosen Gesellschaft, der deutschen nationalen Auferstehung nach der scheinbaren Schande der Niederlage des Ersten Weltkriegs und – und in dieser neoliberalen Verlockung stecken wir noch jetzt – dass alle alles sofort bekommen, dann können wir die Antwort Jesu auch heute gut nachvollziehen. Anbeten und Niederwerfen dürfen wir uns vor nichts in der Welt, auch nicht vor den höchsten Werten, weil sie immer pervertiert werden können. Nichts in dieser Welt darf angebetet werden. Nichts darf mit dem einzig Heiligen verwechselt werden! Aber: Was ist stärker als der Tod?

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Der Erste Fastensonntag stellt uns mit dieser Alternative auf einen Scheideweg, den ein Bild in unserer Kirche sehr feinsinnig darstellt. Im Bild des Ignatiusaltars unserer Kirche ist dargestellt, wie Ignatius den Namen für seine Gemeinschaft in La Storta vor Rom durch Gottvater selbst erhält: „socius Jesu“, Weggenosse Jesu.4 Was das bedeutet, wird in einem schönen Detail unten rechts im Bild dargestellt. Ein Engel hält die Waage der Entscheidung. Nach oben, weil zu leicht gefunden, hebt sich der Reichsapfel, das Symbol der kaiserlichen Macht. Nach unten zieht die Krone des Martyriums und die Siegespalme in strahlendem Glanz. Dieses Motiv verweist auf eine zentrale Stelle der ignatianischen Exerzitien, die Zwei-Banner-Betrachtung. Ignatius verdeutlicht die Wahl, in die wir gestellt sind und die der heutige Sonntag in Erinnerung ruft, mit dem Bild von den zwei Heerlagern (EB 136–148).5 In einer militärischen Szenerie stellt er idealtypisch zwei sich ausschließenden Lebensoptionen in diesen Heerlagern und ihren Hauptleuten uns vor Augen. Mit dieser Szenerie vor Augen soll ich um die Erkenntnis des wahren Lebens bitten und dann zu klären beginnen, was ich wirklich will. Auf der einen Seite das Heerlager des Fürsten dieser Welt vor Babylon, der zur eitlen Ehre dieser Welt ruft, zu Reichtum, Ehre und Hochmut. Ich sehe diese prächtig, mächtig, faszinierend, milliardenschwer und bejubelt von unzähligen, bis heute. Aber: Immer führt nach Ignatius der Wunsch nach Reichtum in die Falle. Auf der anderen Seite das Feldlager der Guten mit ihrem Hauptmann Christus vor Jerusalem, an einem demütigen, schönen und anmutigen Ort. Diese Gruppe nennt Ignatius das Feldlager aller „guten Menschen“, der „Gutmenschen“ also. Ihre erste Option ist höchste geistliche Armut, die von realer Armut gefolgt wird. Diese Menschen sind bereit, Schmähungen und Geringschätzung anzunehmen, denn darauf gedeiht jene Demut, aus der wahres Leben erwächst. Vor diese Wahl sind wir also gestellt: Armut gegen Reichtum, Schmähung oder Geringschätzung gegen die weltliche Ehre, Demut gegen den Hochmut. Welche Option also wird die meine sein und wie gestalte ich den Weg zum wahren Leben? Wer also, das ist die Frage dieser 40 Tage, möchte ich einmal gewesen sein?

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Diese Frage ist heute so zentral wie selten in der menschlichen Geschichte, weil wir dabei sind, unseren Planeten mit unserer durch die Welt niemals zu stillenden Sehnsucht in grenzenloser Gier aufzufressen. Angesichts dieser Situation wird uns der brandaktuelle Sinn der Erzählungen von den Versuchungen Jesu deutlich. Sie brechen in uns selbst auf, denn die menschliche Sehnsucht wird durch Nichts in dieser Welt gestillt. Machen wir uns in diesen 40 Tagen auf den Weg zu jener Quelle, deren Wasser wirklich unseren Durst stillt (Joh 4,7-38). Machen wir uns mit dem Ruf im Herzen auf den Weg: Wähle das Leben!

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Anmerkungen

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1Verkündigung und Predigt werden von einer theologischen Grammatik geprägt, die durch einen hermeneutischen Schlüssel strukturiert wird, in dessen Licht das Evangelium und die Christentumsgeschichte gelesen wird. Weil das Neue Testament als christliche Leseanweisung der Glaubenszeugnisse Israels, die im jüdischen Tanach gesammelt und als „Altes Testament“ die Wurzel und das Fundament der christlichen Bibel darstellt, in sich eine Sammlung pluraler und nicht auf einen Nenner zu bringende Zeugnissammlung von Erfahrungen mit Jesus Christus darstellt, der als gekreuzigter Messias (d.h. Christus) inmitten der Gemeinde und der Geschichte lebendig ist, entsteht eine theologische Hermeneutik immer aus der Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven. Diesen Schlüssel übernehmen wir in der Regel aus der Tradition oder von prägenden Persönlichkeiten zunächst implizit durch den Lebenszusammenhang, in den wir hineingeboren worden sind. Weil wir aber heute nicht mehr in der Unschuld des Anfangs stehen, sondern Not und Segen unserer Christentumsgeschichte mitbedenken müssen, ist immer „Schrift und Tradition“ miteinander in Beziehung zu setzen.


 Diese kritische Reflexion auf die Schrift aus der Tradition heraus ist die erste und wichtigste Aufgabe einer reflexiven Theologie. Diese Aufgabe wird deshalb nie in der Geschichte abschließend vollendet werden können, weil wir nie in der Lage sind und sein werden, über die Vorbedingungen unseres Denkens und Fühlens vollständige Rechenschaft ablegen zu können. Die letzte Wahrheit ist uns verborgen und wir können nur hoffen, dass wir an diese in etwa rühren und sie nicht meisterlich verdrängen. Weil Verkündigung immer auch Zeugnis ist und in diesem Zeugnis die „Erste-Person-Perspektive“ nie ausgeschlossen werden kann, darf diese auch nicht mit allen möglichen Tricks verdrängt werden. Deshalb muss ein Verkünder immer wieder von seinen Optionen Rechenschaft ablegen.

Zu der mich prägenden Hermeneutik ist aus dieser Grundeinsicht zum Verständnis meines Verkündigungsdienstes folgendes in aller Kürze anzumerken. Mein Verkündigungsdienst ist geprägt von der theologischen Grundoption, dass das Reich Gottes und damit die Möglichkeit vollendet gelingenden Lebens im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht; – und daher auch Theologie und Verkündigung, ja allen Dienst der Kirchen prägen muss. Deshalb ist Theologie und Verkündigung auf das „Reich Gottes“ ausgerichtet, d.h. auf eine soziale Lebenswirklichkeit inmitten der Geschichte, die in sich das unmittelbare Zeugnis von der „Königsherrschaft Gottes“ oder vom „Reich der Himmel“ sein sollte. Deswegen hat es Theologie und Verkündigung nicht direkt mit Gott zu tun, sondern mit Zeugnissen aller Art, die auf diese Wirklichkeit verweisen. Insofern können auch die Worte des Teufels in der Erzählung des heutigen Evangeliums als ein solches Zeugnis gewertet werden, wenn auch als negative Abgrenzungsregel. Jesus wird unter dieser Perspektive z.B. als treuer Zeuge (Apk 1,5), als Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15) oder als Abglanz seiner Herrlichkeit und als Abbild seines Wesens (Hebr 1,3) verstanden.

Diese Grundorientierung sehe ich in einem Wort von Alfred Delp SJ gesammelt, das mir in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist: „Gott wird Mensch. Der Mensch nicht Gott. Die Menschenordnung bleibt und bleibt verpflichtend. Aber sie ist geweiht. Und der Mensch ist mehr und mächtiger geworden. Laßt uns dem Leben trauen, weil diese Nacht das Licht bringen mußte. Laßt uns dem Leben trauen, weil wir es nicht mehr allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt“ (Delp, Alfred (1982-1988): Vigil von Weihnachten. In: Alfred Delp: Sämtliche Werke. Band I-V (1982–1988). IV. Aus dem Gefängnis (2.A. 1985). Frankfurt a. M.: Josef Knecht, S. 186–195, hier 195). Wenn zudem immer wieder Bezüge zur ignatianischen Tradition einfließen, ist das einerseits dem Ort der Verkündigung geschuldet, andererseits aber auch Ausdruck einer persönliche Prägung, die heute nicht verheimlicht werden sollte.

Die für die Auslegung der Heiligen Schrift wichtigste Perspektive ist die Bestimmung des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament, und darin des Verhältnisses von Judentum und Christentum. Um eine additive Erweiterung, die allem Zählen naheliegt, zu vermeiden, spreche ich nicht vom „Ersten Testament“ und lege den traditionellen Begriff „Altes Testament“ als Wurzeltestament aus. Die darin gesammelten Texte stellen das bleibende und nie hinter sich zu bringende Fundament allen christlichen Glaubens dar. Weil daher Christsein nur möglich ist mit dem Judentum, nicht nur historisch, sondern auch aktuell, ist jeder christliche Antisemitismus in der Interpretation zu vermeiden. Dieser würde sich am Ersten Fastensonntag nahelegen, wenn die Spannung von Gesetz und Evangelium im Römerbrief, wie lange genug geschehen, durch eine exkludierende Überwindung des Gesetzes (= Tora) durch das Evangelium aufgelöst würde. Nein, die Spannung muss erhalten bleiben, zumal das Evangelium nach Matthäus nachdrücklich betont, dass Jesus die Tora nicht abschafft, sondern erfüllt (Mt 5,17-20). Daher inkludiert der Satz „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mt 24,35) die bleibende Bedeutung der Tora. Es scheint mir daher naheliegend zu sein, das Matthäus-Evangelium als Korrektur eines falsch verstandenen Paulus zu lesen. Daher lese ich das Evangelium Jesu Christi als Erfüllung von Gesetz und Propheten. Jesus erscheint mir als die personifizierte Tora, als Gestalt gewordener Toragehorsam. Wir Christgläubige sind aber auf dem Pilgerweg immer unterwegs und deshalb immer auch noch auf dem Weg zur Erfüllung. Deshalb benötigen wir auf diesem Weg ein lebendiges Judentum, weil wir nur in der Anerkennung des glaubenden Israel konkret lebendig erfahren können, was es heute heißt, die Tora zu leben. Und nur unter dieser Voraussetzung dürfen wir hoffen, das Evangelium Jesu Christi einigermaßen angemessen heute verstehen und leben zu können. In der Beziehung zum Judentum gilt für uns Christgläubigen die Grundaussage von Michel de Certeau in eminentem Maße: nie mehr ohne die anderen glauben.

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2 John Henry Kardinal Newman hat 1833 auf der Fahrt nach Marseilles ein bis heute in allen Kulturen lebendiges Gedicht geschrieben: „Lead kindly light“ (siehe: https://john-henry-newman-gesellschaft.de/media/pdf/NewmanLeadkllightengldHandschriftNoten2018.pdf?m=1547121106&). Dieses Gedicht könnte als Begleitung auf dem Weg nach Ostern sehr hilfreich sein.

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3 Als Hintergrund für diese Aussage siehe: Renz, Monika: Erlösung aus Prägung. Ein neues Verständnis von Heilung. Psychologie und Theologie im Gespräch. Mit einer CD mit Klangreisen. 2. Aufl. Paderborn: Junferman 2017.

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4 In seinem „Bericht des Pilgers“, der die Version von Diego Lainez ausdrücklich bestätigt, schreibt Ignatius selbst: „… verspürte er eine solche Veränderung in seiner Seele und hat so klar gesehen, daß Gott Vater ihn zu Christus, seinen Sohn stellt, daß ihm der Mut nicht ausreichen würde, daran zu zweifeln, daß vielmehr Gott der Vater ihn zu seinem Sohn stellte“ (Ignatius von Loyola: Der Bericht des Pilgers. In: Ignatius von Loyola (Hg.): Deutsche Werkausgabe. Bd. II.: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu., II. Unter Mitarbeit von Peter Knauer. Würzburg: Echter, 1998, 13–84 hier 78). Diego Lainez berichtet von dieser Begebenheit in seinen römischen Adhorationes, in denen ausdrücklich von „socii Jesu“ die Rede ist (Ebd., 79, Anm. 279).

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5 Ebd., Geistliche Übungen. MI Ex, 140-416, 83–269 (die Exerzitien werden nach den gängigen Nummern im Text mit: „EB nn“ zitiert).

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