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Vom Nutzen und vom Risiko der Angst. Rezension zu: Martha Nussbaum, Königreich der Angst (2019)

Autor:Edenhofer Annette
Veröffentlichung:
Kategorienachwuchsforschung
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2020-01-20

Inhalt

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Rezension zu: Martha Nussbaum (dt. 2019): Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise. Übersetzt von Manfred Weltecke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss Verlag. 299 Seiten.

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Vom Nutzen und vom Risiko der Angst

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Vorerst scheint er ausgeträumt, der Traum von globalem Frieden und Wohlstand. Nach dem Fall der Berliner Mauer im Klima politischer Entspannung schienen alle Länder dieser Erde an den Segnungen liberaler Märkte teilhaben zu können und militärische Konflikte wie von selbst erledigt. Francis Fukuyama sprach vom „Ende der Geschichte“. Mit 9/11 aber brechen spätkoloniale Konflikte auf. Die Welt gerät in Zwietracht. Martha Nussbaums Arbeiten spiegeln diese Entwicklung. Einst hatte sie als optimistische Gerechtigkeits- und Emotionstheoretikerin Mitgefühl als Weltethos wahr werden sehen. Heute, in populistischen Krisenzeiten will sie sich deshalb dem Friedenshindernis aggressiver Emotionen widmen: aktuell feindseliger Angst. Nussbaum vertritt ein kognitives Konzept von Emotionen, die man erkennen und deshalb verändern kann. Kosmopolitischer Friede ist nur mit der Überwindung der Freund-Feind-Dynamik zu halten. Nussbaum will dieser politischen Emotionsbildung zum Durchbruch verhelfen (31).

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Nussbaums Beitrag zur aktuellen Populismus-Krise lehrt, Angst im Modus der Hoffnung zu leben. Ihre psychologisch-politische Analyse bietet Bildungs- und Erziehungsinteressierten aller Provenienzen Anregungen. Gerade Religionsdidaktik kann ihre Gewalt-Diagnose  zur Kommunikation der Erbsünden- und Erlösungslehre nutzen: Nussbaum ist Reformjüdin (15-16), ihre Konfliktlösungsnorm aber ist die Feindesliebe der Bergpredigt (270-271). Alle Religionen und Weltanschauungen finden hier Inspiration, Gewalt-Kommunikation zu unterbrechen und Frustrationsenergien in kooperative Lösungen fließen zu lassen. Nussbaum ruft nicht zur Perfektion, sondern zu friedlicher Menschlichkeit, die ohne Ausgeschlossene auskommen kann (33)! Deshalb will ihr Buch über vier emotionale Hindernissen aufklären: Angst, Zorn, Ekel und Neid.

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Einleitung, Einführungskapitel und Nachwort der deutschen Ausgabe beschreiben Nussbaums Intention, persönliche und politische Krisenszenarien als Angst-Phänomene lesen zu lernen. Angst kann warnen,  aber auch blind und aggressiv machen. „Wer liebt, wird Angst haben!“ (111) und „Abschottungspolitik, ja sogar Angriffskriege sind letztlich das Ergebnis gewalttätig kompensierter Verlustangst unreifer Persönlichkeiten mit frühkindlichem Urvertrauenstrauma“ (68), so Nussbaums Diagnose  Im „Königreich der Angst“ sei Gehorsam verlangt, in Demokratien Diskurse. Wie wir zwischen autoritärem Diskursabbruch und Dialogfähigkeit oszillierten, reflektiert Nussbaum in sieben Kapiteln zur aktuellen Populismus-Krise in den USA und Europa (dt. Nachwort). Nussbaum will vornehmlich verstehen und keine fertigen Lösungen bieten (30)!

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Als Philosophin sucht Nussbaum nach „kontextueller Partnerschaft“ mit Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft, Ökonomie, Recht (32), Mythologie (35), (empirischer) Psychologie (131) und Religion (270), um das Gefahrenpotential folgender vier Krisen-Emotionen zu beleuchten: „Angst – früh und machtvoll“ (Kap. 2), „Zorn, Kind der Angst“ (Kap. 3), „Angst-getriebener Ekel: Die Politik der Ausgrenzung“ (Kap. 4) und „ Das Reich des Neides“ (Kap. 5), “Ein giftiges Gebräu: Sexismus und Frauenfeindlichkeit“ Kap. 6), „Hoffnung, Liebe und die Vision einer besseren Zukunft“ (Kap. 7), Danksagung und für die deutsche Ausgabe das Nachwort zur aktuellen Populismus-Krise in Europa. Hier nun die Besprechung der Kapitel.

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Kapitel 2 setzt ein mit Nussbaums neuer Erkenntnis: Die Wurzel allen Übels sei toxische Angst. Sie mache aus Krisen-Emotionen Gewaltimpulse. Als tugendethische Emotionstheoretikerin nimmt Nussbaum Aristoteles‘ Definition auf: Angst ist Angst-Haben vor Mangelsituationen und den daraus folgenden Leiden an Verlusten (44). Kultiviert im evolutionärem Erbe des Kampf-Flucht-Mechanismus‘, verfalle man allzu leicht in kopflose Angst (47). Könne man einem Mangel nicht entkommen, ereigne sich die aggressive Variante. So lade Angst die Konflikt-Emotionen Zorn, Ekel und Neid erst projektiv auf, um sich über Sündenbock-Jagden abzureagieren. Dieser faule Friede müsse immer neu die Schuldige ausmachen. Damit würden zusätzlich gefährliche Konflikte geschaffen, anstatt sich die sachlichen Problemen überhaupt zugewandt zu haben (49, 288). Für ihre These von Angst als gewaltstiftendem  Wirklichkeitsverzerrer führt Nussbaum nun empirische Forschung ins Feld.

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Ja, Angst sei ein nützliches Warnsignal. Die Arbeiten des Neurowissenschaftlers Joseph LeDoux aber belegten deren genuine Überzeichnungstendenz. Die Amygdala speichere jeden Verluststress hyperplastisch (48). Damit reaktiviere jedes Hilflosigkeitserleben die Urerfahrung der frühkindlicher Frustrationen überproportional, schlägt Nussbaum den entwicklungspsychologischen Bogen zur Politik der Angst: Der Verlust der Geborgenheit im Mutterleib, die lebenslänglich mitlaufende Todesangst mache uns in Bedrohungssituationen anfällig dafür, den Schutz der Gruppe über die willkürliche Exkommunikation scheinbar Schuldiger zu sichern. Diese psychische Stabilisierung via Feind-Bekämpfung sei um den Preis der Fakten-Resistenz erkauft. Nussbaum entfaltet das Argument mit Belegen der experimentellen Psychologie (84-85): Der Verhaltensökonom Timur Kuran erkläre mit seinem Begriff der „Ruf-Kaskaden“, warum das Fehlen persönlicher Kontakte Feind-Projektionen begünstige. Direkte Begegnungen bauten Vorurteile eher ab. Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar führe das Argument sinnvoll weiter, wenn er z.B. die plötzliche Hindu-Muslim-Gewalt nach vielen Jahren friedlicher Koexistenz als gezielte Manipulationsstrategie jener Führungspersönlichkeiten verstehe, die über Gesellschaftsspaltung ihre Macht steigern wollen (69-71). Das Kipp-Moment sieht Nussbaum in Solomon Aschs Gruppendynamik-Experiment aus dem Jahr 1955 herausgearbeitet: Menschen seien unter dem Druck der Mehrheit bereit, Falschaussagen zu rationalisieren, nur um ihre Gruppenposition nicht zu gefährden. Durchbreche aber nur eine Person das ideologische Kohäsionsmuster, seien alle anderen zu Wahrhaftigkeit bereit. Handeln mit Rückgrat aber verlange, persönliche Risiken auf sich zu nehmen. Es gelte, Unsicherheit und Ablehnung aushalten zu wollen, um auf die Überzeugungskraft des besseren Arguments zu vertrauen. Dies entspreche der Resilienz am Ende des ersten Lebensjahrs, Frustrationen vertrauend zu bewältigen, alleine spielen und stehen zu können (72). Dagegen vergifte die populistische Politik der Angst gesellschaftlichen Zusammenhalt durch Misstrauen: Angstvergifteter Zorn wolle Rache. Angstvergifteter Ekel suche Fremde zu entmenschlichen. Angstvergifteter Neid wolle die Konkurrentin vernichten (31). Zunächst zu Nussbaums Kritik angstvergifteten Zorns.

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Vernichtender Zorn, Ekel und Neid

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Zorn, so Nussbaum in Kapitel 3, sei zu Recht als Protest gegen Ungerechtigkeit definiert. Problematisch am gängigen Zorn-Konzept aber sei das Begriffselement, die zu Unrecht erlittene Verletzung rächen zu wollen (97).  Rache-Strategien simulierten Stärke, in Wirklichkeit aber herrsche nackte Angst und verzerre den Blick (112). Nichts werde besser, wenn die Übertäterin leiden gemacht wird. Zukunftweisend hätten Gandhi, King und Mandela die Welt Zorn nach Maß der Feindesliebe gelehrt (92-93). Ihr Protest habe sich in authentischem Zorn gegen das Unrecht der Diskriminierung zur Wehr gesetzt, aber für den Gegner das Beste gehofft. Nussbaum bespricht M. L. Kings Rede I have a dream und fokussiert Kings berühmtes Motiv, „nicht bankrott“ zu sein. Großzügig souverän ermutige King die Weißen, mehr als die Unterdrücker der Farbigen sein zu wollen, nämlich ihre Schwestern und Brüder (114-116). Warum das so schwer ist? Weil wir verletzlicher und hilfloser seien, als wir uns eingestünden. Deshalb seien wir ego-obsessiv auf unseren Ruf bedacht und verfielen dem Irrtum, über heimzahlendes Leiden-Machen die Souveränität wiederzuerlangen, derer wir uns im Unrechtleiden als beraubt erlebt hätten (106-107). De facto aber setze Rache nur die Zerstörung fort, die wir zuvor erlitten hätten. Dagegen lobt die Alt-Philologin Nussbaum Aischylos‘ Eumeniden als frühes Zeugnis rachefreier Versöhnung. Athene rufe die bluträchenden Furien zur sozialen Vernunft und biete ihnen die Position der Rechtshüterin in der Polis. Menschen, die nicht verstoßen werden, sei die vernünftige Einsicht in die Kontraproduktivität des Teufelskreises der Rache möglich. Damals wie heute müsse Zorn im Modus des Mitgefühls für die Gegner eingeübt werden (88-91). Denn rächender Zorn ist nach Nussbaum sozialer Sprengstoff genauso wie angstaufgeladener Ekel.

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In Kapitel 4 verweist Nussbaum zunächst auf die Dienstleistung des Gefühls von Ekel vor gefährlichen Substanzen, Körperausscheidungen und Gegnern zu warnen – vor verdorbenen Speisen, Exkrementen genauso wie vor Schlangen. Ekel sei als evolutiver Fluchtmechanismus vor unserer Sterblichkeit sinnvoll. „Projektiver Ekel“ aber ziele auf ethnischen Säuberung. Paul Rozins empirische Forschung habe gezeigt, wie Stigmatisierungswünsche durch Angst vor Kontrollverlust motiviert seien. Populistische Politik schüre das rassistische Empfinden von eigener Höher- und fremder Minderwertigkeit (127-131). Nussbaum bringt viele Beispiele: Trumps Muslim-Bann, Ekelpolitik gegen Behinderte und sexuelle Minderheiten. Die rassistische Nazi-Terminologie von Kakerlaken habe die Hemmschwelle zum Genozid gesenkt. Dagegen rät Nussbaum, unsere nicht-perfekte Körperlichkeit und grundsätzliche Sterblichkeit annehmen zu lernen. So könne Fremdheit als Bereicherung und Vergänglichkeit als Aufgeben des Alteingefahrenen als Chance zu Verbesserungen geschätzt werden. Verletzliche, aber begabte Menschen würden so erst fähig, ihr Bestes miteinander zu geben. Nussbaum hofft auf eine Persönlichkeitsentwicklung, die den Entwürdigungsmechanismus des Ekels nicht mehr bedienen muss (139-161). Dagegen lasse sich Neid, der dritte angstbesetzte Zerstörer, nie ganz überwinden. Warum?

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Wo die Ständegesellschaft früher Rollen festgeschrieben hätte, setzt Nussbaums Analyse in Kapitel 5 ein, animierten freie Demokratien zu unbegrenzter Selbstverwirklichung. Im ungebremsten Fortschrittswettbewerb aber läge die Untugend des Neides immer nahe. Konkurrenz um knappe Güter nämlich lasse nur manche als Gewinner hervorgehen: „Neider hassen diese Menschen: Sie wollen ihr Glück zerstören.“ (164) Nussbaum macht „rechten“ und „linken Neid“ aus: „rechter Neid“ der unteren Mittelschicht gegen die Eliten Washingtons, die ihnen die Jobs genommen hätten, „linker Neid“ gegen Banker, das große Business und deren Lobby. Die sachliche Kritik dahinter sei nötig. Neid aber – ähnlich zorniger Rache – suche Satisfaktion im Beschädigen des Konfliktpartners (163). Kants Rede vom „radikal Bösen“ beschreibe genau dieses „Null-Summen-Spiel“, allerdings ohne das Motiv dafür zu nennen. Dieses liefere der Epikur-Schüler Lukrez, für Nussbaum der erste Theoretiker des Unbewussten, wenn er Ich-Schwäche dafür verantwortlich mache, missgünstig auf den Erfolg des anderen fixiert zu sein. Von dort schlägt Nussbaum die Brücke zur Entwicklungspsychologin Melanie Klein, die zu Recht die aggressiv-beschuldigende Seite frühkindlicher Hilflosigkeit samt lebenslänglicher Prägekraft betone (170-173).

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Auch Eifersucht suche Beziehungsaufmerksamkeit. Diese Emotion fokussiere die Frustration des eigenen Mangels, während sich Neid missgünstig auf Konkurrentinnen fixiere. Durch die Einsicht in die Kontraproduktivität des Neides könne man sich aber für die Lichtseite der lernbereiten Nachahmung entscheiden, zum Wettstreit um das gemeinsame Gute beitragen und daran persönlich wachsen (166-167). Nussbaum kritisiert die kompetitive High School Kultur und favorisiert dagegen musische Inklusionserziehung (176-180). Ausführlich interpretiert Nussbaum das Musical Hamilton als politische Emotionsbildung. Mit den Protagonisten des Neiders Burr und dem Servant Leader Hamilton sei die Nation in die Entscheidung für sozialen Zusammenhalt gestellt (181-191). Wie z.B. mit Roosevelts New Deal müssten dafür die sozial-ökonomischen Rahmenbedingungen geschaffen werden (192-195). Die notorisch bagatellisierten, völker- und schichtenübergreifenden Demokratie-Blocker aber seien Sexismus und Misogynie.

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Mit diesem Kapitel 6 will Nussbaum auf die eine, zentrale Bedingung für angstvergiftete Kommunikation in Gestalt von Zorn, Ekel und Neid im Privaten wie Politischen angemessen aufmerksam machen: Menschen wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung zu stigmatisieren, sei der Nährboden für immer neue entwürdigende Gewalt. Auf gut 30 Seiten gibt Nussbaum Beispiele: nochmals Trumps frauenverachtenden Wahlkampf, homophobe Aktivisten, Frauenbenachteiligung in Familie, Ausbildung und Karriere. Mehr von diesem „toxischen Gebräu“ der Entwürdigung brauche es nicht! Eine gute Zukunft bedürfe der Entscheidung zu wohlwollender Kooperation, so die Überleitung zum Schlusskapitel.

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Politisch hoffen durch gezähmte Angst

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Kapitel 7 „Hoffnung, Liebe, Vision einer besseren Zukunft“ wirbt für vernünftig sozialisierte Angst. Hier leide man auch Mangel, aber im Modus der Hoffnung auf gemeinsame Lösungen. Denn die Feind-Bekämpfung sei als kontraproduktive exzessive Angst-Strategie enttarnt. Konstruktive Angst aber brauche Hoffnung, den Energiespender in schwierigen Problemlösungsprozessen (247). Übrigens, auch ein Diktator wie Hitler hätte durchaus Hoffnung gehabt. Deshalb müsse sich Hoffnung auf das richtige Ziel des weltweit gerechten Friedens ausrichten (245). Außerdem warnt Nussbaum vor fernen Utopien als Vorboten von Verzweiflung. Notwendig dagegen sei die wohlwollende Imaginationsarbeit für den jeweils nächsten integrierenden Schritt. Dazu brauche es einen Glauben, den Paulus als „Einleuchten der Dinge, die wir noch nicht sehen“ fasse, und den Nussbaum innerweltlich verstehen will (251). So könne die Welt z.B. von Mandela lernen, wie der Blick auf eine Person als potentiell liebenswert einen friedlichen Dialog ermögliche. Mandela sei frei von jenem rassistischem Ekel gewesen, den Trump bediene und vor dessen destruktiver Kraft Nussbaum manche ihrer Studierenden warnen will, wenn er umgekehrt gegen Trump gehe (255). Nussbaum schätzt die gemeinschaftsstiftende Kraft der Kunst wie z.B. die Arbeiten des Literaten David Grossman im Dienst am israelisch-palästinensischen Dialog; Grassroot-Bewegungen gründen weltweit Hoffnungsorte; Religionsgemeinschaften stärkten Feindesliebe. Vorbildlich sei die bedingungslose Liebe der Farbigen-Kirche in South Carolina, die dem Täter Dylan Roof dessen rassistischen Mord an ihren Gemeinde-Mitgliedern im Jahr 2015 vergeben habe (248-272).

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Hoffnung fange immer mit wenigen an und bedürfe des Schutzes: Nussbaum zitiert ihre bereits früher formulierten zehn, staatlich zu garantierenden Fähigkeiten, wie z.B. Bildung, wirtschaftliche Gerechtigkeit und spirituelle Selbstbestimmung. Dazu bedürfe es der gesellschaftlich animierten Einübung in Solidarität vom Kindergarten an. Nötig sei auch die öffentliche Aufarbeitung der eigenen Unrechtsgeschichte (272-281) sowie aktueller Repressionen wie z.B. dem französischen Burka-Verbot. Nicht kulturelle Gleichschaltung sichere Verfassungstreue, sondern gastfreundlich erwünschte Vielfalt und faire Sozialpolitik (295-297). Warum sollte man sich der Mühen der Hoffnung unterziehen?, fragt Nussbaum zum Schluss. Weil man sonst dem Zynismus „passiver Ungerechtigkeit“ verfalle, allem nur zusehe, sich damit aber auch um die Gestaltungsfreuden des Lebens bringe. Ethik und Religionen wollen nach Nussbaum zum Gegenteil motivieren: „Die Grundgedanke, dass wir unserem Land einen Teil unserer Arbeit und unserer Zeit schulden, ist sehr überzeugend, wenn er auf anschauliche Weise ausformuliert ist.“ (280)

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Anhand vielfältiger Beispiele belegt Nussbaum ihre These vom Populismus-Trigger des ängstlich-feindseligen Mangelleidens und der demokratischen Angstaushaltens in vertrauensvollem Kooperieren. So plausibel, wie notwendig ist Nussbaums neuer Begriff politischer Souveränität: Feindesliebe ist kein Zeichen von Schwäche, sondern vernünftig. Ein gewaltfreier Kampf um Gerechtigkeit schafft Versöhnung, nicht die Feinde von morgen. Ihre Problemanalyse bietet konturierte Profile der Demokratie-Hindernisse Zorn, Ekel und Neid. Die drei Emotionen im Eskalationsmodus sind überzeugend als Epiphänomene des einen Tiefenmotivs der Angst vorgestellt.

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Dagegen fällt die Definition des Angstbegriffs als Mangelleiden kurz aus. Notwendige und hinreichende Bedingungen für eskalierende Angst sind nicht explizit als Begriffselemente definiert, im Verlauf des Arguments aber aufzufinden: Gruppenvorurteile (70), Beschuldigungswünsche (50), auch Trauervermeidung (111). Entsprechend scheint die Kluft zwischen populistischer Aggression und wünschenswerter Demokratie zwar realistisch beschrieben. Aber, kann die Vernunft, entsprechend Nussbaums Werbung, wirklich die tragfähige Brücke schlagen? Auch ohne ausdrückliche Vernunft-Definition wiederholt Nussbaum zwei notwendige und zusammen mutmaßlich hinreichende Bedingungen: erstens, die vernünftige Einsicht in die Kontraproduktivität von Sündenbockjagden und, zweitens, die bewusste Entscheidung, Beschuldigungen zu unterlassen und sich für Kooperation zu engagieren. In Nussbaums Lehrparabel lassen die Furien zeitgleich von der Gewalt ab. Was aber bei Ungleichzeitigkeit, wenn Frustrationstoleranz verlangt ist, um ostentativ Kooperationsunwillige zu motivieren? Was, wenn Rückfälle in neuerliche Gewalt die Friedenswilligen auf die Probe stellen? Nussbaum betont zu Recht die Freuden engagierter Friedensarbeit. Die Risiken und Nebenwirkungen dieser gewaltfreien Weltverbesserungsvernunft aber haben eine wenig attraktive und dennoch notwendige Bedingung: Angstbereitschaft, um schwere Konflikte durchzustehen. Dieses Aushalten von Angst ist freiwillig eingegangen. Der damit bewusst zugelassene Kontrollverlust ist damit nicht weniger schmerzlich. Gandhi und King haben ihr Leben gegeben. Nussbaum erwähnt dieses Risiko (72). Auch ihr Wort, dass alle Liebenden Angst haben (111), ist leidenssensibel. Nussbaums Schlusskapitel zur Hoffnung aber reflektiert Zivilcourage ganz ohne Opferbereitschaft. Genauso bleibt unerwähnt (87-90), dass Aischylos im Finale der vernunftversöhnten Eumeniden weiter mit Hass rechnet. Indirekt rät er der Polis, sich an äußeren Feinden abzureagieren (VV 985-986). Damit aber sind existentielle Widrigkeiten zu leicht genommen. In Nussbaums „Königreich der Angst“ hat Religion die Funktion, der Vernunft Durchhaltevermögen zu verleihen (270-271). In „Judaism and Love of Reason“ (2003) räumt Nussbaum selbst Zweifel an ihrem Vernunft-Programm ein und hofft angesichts menschlicher Destruktivität vorsichtig auf die inspirierende Gnade (34-35). Hier läge der Anknüpfungspunkt für das weitere Gespräch mit den Religionen.

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