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Dramatisch! Eine Zwischenbilanz: Abschiedsvorlesung von Józef Niewiadomski
(Gehalten am 25. Juni 2019 im Kaiser-Leopold-Saal an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2019-07-08

Inhalt

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„Miteinander essen, miteinander trinken, miteinander schlafen“: auf diese Kurzformel wurde lange Zeit meine Verdichtung der Lebenslust der Christen gebracht. Auf die Anfrage einer Journalistin der lokalen Tageszeitung, wie ich auf dem elementarsten Niveau das ABC der Religiosität beschreiben würde, sagte ich vor etwa zehn Jahren: „Religiosität fängt dort an, wo der Mensch den Unterschied entdeckt zwischen fressen, saufen und ficken und miteinander essen, miteinander trinken und miteinander schlafen.“ Inspiriert zu dieser pointierten Aussage wurde ich sicher durch einen Aufsatz eines meiner verehrten Lehrer Pater Walter Kern SJ: „Christsein heißt miteinander essen“. Da man im Rahmen einer sich akademisch gebenden Vorlesung kaum Wein, geschweige Sekt trinken und schon gar nicht miteinander schlafen kann, habe ich mir gedacht, dass es im Sinne einer Symbolhandlung nicht schlecht wäre – und dies, obwohl nachher das Institut für Systematische Theologie zum Buffet einlädt –, schon jetzt die Abschiedsvorlesung zu versüßen. Ähnlich wie bei den vielen Dostojewskij-Seminaren (Theologie lernen anhand eines Romans: „Die Brüder Karamasov“), bei denen die Sinnlichkeit der Lektüre durch Mozartkugeln erhöht wurde (übrigens: die alten Rabbiner haben die Buchstaben der Heiligen Schrift auf den Holztafeln mit Honig beschmieren und die Kinder mit ihren Fingern die Buchstaben berühren und dann ihre Finger abschlecken lassen, damit sie begreifen, wie „süß“ das Wort Gottes sei), also: ähnlich wie bei der Lektüre der sinnlich überbordenden Handlung des Romans, mit dessen Hilfe ich sieben Mal in unterschiedlichen Gruppen von Studierenden Theologie zu lehren und zu lernen suchte (auch in dem gerade zu Ende gehenden Semester habe ich dies mit 19 Personen – dabei gar Studierende der Soziologie, der Slawistik, der Politikwissenschaft – getan), lade ich Sie jetzt zum Genuss einer Lindt-Schokoladekugel ein. Es soll dies für den Vorgeschmack der himmlischen fruitio, des himmlischen Genusses, stehen, für die mit allen Sinnen erlebte eschatologische Versöhnung, habe ich doch hier in diesem Raum vor 23 Jahren meine Antrittsvorlesung zum Thema: „Der offene Himmel“ gehalten – eine Vorlesung, die im Arkadenhof ihren rauschenden und rauschigen Ausklang fand. Außerdem hat am 25. Juni 1562, also auf den Tag genau vor 457 Jahren, Petrus Canisius als Provinzial der Oberdeutschen Ordensprovinz der Gesellschaft Jesu das Kollegium der Jesuiten mit dem Gymnasium (dem Vorläufer der Uni) eröffnet. Der in der Mauer an der Ecke Universitätsstraße/Angerzellgasse eingelassene Stein mit der Zahl 1562 erinnert an dieses Datum. Ich bitte nun meine bequem auf dem Podium sitzenden Absolventinnen und Absolventen, hinunterzusteigen auf die Niedrigkeit des Parketts und dort in die Rolle der Jüngerinnen und Jünger zu schlüpfen und die wunderbare Schokoladenvermehrung zu inszenieren (unter dem herzlichen Gelächter des Publikums werden die Schokokugeln verteilt und genossen).

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Liebe Bischöfe Alois (Kothgasser), Manfred (Scheuer), Hermann (Glettler), lieber Superintendent Olivier (Dantine), lieber Rektor Tilmann (Märk) und alle anderen akademischen und kirchlichen Würdenträger, liebe Freundinnen und Freunde aus kirchlichen, akademischen und sonstigen Milieus! Sollte bei irgendjemandem der Gedanke der Unseriosität aufgekommen sein, kann ich zu meiner Rechtfertigung nur darauf hinweisen, dass ich überwältigt worden bin, damit auch kaum zurechnungsfähig. Als Roman (Siebenrock), mein Institutsleiter, mich zu Beginn des Studienjahres über die heutige Veranstaltung aushorchte: ob, auf welche Weise und zu welchem Thema?, da dachte ich spontan: ich würde ganz gerne eine Art Bilanz über die Forschungsarbeit in einer doch außergewöhnlichen Zeit an dieser Fakultät ziehen, einer Zeit, die mit Raymund Schwager begann. Nach und nach wurden ja damals immer mehr Menschen zu einer kontinuierlichen Arbeit in einem präzisen methodisch-inhaltlichen Rahmen motiviert – ein Vorgang, der von dramatischen Konnotationen begleitet wurde. Da wurden nicht nur einmal die Türen zugeknallt durch Kollegen, die ressentimentgeladen sich distanzierten; da wurden nicht nur einmal Beziehungen abgebrochen. Und doch: trotz aller Verstörungen entstand am damaligen Institut für Dogmatik und Fundamentaltheologie so etwas wie eine Schule. Von außen kritisch beäugt, öfters auch belächelt. Viele würden sagen: wenig rezipiert. Und dies nicht ohne Grund (auf den ich vielleicht noch kurz eingehen werde). Die Gruppe (die sich den Namen: „Religion-Gewalt-Kommunikation-Weltordnung“ gab) hat aber die Fakultät verändert und auch gesamt-universitäre Impulse gesetzt. Von ihr aus ist die fakultätsübergreifende interdisziplinäre Forschungsplattform: „Weltordnung-Religion- Gewalt“ entstanden, die über Umwege in eines der jetzt etablierten Forschungszentren eingegangen ist. Dem Mentor dieser Entwicklung P. Raymund Schwager war es nicht gegönnt, eine Abschiedsvorlesung zu halten, er starb plötzlich am Vorabend seines letzten Semesters. So fühlte ich mich verpflichtet, die wissenschaftstheoretische Bilanz, die er auf seine unnachahmlich trockene Art und Weise hätte ziehen können, nachzuholen. Und zu ergänzen durch die Nennung all der seit seinem Tod realisierten Projekte. Und es waren nicht wenige! Ich wollte gar einen programmatischen Ausblick auf die wichtigsten Forschungsdesiderate im Kontext des Ansatzes der „Dramatischen Theologie“ wagen. So etwas hätte sicher Rektor Märk und die Vizerektorin für Forschung Ulrike Tanzer gefreut. Ich werde Sie enttäuschen! Denn: als ich die Liste der angemeldeten Personen sah, da hat es mir die Sprache verschlagen. Ich fragte mich nämlich: was sollen denn die meisten Menschen, die teilweise eine lange Anreise in Kauf genommen haben (von Luxemburg bis Ljubljana reicht der Radius der Wege für die Anreise), mit einer solchen Bilanz anfangen? Werden sie nicht durch eine Vorlesung dieser Art zu Zuschauern eines ihnen unverständlich (deswegen vielleicht sogar absurd) erscheinenden Theaters degradiert?

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Bild1 Niewiadomski

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ABC des dramatischen Ansatzes und die Frage nach der Lebenslust

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„Dramatisch“ heißt doch zuerst und vor allem interaktiv. Auf diese oder jene Weise sind alle im Drama Mitspieler. Da darf es keine Personen im neutralen Beobachtungsstatus geben. Denn: selbst die Zuschauer ergreifen Partei. Und die Zuhörer identifizieren sich mit oder distanzieren sich aber von Rollen, Geschichten und Zusammenhängen. Und da bin ich beim springenden Punkt. Da Sie alle sich meinetwegen in diesem Raum befinden (ob als Freunde oder als Gegner und Feinde, denn: diese gibt es ja immer, wenn auch meistens unaufdringlich und anonym), entschied ich mich in der letzten Woche, meine Vorlesung radikal umzukrempeln und Sie alle teilnehmen zu lassen am Drama meiner wissenschaftlichen Karriere, dem Drama, das hier natürlich schon aus zeitlichen Gründen nur fragmentarisch rekonstruiert werden kann.

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Doch bevor es soweit ist, nur noch ein Wort zur Fortsetzung des besagten Interviews über das Miteinander-essen, Miteinander-trinken und ..., Sie wissen’s eh. „Wie meinen Sie das mit dem Unterschied?“, fragte die Journalistin und ich antwortete sinngemäß, dass die Religion mit der Kultivierung des Lebens beginnt. „Aber dazu braucht man doch keine Dogmen“, wandte sie ein. Und ich dachte an das brillante Essay des marxistischen Philosophen Walter Benjamin „Kapitalismus als Religion“. Bereits im Jahre 1921 (also fast vor 100 Jahren) charakterisierte er den Kapitalismus als „dogmen- und theologiefreie reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat“. Der reine Kult, der Kult ohne inhaltliche Bindung besteht im Kreislauf von Produktion und Konsum. Unter inhaltlicher Rücksicht ist es nämlich völlig egal, was produziert und was konsumiert wird. Hauptsache: Action! Kult, Kult von permanenter Dauer. Es sei eine Kultreligion, der jeder Tag ein Festtag ist. Unterbrechungen sind nicht erwünscht, Arbeit und Urlaub werden nicht als unterschiedliche Vollzugsweisen menschlichen Lebens angesehen. Wenn jeder Tag ein Festtag ist, dann ist nicht nur der Sonntag obsolet. Auch unterschiedliche Feste können problemlos eingeebnet werden. Ob man Weihnachten oder Ostern feiert, wo liegt da schon der Unterschied? Konsumiert wird auf dieselbe Art und Weise. Noch sind die Verpackungen anders. Und wie lange noch? Braucht es wirklich Dogmen, verbindliche Inhalte, die wie die Leitplanken einer Autobahn die Fahrbahn begrenzen, damit man einigermaßen sicher die Fahrstraße des Lebens, v. a. aber die des Zusammenlebens fahren kann und nicht im Beliebigkeitschaos links im Sumpf und rechts im Abgrund landet? Ich lade Sie ein, für eine kurze Zeit dem Anfang der allerersten Vorlesung in Dogmatik bei Niewiadomski beizuwohnen. Unter Studierenden hat es mal den Witz gegeben: „Willst du wissen, was ‚dramatisch‘ heißt, geh mal in eine Vorlesung von Niewi. Dann siehst du es, wie er am Rand des Podiums im Madonnensaal balanciert und sich die Studierenden ständig fragen, wann er abstürzt.“ „Alt geworden“, bleibe ich heute beim Pult stehen. Aber nun zum versprochenen ABC:

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Betroffenheit macht sprachlos. Der Mensch braucht Worte, er braucht Geschichten, um seine Betroffenheit zu kanalisieren, ansonsten wird er high, depressiv oder aggressiv. Geschichten brauchen aber einen Rahmen, sonst werden sie im intersubjektiven Kontext blind. Sie können zu Schlagstöcken werden, Schlagstöcken, mit denen man Mitmenschen mundtot machen, sie gar vernichten kann. Welcher Rahmen ordnet die vielen Geschichten des gegenwärtig gelebten Lebens und die Geschichten der Tradition? Ist es der Rahmen, der die Geschichten des Lebens bloß nach der Logik von Aufstieg und Fall ordnet, von erträumter und erlebter Spitzenkarriere und dem Absturz? Der Rahmen der scheinbar allgegenwärtigen Rankings? Der Rahmen des Skandals, auf den unsere Öffentlichkeit süchtig zu sein scheint? Oder „nur“ der Rahmen der sogenannten unsichtbaren Hand des Marktes, der inhaltsleere Rahmen also, den Walter Benjamin als „dogmen- und theologiefreie, reine Kultreligion“ charakterisiert hat?

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Meine Damen und Herren! Bereits seit dem Beginn meiner Vorlesung sehen Sie auf der Leinwand hinter mir in einer nicht allzu raschen Abfolge zwei Bilder von Marc Chagall wechseln. Es sind dies die Bilder, die allen meinen Studenten mehr als vertraut sind. Diese Bilder sind, wie alle Bilder, keineswegs eindeutig. Ich selber versuche mit Hilfe dieser zwei Bilder das Grundanliegen des dramatischen Ansatzes in systematischer Theologie auf dem elementarsten Niveau zu verdeutlichen. Das erste Bild, das Bild, in dem sich die vielen Geschichten des Lebens verdichten, steht paradigmatisch für jene Kultivierung des menschlichen Lebens, die ich mit der Kurzformel von „Miteinander essen und trinken und schlafen“ auf den Begriff zu bringen versuche.

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Bild2 Niewiadomski: Mit Chagall Bild1

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Unübersehbar groß im Zentrum des Bildes sieht man ein engumschlungenes Brautpaar. Es steht für die Vision eines Lebens, das vor Lebenslust geradezu pulsiert. (Liebevoll-boshaft könnte man sagen: Nur ein zölibatärer Kleriker kann im engumschlungenen Paar den Inbegriff der Lebenslust erblicken, weil er ja ständig daran denkt und sich gerne in solchen Rollen wiederfindet.) Der zu Verabschiedende ermutigt Sie alle, sich nun ausdrücklich zu fragen, in welchen Rollen Sie selber sich wiederfinden würden, welche Rollen Sie kritisch hinterfragen. Was lässt Sie kalt? Stehen die Geschichten, von denen das Bild erzählt, auch für die Geschichten Ihres Lebens? „Dramatisch“ heißt ja, es gibt keine neutrale Beobachtungsposition! Marc Chagalls Bild ist ein zutiefst religiöses Bild, ein Bild mit dem Titel „Befreiung“, gemacht im Jahr 1937. „Woran ist jedoch die Religiosität des Bildes ablesbar?“, werden Sie fragen. An der sofort ins Auge springenden Lebensqualität der Liebenden, der Musizierenden, der sich für ein menschenwürdiges, für ein gerechtes Leben Einsetzenden. Übersehen Sie nicht die roten Fahnen im Hintergrund, die ja für das Engagement und den Kampf stehen. Übersehen Sie aber auch die zwei Gestalten in der Ecke des Bildes links oben nicht. Sie sind mit einer anderen Maltechnik gemalt, einer Technik, die diese Gestalten abhebt von den auf der Oberfläche des Bildes dargestellten Personen, einer Technik, die diese beiden Gestalten auf einer Meta-Ebene platziert. Mose mit den Gesetzestafeln und der Gekreuzigte werden hier zum Fokus des auf dem Bild dargestellten Geschehens gemacht. Sie werden zur Perspektive, die das auf dem Bild dargestellte Leben ordnet und deutet (damit die vielen Geschichten eben nicht zu Schlagstöcken werden!). Die Gestalten bilden also so etwas wie einen Rahmen, der das Leben auf dem Bild ermöglicht, einen Rahmen, der sich nicht aufdrängt, wohl aber deutliche Spuren auf der Bildoberfläche hinterlässt: Spuren durch das In-den-Blick-rücken der vielen Geschichten des Alltags. Es ist ein religiöser Rahmen, dem allerdings die „religiöse Pornographie“ fremd ist.

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Was heißt das in unserem Zusammenhang, im Kontext des Vorwurfs der Journalistin, man brauche zur Kultivierung des Lebens kein Dogma, in meiner nun ein bisschen differenzierten Ausdrucksweise: keinen Rahmen, keine Leitplanken, keinen Fokus? Betrachtet im Lichte der jüdisch-christlichen Tradition, denn dafür stehen die beiden Gestalten in der Ecke des Bildes, präsentiert sich der oft ganz banale Alltag mit seinen vielen – oft widersprüchlichen – Geschichten als ein menschenwürdiges, Lebenslust atmendes und ausstrahlendes Zusammenleben. Es bekommt seine Qualität vom „Miteinander“: vom Miteinander-essen und -trinken und -tanzen, vom Miteinander-arbeiten und -sich-engagieren, vom Miteinander-schlafen. Der Fokus, den Chagall durch die zwei Gestalten andeutet, steht nämlich für die auch heute noch anerkannte Bedeutung von Religion im kulturpolitischen Kontext. Und dies gar in einem zweifachen Sinn: Zuerst können Sie in ihm die moderne Ethisierung der Religion wiederfinden, schlussendlich steht Mose für den Dekalog. Emphatisch gedeutet können Sie darin gar das „Weltethos der Religionen“ finden und die Wertschätzung der „goldenen Regel“ für die Kultivierung des Zusammenlebens von Menschen. Zum anderen aber ist es die Empathie für die Opfer, die man an der Gestalt des Gekreuzigten ablesen kann, jene Empathie, die doch zu einem Qualitätsausweis unserer „humanistischen“ Kultur avancierte.

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Religion – was ist das?

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Wozu dieses ABC der ersten Dogmatikstunde à la Niewiadomski? Die Studierenden sollen durch dieses lebensfrohe Bild einen ersten Zugang bekommen zur Frage, warum eine Religion, die eben nicht theologiefrei und auch nicht dogmenfrei ist, warum sie im Dienste der Kultivierung von Lebensqualität steht und jene Sackgassen zu vermeiden hilft, die eine reine Kultreligion à la Walter Benjamin mit sich bringt, eine Religion, die in unserer Gegenwart omnipräsent zu sein scheint. Zwischenruf – durchaus im Sinne einer dramatischen Inszenierung –: sollten die Nichttheologen inzwischen Bahnhof verstehen, weil ihnen der Begriff der Religion plötzlich „chinesisch“ vorkommt, weil Religion für sie nur etwas mit Kirche, Synagoge, Moschee zu tun hat, dann gebe ich ihnen zu bedenken, dass religio zuerst Bindung heißt. Mit Religion ist also hier jene Bindung von Personen, vor allem aber von Gruppen gemeint, die alle anderen Bindungen des Alltags normiert. Deswegen stellt die moderne Degradierung der explizit greifbaren Bindung an eine religiöse Tradition zum beliebigen Hobby theologisch betrachtet einen Holzweg dar (am Rande sei nur vermerkt, dass Martin Luther diese kulturprägende Spannung im Kontext der Frage nach dem Gottesbegriff diskutiert hat). Welche Bedeutung hat also eine religio, die nicht dogmenfrei ist und auch nicht theologiefrei?

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Um diese Frage indirekt zu beantworten, lade ich Sie ein, sich selber zu fragen, was sich denn mittelfristig an der Atmosphäre des lebensfrohen Bildes von Chagall ändern würde, wenn – anstatt von Mose (anstatt also der Dekalogtradition) und anstatt des Gekreuzigten (anstatt der gelebten Empathie mit den Opfern) im Fokus – im normativen Blickwinkel des Bildes die Warenkataloge der Kaufhäuser aufscheinen würden? Was würde die Abwesenheit des Ethischen und des Empathischen im normativen Rahmen einer Gesellschaft mittelfristig mit sich bringen? Was würde die radikale Befreiung von den scheinbar repressiven – weil einengenden – Leitplanken inhaltlicher Art mit der Autobahn des Zusammenlebens machen? Jean Baudrillard hat in seinem Essay „Die Transparenz des Bösen“ die Frage, was denn nach der Orgie der Befreiung der sprichwörtlich emanzipatorischen Kultur der 68-er gekommen ist, mit einem sarkastisch anmutenden Hinweis beantwortet: Nicht das autonome Subjekt, sondern das Konsumindividuum.

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Katastrophe der Ethik und die Folgen

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„Dramatisch. Eine Zwischenbilanz“ lautet der Titel dieser Abschiedsvorlesung; und inzwischen werden Sie wohl bemerkt haben, dass ich mich an das Thema herantaste und dies auf elementarstem Niveau. „Dramatisch“: so habe ich zuerst gesagt, das bedeutet „interaktiv“. Es gibt keinen neutralen Beobachtungsposten. Auch als Zuhörer positionieren wir uns, wir ergreifen Partei, schlüpfen in Rollen oder wir distanzieren uns vom Geschehen. „Dramatisch“ heißt aber weiter, dass es im Drama qualitativ verschiedene Situationen gibt. Weil etwas geschieht, wodurch die Karten neu gemischt werden. Und damit bin ich beim zweiten Bild, dem Bild mit denselben Personen auf der Bildoberfläche, dem Bild, das aber von Chagall nach dem 2. Weltkrieg gemalt wurde. Im Unterschied zum ersten – zum lebensfrohen – Bild ist dieses durch dunkle Farben dominiert. Es hat auch keine Meta-Ebene, scheinbar keinen Fokus, keine Perspektive, keinen – wenn auch nur unaufdringlich, aber doch präsenten – Rahmen für die vielen Geschichten. Nur der Gekreuzigte, der auf dem ersten Bild zusammen mit Mose den Blickwinkel andeutete, dieser Gekreuzigte ist nun im Zentrum des Bildes zu sehen. Überproportional groß. So als ob der Künstler damit sagen wollte: Es gibt nur noch eine Geschichte. Die Geschichte dieses Opfers, in der sich alle Lebensgeschichten als Opfergeschichten verdichten. Alle Gestalten des auf dem Bild dargestellten Geschehens – auch oder gerade Mose mit den Gesetzestafeln – sind auf das eine große Opfer hingeordnet. Zieht es die Menschen an oder stoßen die Menschen dieses Opfer aus? Integriert der Gekreuzigte oder wird er ausgegrenzt? Vielleicht beides zugleich?

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Bild3 Niewiadomski: Mit Chagall Bild 2

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Auch in diesem Zusammenhang gilt Ihnen die Ermutigung, sich zu fragen: Wo würde ich mich auf diesem Bild wiederfinden? Wovon mich distanzieren? Würde ich gar das Bild als Ganzes verwerfen?

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Was wollte der jüdische Maler Marc Chagall mit der Veränderung der Perspektive sagen? Wollte er – nach dem Inferno des Zweiten Weltkrieges, nach dem Versuch, das jüdische Volk zu vernichten –, wollte er damit andeuten, dass es so etwas gibt wie die Katastrophe der Ethik? Weil die „Banalität des Bösen“, die im Nationalsozialismus, aber auch im Stalinismus ihre Fratze auf brutalste Weise gezeigt hat, doch mehr beinhaltet als bloß die Summe der einzeln versagenden Individuen? Nimmt man solche Fragen ernst, dann wird man auch die Reduzierung der Religion auf Ethik hinterfragen. Dies umso mehr, als wir in unserer Gegenwart zunehmend mit Situationen zu tun haben, in denen nicht nur ethische Appelle, sondern bestbegründete Ethikentwürfe das Schicksal des ein bisschen verloren wirkenden Mose auf dem dunklen Bild teilen. Er steht zwar noch da, seine Gesetzestafeln vermögen aber keine normative Kraft zu entfalten, weil die Menschen auf dem Bild „anders“ gesteuert werden. Weil Mechanismen am Werk sind, Mechanismen, von denen die Wirklichkeit konstruiert wird. Das Judentum hat gerade deswegen in seiner Geschichte die glatte Reduktion der Religion auf Ethik immer abgelehnt. Es hat immer in einem Atemzug von „Gesetz und Propheten“ gesprochen und in den Propheten nicht nur ethisch-moralische Autoritäten gesehen. Auch das Schicksal der Propheten, ihr Scheitern und ihre Leiden wurden tradiert. Und damit auch die Frage: Welche Antwort haben Menschen auf die erlebte Katastrophe der Ethik? Auf die Häufung der Opfer? Schweigen sie? Schreiben sie keine Gedichte mehr? Beteuern sie bloß, dass „Gott in Auschwitz“ gestorben sei? Natürlich praktizieren Menschen gerade nach der Erfahrung der Katastrophe der Ethik Rechtsprechung, sie bemühen sich auch um Opferschutz. Die Überdimensionalität der Opfergestalt auf dem dunklen Bild gibt uns aber zu denken. Sie hat etwas Warnendes und Rettendes zugleich in sich. Warnend, weil die Rolle des Opfers einen mimetischen Sog ausübt, den Nachahmungswahn. „Ich leide, also bin ich“, schrieb schon vor Jahren ein Philosoph [Pascal Bruckner]. Und das gegenwärtig erlebte und medial zelebrierte Opfer-Täter-Verhängnis zeigt, dass der mimetische Sog – wenn ungebrochen – Seelen in Wüstenlandschaften verwandeln kann. Ja, die Seele ist ein „weites Land“, ein Land, dessen mimetisches Begehren unstillbar zu sein scheint. „Wir Opfer. Warum der Sündenbock unsere Kultur strukturiert“, lautet der Titel eines von René Girard inspirierten Werkes von Kirstin Breitenfellner. Das Buch versucht, die auf dem Bild dargestellte Tragödie ohne den Rückbezug auf Transzendenz zu lösen. Ohne eine ausdrücklich thematisierte Meta-Ebene, ohne den Fokus, ohne einen inhaltlich normierten – damit auch normativen – Rahmen. Es ist ein Werk, das im Grunde das erste Bild (samt seiner Botschaft) im zweiten Bild restlos auflöst. Die Folgen davon können nur angedeutet werden: eine Gesellschaft, in der sich alle auf diese oder andere Weise als Opfer begreifen, findet kaum den Ausweg aus dem Teufelskreis. Dann reden wir von Ethik und jagen die Sündenböcke. Die sehen wir auch kaum, weil in unserer Wahrnehmung bloß Gegner und legitime Feinde existieren. Wir kritisieren andere und verschleiern unsere eigenen Abgründe. Je deutlicher sich die Aufklärungs- und Outingkultur zu Wort meldet, je lauter die Empörung und der Ruf nach Verantwortung, umso mehr waten wir „im Sumpf“ der Selbstgerechtigkeit.

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Dramatischer Ansatz im systematisch-theologischen Denken verweigert eine derartige Auflösung des ersten im zweiten Bild in der Situation der Krise. Er warnt vor der Reduktion der Spannung, die sich zwischen den beiden Bildern auftut, zu einem abstrakten Begriff. Beide Situationen sind als aufeinander nicht reduzierbare Lebensakte ernst zu nehmen, sie ergänzen einander, korrigieren sich auch. Wie gesagt: auf beiden Bildern sehen wir dieselben Personen. Die Erfahrung der Katastrophe hat aber die Karten neu gemischt. Sie wirft auch die fundamentale Frage auf, durch welchen inhaltlich normierten, die Transzendenz einbeziehenden Rahmen die vielen Geschichten von Opfern und Tätern geordnet werden können. Konkret auf das Bild von Chagall bezogen: Gibt es etwas auf dem Bild, das wir nicht sehen, wohl aber glauben? Raymund Schwager hat durch seinen Ansatz eine klare Antwort auf diese Frage ermöglicht. Noch vor seiner Innsbrucker Zeit hielt er in seinem Buch „Jesus-Nachfolge“ zur Deutung des Kreuzes Jesu Folgendes fest: Der göttliche Vater hat Jesus ermächtigt, „das blinde Schicksal des Todes in eine Tat der Hingabe zu verwandeln“; dadurch offenbarte er sich „nicht als eine neue sublime Idee, sondern als machtvolle Wirklichkeit“. Wir sehen also auf dem Bild (von Chagall) nur die Gewalttat, glauben aber: da spielt sich viel mehr ab als nur Töten und Getötetwerden. Deswegen kann auch die Reaktion auf die so dargestellte Katastrophe der Ethik nicht bei der Frage: „Wer ist schuld daran und wer trägt die Verantwortung?“ stehen bleiben. Denn diese Fragen erreichen den Kern dessen, was wir nicht sehen, nicht! Wie gesagt: Wir sehen die Gewalttat, glauben aber, dass sich im Kreuz viel mehr abspielt. Und was?

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Intermezzo zu dramatischen Konnotationen meiner wissenschaftlichen Biographie

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Exakt an diesem Punkt muss der Vortragende gemäß der bereits gemachten Ankündigung seine Rolle, die er in dem von ihm partiell rekonstruierten Drama spielt, stückweise selber reflektieren, damit auch das „Drama“ seiner theologischen Existenz offenlegen. Denn: für diese gerade dargestellte Deutung des Kreuzes Jesu als eines normativen Fokus zur Einordnung von Lebensgeschichten hat er zu dem Zeitpunkt, an dem er sich diese Deutung hätte zu eigen machen können, kaum Verständnis gehabt. Im Gegenteil! Er sah darin bloß eine fromme Übertünchung realer – der Aufklärung bedürftiger – Konflikte. Der biographisch relevante Rahmen zur Einordnung seiner eigenen Geschichten, der Fokus, von dem aus er das dramatische Geschehen, in dem er steckte, hätte deuten können, sah nämlich anders aus. Worum ging es dabei? Die Bühne – denn auch die Identifizierung der Bühne gehört zur Logik der Dramatik – der angedeuteten Ereignisse war in diesem Gebäude aufgebaut. Das Drama, das sich darin abspielte, steht für die schwierigste Krise der jüngsten Geschichte der Fakultät. 1974 war ich gerade dabei, meine theologische Diplomarbeit zu beenden. Ich schrieb sie bei dem jungen Dogmatikprofessor, für den alle – fast alle – Studierenden schwärmten: P. Franz Schupp. Er faszinierte uns mit seinem kritischen Zugang zur Theologie, auch oder gerade, weil wir ihn nicht ganz verstanden haben. Mit seiner Sprache stand er schlicht und einfach für eine alternative Sicht der Kirche. Er schien den gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess der 68-er in die Kirche hineinzutragen, einer Kirche, die hierzulande durch den abgehoben wirkenden – vor allem in Sachen Sexualmoral traditionalistisch, um nicht zu sagen verschroben denkenden – Bischof Paulus Rusch repräsentiert war. Als P. Schupp am Ende des SS 74 der Entzug der Lehrerlaubnis vom Bischof angedroht wurde, weigerte sich dieser mit dem Hinweis auf die fehlende Transparenz, zu den ihm anonym vorgelegten Fachgutachten Stellung zu beziehen. Der Stein kam übrigens ins Rollen – wie inzwischen bekannt ist – aufgrund einer Initiative des damaligen Professors an der Pädagogischen Akademie Reinhold Stecher, der den Bischof auf den „Aufsehen erregenden“ Professor aufmerksam machte und dem paradoxerweise in der Zeit seines Bischofsamtes mutatis mutandis eine ähnliche Opferrolle aufgedrängt wurde. Als P. Schupp im Sommer 74 Innsbruck verließ, geriet die Fakultät ins Schleudern. Höhepunkte des Prozesses waren: ein zweiwöchiger Vorlesungsstreik der Studierenden zu Beginn des Wintersemesters 74/75 und der Brief der Vollversammlung des Canisianums an den Pater General mit der Bitte, er möge die bevorstehende Generalkongregation der Gesellschaft Jesu dazu auffordern, mehrere Beschlüsse zu fassen in Sachen Unabhängigkeit theologischer Arbeit und Veränderung der Verfahrensordnungen der Glaubenskongregation. Der Brief wurde vom Regens des Canisianums P. Robert Miribung (heute im Saal anwesend) und mir, weil ich zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der Vollversammlung war, unterschrieben. Dem polnischen Priesteramtskandidaten, der ich zu diesem Zeitpunkt war, geriet damit einiges aus dem Deutungsrahmen, in dem er seine Lebensgeschichten ordnete, ins Wanken. Als der Brief an die Öffentlichkeit kam, reagierte die konservative Institution der Ostpriesterhilfe, die mein Stipendium finanzierte, mit dem Entzug desselben. Die Begründung war klar: ich habe mich gegen die legitimen kirchlichen Oberen aufgelehnt. In der Folge wurden auch andere Stipendien für das Canisianum gestrichen. Das Haus, in dem der heute hier anwesende P. Otto Muck die Funktion des Ordensoberen (des Rektors) hatte, wurde zum Ort der denkbar dramatischen Auseinandersetzung um die Frage einer zeitgemäßen, authentischen Form von Kirchlichkeit. Ich möchte diese Zeit nicht missen! Denn: die Erfahrungen der Viktimisierungen gingen damals Hand in Hand mit den Erfahrungen des „sacrificiums“: mit der Haltung der Hingabe, die einem mehr abverlangt hatte als bloß das kritische Wort. Ich selber habe das am deutlichsten erfahren, als mein deutscher Studienkollege seine Eltern dazu bewegen konnte, dass sie für ein Semester mir das Stipendium spendieren; in der Folge sprang dann seine Diözese (Speyer) ein. Ich selber wurde bei ihm zu Hause quasi adoptiert, als vierter Sohn sozusagen. Ausgerechnet in diesem Jahr sind die Eltern verstorben und der Kollege ist erkrankt (deswegen ist Friedrich heute auch nicht da). Wie gesagt, Viktimisierungserfahrungen gingen damals Hand in Hand mit den Erfahrungen des Sacrificiums.

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Die Fronten allerdings, die sich in meinem Kopf aufbauten, dem Kopf des letzten Diplomanden von P. Schupp, waren klar. Der Slogan: „Hierarchie contra Volk Gottes“ übernahm die Funktion jenes Rahmens und Fokus, in dem auf dem ersten Bild von Chagall Mose und der Gekreuzigte zu finden sind. Theologie wurde mir zum Geschäft der Kritik an kirchlicher Hierarchie! Es war die Zeit meiner Priesterweihe; dass sie in Rom in der Straße der dunklen Geschäfte (Via delle Botteghe Oscure) stattfand, sei nur am Rande erwähnt (übrigens: mein „Weihezwilling“ Andreas Krzyzan ist auch im Saal, er hat auch die Predigt bei der Eucharistiefeier, die anlässlich dieser „Abschiedsvorlesung“ gefeiert wurde, gehalten). Warum diese biographische Verortung? 1977 kam P. Raymund Schwager als neuer Professor nach Innsbruck und ich wurde sein erster Assistent. Wie die meisten Studierenden habe auch ich in den ersten Semestern seine Person und seine Theologie als Projektionsfläche für die vielen Frustrationen kirchenpolitischer Art benutzt. Klar, dass unter diesen Voraussetzungen sein Vorstoß, Theologie anders zu denken als im Rahmen eines festgefahrenen Positionskriegs mit der Hierarchie (Positionskriege verändern gar nichts; sie tragen bloß zur Zerstörung des Hinterlandes bei), vor allem aber sein Anliegen, das Kreuz als das transformierende Ereignis zu sehen – ein Ereignis, das die Sackgassen wandelt (deswegen auch Zukunft eröffnet, vor allem aber Steinewerfen, damit auch Sündenbockjagd verhindert), ein Ereignis, das die schablonenhafte Einteilung der Handelnden (politisch und kirchlich Handelnden) in die guten „Nachfolger“ oder Parteigänger auf der einen Seite und die bösen „Widersacher“ auf der anderen, all das, was P. Schwager an Innovation nach Innsbruck brachte –, bei mir auf taube Ohren stieß.

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Dabei hätte es in meiner bisherigen Biographie genügend Ansätze gegeben, an denen ich die Fruchtbarkeit seines Zugangs hätte erkennen können. So etwa die Erfahrungen mit dem geschichtsträchtigen Brief der polnischen Bischöfe, den sie am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965 an die deutschen Mitbrüder schrieben, ein Brief, durch den sie die Hand zur Versöhnung beider Völker ausstreckten. Die berühmten Worte: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ prägten meine Vorstellungskraft der letzten Gymnasialjahre. Als Gymnasiast musste ich nämlich mehrere politisch korrekte Aufsätze schreiben, in denen ich beteuert habe, dass wir niemals vergeben und niemals vergessen werden. Denn – die political correctness hatte wie immer schon die halbe Wahrheit auf ihrer Seite – aus welchem Grund hätten wir Polen die Deutschen um Vergebung bitten sollen? Nur mit dem verordneten Prädikat für die Bischöfe, sie wären Vaterlandsverräter, tat sich der leidenschaftliche Ministrant schwer. Im Klartext: die von mir zu Beginn meiner Tätigkeit als Assistent bewusst ergriffene Rolle des bloß kritischen Beobachters des neuen Professors (und der kirchlichen Hierarchie) versperrte mir den Blick auf den kreativen und neue Theologien generierenden Wert seines Ansatzes. Weil ich mich auf die Herausforderung der Auseinandersetzung mit dem wohl schwierigsten Problem der Selbstgerechtigkeit des kritischen Denkens nicht einlassen konnte und auch nicht wollte (und an diesem Punkt würde ich einen der Gründe für die Sperrigkeit des Ansatzes bei den in der akademischen Kultur gängigen Rezeptionsvorgängen verorten), driftete ich in die Haltung des theologischen Zynismus ab, dessen Abgründe ich durch die knallharte Kritik der Fundamentalisten auch mir selber gegenüber verschleierte.

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Meine Damen und Herren! Bei einer Tagung in Stuttgart, bei der Raymund Schwager ein Referat zur biblischen Hermeneutik aus der Perspektive der mimetischen Theorie von René  Girard hielt, habe ich – wie es halt meine Art war – in der Diskussion Anfragen und Kritik geäußert, die an der Grenze akademischer Gepflogenheiten angesiedelt waren. In der Kaffeepause stand ich hinter ihm. Er unterhielt sich mit seinem Ordensmitbruder, dem Alttestamentler Norbert Lohfink. Sie sahen mich nicht. Ich hörte Lohfink sagen: „Wenn mein Assistent mich in der Öffentlichkeit derart unflätig kritisieren würde, den wäre ich schon längst losgeworden.“ Ich hörte Schwager sagen: „Ah, von dem bin ich ganz andere Dinge gewohnt.“ Mir fiel die Decke auf den Kopf. Ich fragte mich nämlich, was für eine Art von Spiritualität dieser Mann haben muss, dass er mich erträgt, mich immer und immer wieder auffängt. Meistens so, dass ich selber es nicht merke. Nach diesem Erlebnis habe ich angefangen, mich ernsthaft mit seinem Denken auseinanderzusetzen. Heute weiß ich, P. Schwager hat mich vor dem theologischen Zynismus gerettet. Nach und nach verabschiedete ich mich von den Träumen, etwas vollkommen Neues, auf jeden Fall anderes als das von ihm Geschaffene auf die Beine zu bringen, und gab mich zufrieden mit der Pflege (vielleicht auch Weiterentwicklung) seines Ansatzes. Nach und nach verstand ich auch die Tiefe des Dictums von René Girard: „Christsein heißt zu erkennen, dass nicht nur die Anderen ihre Sündenböcke haben, während ich nur legitime Gegner und Feinde habe“. Noch einmal: Warum dieser persönliche Exkurs bei einer Abschiedsvorlesung? Die gelassene Einsicht in die Abgründe der Selbstgerechtigkeit des kritischen Denkens würde heute zur Rehabilitierung der Theologie beitragen, eines Denkens, das sich nicht in der Absegnung der von anderen Wissenschaften errichteten kulturpolitischen Fronten erschöpft und sich auch nicht mit der gängig gewordenen Reduktion der Religion auf Ethik zufriedengibt. Und damit kehre ich zurück an jenen Punkt meiner Ausführungen, an dem ich die wohl fragmentarische biographische Verortung meines Zugangs zum dramatischen Ansatz begonnen habe.

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Transformation des Versagens und der Katastrophe der Ethik: fragmentarische Bemerkungen zum nicht reduzierbaren Eigenwert der Religion

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Es war dies die Aussage von Raymund Schwager, die ich als Deutung des zweiten, dunklen Bildes von Chagall verwendet habe: Der Vater ermächtigt Jesus Christus, das gewaltsame Geschick des Todes in die Tat der Hingabe zu verwandeln. Es war dies eine Aussage, die zuerst den klaren Sinn hatte: an dem Bild sehen wir die Gewalttat, glauben aber, da spielt sich viel mehr ab als bloß Töten und Getötetwerden. Unter der Verwendung lateinischer Begrifflichkeit würde man sagen: hier wird victima zum sacrificium verwandelt, aus der Opferung wird eine Tat der Hingabe. All das geschieht aufgrund des Transzendenzbezugs, es geschieht kraft des himmlischen Vaters, der durch sein „Eingreifen“ die Transformation ermöglicht: die brutale Viktimisierung wird auf einer tieferen Ebene zur Liebestat. In diesem Bekenntnis verdichtet sich jener christliche Fokus für die vielen Geschichten des Scheiterns, der Katastrophen, der ethisch nicht einholbar ist. Er stellt die göttliche Antwort auf die Erfahrung des ethischen Scheiterns dar!

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„Aber zur Kultivierung des Lebens braucht es doch keine Dogmen“, sagte damals die Journalistin. „Und wie!“, hat ihr damals der Dogmatiker geantwortet und heute bekräftigt er seine damalige Antwort. Gemäß dem zentralen Dogma des Christentums über die Erlösung der Menschheit durch Jesus Christus gibt es nämlich auch eine andere Antwort auf das Faktum des Versagens von Menschen und auch auf das Faktum der immer wieder erfahrenen Katastrophe der Ethik als bloß die Suche nach Verantwortlichen, bloß Bestrafung der Täter, theologisch gesprochen: bloß Gericht und Hölle. Diese Antwort glauben Christen, indem sie das Kreuz Jesu erblicken und deuten. Sie sehen darin wohl den Tod eines Opfers, gar eines Sündenbocks, den Tod, der den Millionen ähnlicher Schicksale vergleichbar ist, deswegen auch zum Symbol der Empathie mit Opfern werden kann. So habe auch ich den Fokus des ersten Bildes gedeutet: Ethisches und Empathisches als Rahmen für Lebensgeschichten, als Leitplanken für die Lebensautobahn. Die Christen sehen aber noch mehr, viel mehr in diesem Kreuz. Und was ist das?   

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Bild4 Niewiadomski

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Christen sehen auch in diesem zweiten Bild den Transzendenzbezug, die Meta-Ebene also, den Transzendenzbezug, der dieses eine Opfer in seiner Eigenart erst möglich macht. Nicht in dem traditionellen Sinne, dass hier der göttliche Vater seinen Sohn mit Hilfe der menschlichen Handlanger schlachtet, um seinen Zorn zu stillen. An diesem Punkt war die radikale Religionskritik René Girards heilsam, wohl aber in dem Sinn, dass er – so Schwager und in dessen Spuren die zahlreichen Proponentinnen und Proponenten des Ansatzes der „Innsbrucker Dramatischen Theologie“ – seinen Sohn „ermächtigt“, das Böse zu wandeln, der Banalität des Bösen nicht nur seine Fratze herunterzureißen, sondern dieses durch das Gute zu überwinden. Dass wir diesen Transzendenzbezug dieses einen Opfers auf dem Bild von Chagall nicht sehen, ergibt einen guten – gar dogmatischen – Sinn, ist doch der Gekreuzigte selber der menschgewordene Sohn des ewigen Vaters. Deswegen kann er sich – und wir sind gegen Ende dieser Vorlesung im reinsten „dogmatischen Garten“ angelangt – mit jedem Menschen identifizieren, sofern dieser ein Opfer des Bösen ist. „Alles, was dem Geringsten angetan wird, wird mir angetan“, sagte er. So etwas kann nur ein Verrückter behaupten oder einer, der aus dem Bereich der Transzendenz kommt, damit auch das gesamte Potenzial der Immanenz umfangen kann. Er identifiziert sich nicht nur mit den Opfern, er betet auch für die Täter: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Weil sie verblendet sind und in ihrem Handeln letztendlich doch Opfer bleiben (Opfer fremder Taten, Opfer eigener Geschichte, Opfer ihres eigenen Tuns), müssen sie aufgefangen werden. Aufgefangen im Beziehungsnetz, das nicht identisch ist mit dem „Täter-Opfer-Verhängnis“. Nur so können sie auch schuldfähig werden, das Ausmaß ihrer Schuld einsehen, sie auch in die eigene fragmentarische und brüchige Lebensgeschichte integrieren, anstatt diese abzuschieben und die Katastrophe der Ethik durch die Sündenbockjagd zu überspielen suchen. Nur so können sie den Schritt wagen, selber die Hand auszustrecken und zu sagen: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Das Kreuz, christlich gedeutet, ermöglicht nämlich jene Sicht des Menschen, die bei der „sauberen“ Aufteilung von Menschen in zwei Gruppen – hier die „guten“ Opfer und dort die „bösen“ Tätern – nicht stehen bleibt. Die entscheidende Spaltung geht durch den Menschen hindurch. Jeder Mensch ist Opfer und Täter zugleich. Und weil mir – dem Täter vergeben wird – kann auch ich vergeben. Die Präsenz des Gekreuzigten im Fokus des ersten Bildes lässt sich deswegen nicht zur bloßen Empathie mit den Opfern reduzieren. Der Gekreuzigte verdichtet auch das Geheimnis der Transformation von Sackgassen des Lebens, darunter auch der Sackgasse, die sich aus dem Opfer-Täter-Verhängnis ergibt.

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Meine Damen und Herren! Es ist hier nicht der Ort (und schon gar nicht die Zeit), die rationale Begründung für die oft nur fromm klingenden Sätze zu bringen. So etwas würde der zu Beginn dieser Vorlesung beteuerten Lebenslust widersprechen. Geschwitzt haben Sie ja in diesem überfüllten Hörsaal bei diesen Rekordtemperaturen schon genug. Nur noch eines: Der Glaube an die Erlösung durch Christus lässt sich nicht zur Ethik für Fromme reduzieren. Er bietet den letzten Rettungsanker für jene, die scheitern, ganz gleich, ob sie fromm oder gottlos sind. Gemäß der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils bringt der Heilige Geist gar jene Menschen, die von Christus nichts wissen oder auch nichts wissen wollen, auf Gott bekannten Wegen in Verbindung mit dem Geheimnis Christi. Wir alle werden also aufgefangen! Das Vertrauen darauf ermöglicht die Lebenslust, die sich bereits auf dem elementaren Niveau – beim Miteinander-essen, Miteinander-trinken und ... Sie wissen es eh – artikuliert und zwar als die allererste Form dessen, was zu Recht als religio, als Bindung an den menschenwürdiges Leben ermöglichenden normativen Rahmen genannt werden kann. Und wie dies bei Niewiadomski fast immer der Brauch ist, endet auch diese Vorlesung mit einer sinnstiftenden Geschichte, einer Geschichte, die nicht nur etwas bebildert, sondern die theoretischen Überlegungen weiterführt.

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Die Augen der Kinder glänzten, als sie den berühmten Akrobaten sahen, der mit ihnen sprach. Die Kinder haben gerade die Nachmittagsvorstellung im Zirkus besucht. Sie sahen diesen Akrobaten als Flieger oben auf dem Trapez. Es hat ihnen regelrecht den Atem verschlagen, als sie den halsbrecherischen Salto mortale sahen. Nun saß er da, direkt vor ihnen und erzählte von seiner Jugend, von seinem Training und seinen Hobbys. Und dann fragte er die Kinder: „Was glaubt ihr, wer ist der eigentliche Star des Trapezes?“ „Du“, schrien alle Kinder unisono. „Falsch“, sagte der Akrobat. „Der eigentliche Held und damit auch der eigentliche Star, das ist mein Fänger. Ich mache bloß ein paar Drehungen in der Luft. Er dagegen,“ – die Kinder hielten den Atem an – „er muss mich fangen, ganz präzise in jenem Bruchteil der Sekunde fangen, wenn ich auf ihn in der Luft zusteuere. Ich strecke nur meine Arme aus, fliege und warte, dass er mich auffängt.“ Die Augen der Kinder wurden größer und größer. Sie glaubten, der Flieger will sie absichtlich täuschen. Eines der Kinder traute sich zu fragen: „Und du? Du machst da gar nichts?“ Der Flieger lächelte und sagte: „Eigentlich nicht. Wisst ihr, das wäre das Schlimmste, was ein Flieger tun könnte, wenn er versuchen würde, den Fänger selber zu fassen. Er würde nur seine Handgelenke verstauchen und auch die Handgelenke seines Fängers. Merkt euch bloß eines: Der Flieger fliegt, der Fänger fängt. Der Flieger muss vertrauen, der Fänger darf das Vertrauen nicht enttäuschen“. Warum diese Geschichte? Am Ende seiner „Abschiedsvorlesung“ vergewissert sich der Dogmatiker über all jene Menschen, die ihn im Leben aufgefangen haben. Unzählige waren es. Sowohl in Polen, nach dem frühen Tod meiner Eltern, als ich in meiner Kindheit und Jugend immer und immer wieder „aufgefangen“ wurde, und dann auch in Österreich: im Canisianum, an der Fakultät (dass das Rektorat am Ende meiner akademischen Karriere sich um die höchste akademische Auszeichnung, die Österreich vergibt, bemühte und mir [dem ostpolnischen Bauernbuben] das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse heute verliehen wurde, hat mich überrascht, hat auch selbst mir kurz die Sprache verschlagen; es berührt mich!), in zahlreichen Pfarren, Freundeskreisen (ob es die Segler, Bergretter, die Gardaseerunde oder zahlreiche andere Kreise waren) und nicht zuletzt am Institut (die Mühe, die das Institut bei der Organisation des heutigen Abends auf sich genommen hat, macht mich auch sprachlos und dankbar für die jahrzehntelange Zusammenarbeit). Die Tatsache, dass meine Linzer AbsolventInnen sich immer noch zwei Mal im Jahr treffen, dass sich auch die Innsbrucker DoktorandInnen zu einem „Colloquium on Dramatic theology“ zusammengeschlossen haben, macht mich glücklich. Genauso wie mich die Tatsache glücklich macht, dass es uns (Mathias Moosbrugger, Nikolaus Wandinger, Karin Peter, Christine Eckmair und natürlich dem Provinzial der Schweizer Provinz P. Christian Rutishauser) gelungen ist, Raymund Schwagers Gesammelte Werke zu edieren. Ihnen allen, die sie – wie schon erwähnt teilweise von weit her – heute gekommen sind, bin ich für diesen Akt des „Auffangens“ dankbar. Wenn ich noch eine Person namentlich erwähne, dann hat das einen besonderen Grund. Bischof Maximilian Aichern hat sich zwar für diesen Abend angemeldet, musste aber kurzfristig absagen. Ich bin ihm dankbar, dass er mein „nihil obstat“ durch einen Prozess erkämpft hat. Aufgrund meiner scharfen Polemik gegen die „katholischen Fundamentalisten“ wurde sein Ansuchen um das „nihil obstat“ negativ beantwortet. Bischof Maximilian hat die Sache nicht auf sich beruhen lassen, ist vielmehr nach Rom gereist und hat beim Präfekten der Glaubenskongregation Kard. Ratzinger sich Rat geholt, wie man bei der Sache weiter verfahren könnte. Er bekam den Ratschlag, zu klagen, damit durch einen geordneten Prozess (und nicht aufgrund von Anschuldigungen) die Sache geklärt wird. Er hat sich als guter Fänger eines jungen Theologen erwiesen. Der Dogmatiker vermag hinter all den menschlichen Fängern den einen – wohl den besten – Fänger zu erblicken. Unsere Welt schätzt nur die Flieger; Menschen, die es im Leben zur Perfektion gebracht haben, werden als Helden gefeiert. Weil sie Unglaubliches vollbracht haben. Ich bin Bischof Manfred dankbar, dass er mich in den Seligsprechungsprozess von Franz Jägerstätter involviert hat. Die Beschäftigung mit seiner Geschichte, dann mit der Geschichte von Franziska Jägerstätter ist mir zu einer spirituellen Übung in Sachen „Vertrauen auf den göttlichen Fänger“ geworden. Deswegen bin ich auch dankbar, dass ihre Tochter (Maria Dammer) heute da ist. Gerade die Heiligen, die himmlischen Flieger – wenn Sie so wollen –, stellen uns die gleiche Frage, die der Flieger aus der Erzählung an die Kinder stellte: Glaubt ihr, dass wir die Stars des himmlischen Trapezes sind? Nein, unser Fänger ist es! Wir haben bloß ein paar Drehungen in der Weltgeschichte vollbracht. Wir sind mehr recht oder schlecht durch die Luft geflogen. Er dagegen, unser göttlicher Fänger, hat uns aufgefangen. Er hat seine Finger mit im Spiel, ihm gebührt der Applaus. Das Einzige, was wir getan haben und uns zugutehalten können, ist vielleicht das Faktum, dass wir ihm vertrauten, vertrauten, dass er uns fangen wird. Denn gerade dieses Vertrauen machte uns selbstsicher in unseren Sprüngen und Flügen durch die Lüfte. Mein Dank an Sie alle ist deshalb mit dem Wunsch verbunden: Möge die Gabe dieses Vertrauens Ihnen erhalten bleiben! Gerade angesichts der vielen Katastrophen, gerade in der Konfrontation mit den Abgründen des Lebens, auch in der Konfrontation mit der schrecklich versagenden Kirche: Möge uns das Vertrauen auf den besten Fänger nicht verlassen! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und freue mich mit Ihnen auf das „Miteinander-essen und Miteinander-trinken und -sprechen ...“.

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Foto5 Niewiadomski

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