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Die größere Tiefe ist die größere Weite – und nicht umgekehrt

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:Österreich-Rundbrief Charismatische Erneuerung, 2018, Heft 1, S. 2–3.
Datum:2019-03-14

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Wer auch nur einen Menschen wahrhaftig liebt, dem geht an ihm oder ihr das Geheimnis von Gottes Schöpfung auf: dass alles, was Gott geschaffen hat, im tiefsten Wurzelgrund gut und schön ist. Das gilt auch für Menschen, die alles tun, um ihre wurzelhafte Schönheit in Hass und Hässlichkeit zu pervertieren. Ein wahrhaft liebender Mensch kann deshalb auch einen Feind lieben. – Wer auch nur einen einzigen Menschen wahrhaft liebt, wird dadurch darauf vorbereitet, alle und alles zu lieben. Die größere Tiefe ist so die größere Weite. Wer einem gegenüber in die Tiefe geht, wird dadurch weit für viele.

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Lässt sich dieses Prinzip auch umkehren? Bewirkt die größere Weite auch die größere Tiefe? Ein Meister dieses zweifelhaften Prinzips ist die literarische Figur des Don Giovanni: „Mille tre“, singt er in einer Arie der gleichnamigen Mozartoper: Mille tre – tausend und drei Frauen habe er allein in Spanien erobert, – so brüstet er sich. Hat er mit dieser weit ausgreifenden Erfahrung das Wesen der Frauen und der Liebe zu ihnen begriffen? Definitiv nicht! Als ihm wenig später Donna Elvira begegnet, der er ewige Liebe geschworen hat, kann er sich nicht einmal an sie erinnern. Was wahre Liebe betrifft, ist Don Giovanni ein Dilettant – was wörtlich bedeutet: ein oberflächlicher Liebhaber. Von vielem hat er ein bisschen gekostet und auf diese Weise eine Spur der Zerstörung zurückgelassen: zahllose Menschen verletzt, getäuscht, missbraucht und den eigenen Geschmack für das Wahre, Gute und Schöne nicht verfeinert, sondern verdorben. Die größere Weite führt nicht in die größere Tiefe, es sei denn, die Weite ist schon der Tiefe verdankt, – aus liebender Hingabe an Einzelne und Einzelnes. Deshalb liegt Weisheit darin, mit Wenigen weit zu gehen.

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Der Dilettantismus – von allem ein bisschen – ist eine der großen Versuchungen unserer Zeit. Dank der Massenmedien kann man auf hundert Hochzeiten tanzen; und Facebook macht es möglich, dass man tausend „Friends“ hat. Aber mit welcher Tiefe?

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Ein Gegengift gegen den Dilettantismus ist die Tugend des Fastens, des Verzichts – und zwar nicht nur im Umgang mit Dingen, sondern vor allem mit Menschen. Weniger sprechen, weniger versprechen, die Grenzen der anderen und auch die eigenen Grenzen nicht vorschnell überrennen! Liebe braucht Zeit zum Wachsen, oder zum „Gezähmtwerden“, wie der Fuchs dem kleinen Prinzen erklärt:

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»Man kennt nur die Dinge, die man zähmt«, sagte der Fuchs. »Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!«
»Was muss ich da tun?« sagte der kleine Prinz.
»Du musst sehr geduldig sein«, antwortete der Fuchs. »Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Mißverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bißchen näher setzen können...«
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Das braucht Zeit. Im geduldigen Abwarten des kleineren oder größeren Moments der Gnade, des Kairós, den Gott gibt, wann, wo und wie Er will. Wenn wir Ihm die Zeit dazu geben, ruft Gott uns aus dem seichten Wasser hinaus in die Tiefe. „Duc in altum – Fahrt hinaus ins Tiefe“, befiehlt Jesus seinen Jüngern (Lk 5,4). Das ist mühsam und bedrohlich. Aber nur so kann ihr Fischfang fruchtbar werden. Was Jesus den Jüngern zumutet, ist bereits im Alten Testament angekündigt, in der Erfahrung des Propheten mit der Tempelquelle:

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„Dann führte er mich zum Eingang des Tempels zurück und siehe, Wasser strömte unter der Tempelschwelle hervor nach Osten hin; denn die vordere Seite des Tempels schaute nach Osten. Das Wasser floss unterhalb der rechten Seite des Tempels herab, südlich vom Altar.
Dann führte er mich durch das Nordtor hinaus und ließ mich außen herum zum äußeren Osttor gehen. Und siehe, das Wasser rieselte an der Südseite hervor.
Der Mann ging nach Osten hinaus, mit der Messschnur in der Hand, maß tausend Ellen ab und ließ mich durch das Wasser gehen; das Wasser reichte mir bis an die Knöchel.
Dann maß er wieder tausend Ellen ab und ließ mich durch das Wasser gehen; das Wasser reichte mir bis zu den Knien.
Darauf maß er wieder tausend Ellen ab und ließ mich hindurchgehen; das Wasser ging mir bis an die Hüften.
Und er maß noch einmal tausend Ellen ab. Da war es ein Fluss, den ich nicht mehr durchschreiten konnte; denn das Wasser war tief, ein Wasser, durch das man schwimmen musste, ein Fluss, den man nicht mehr durchschreiten konnte.“ (Ez 47,1–5)
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Die christliche Musikerin Ruth Fazal hat daraus ein charismatisches Lied komponiert:

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„Refrain: Where the River runs, I want to be – I want to go.
1. Gottes Fluss fließt, Gottes Fluss ist hier. Bleibst du stehen und schaust, wie er vorbeifließt, oder steigst du hinein?
— O ja, mein Herr, ich komme. Du kannst auf mich zählen. Denn ich möchte dort sein, wo Gottes Fluss frei fließt.
2. Ich bin hier unter Wasser. Ich werde nicht versuchen (aus eigener Kraft) zu schwimmen. Denn ich liebe es, deine Kraft zu spüren. Deshalb lasse ich zu, dass du mich trägst.
— O ja, mein Herr, ich komme ...
3. Ich spüre, wie dein Geist mich trägt, die Kraft deiner Liebe. Ich kann sie nicht erfassen. Aber ich weiß, dass ich sicher bin.
— O ja, mein Herr, ich komme. Du kannst auf mich zählen. Denn ich möchte dort sein, wo Gottes Fluss frei fließt.“1
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Und ein philippinischer Bischof, mit Verfolgung vertraut, hat dazu ein Gebet verfasst:

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Lebendiger Gott, mach uns unruhig,
wenn wir allzu selbstzufrieden sind,
wenn unsere Träume sich erfüllt haben,
weil sie allzu klein waren;
wenn wir uns im sicheren Hafen bereits am Ziel wähnen,
weil wir allzu dicht am Ufer entlang segelten.

Mach uns unruhig, o Herr,
wenn wir über der Fülle der Dinge, die wir besitzen,
den Durst nach den Wassern des Lebens verloren haben;
wenn wir, verliebt in diese Erdenzeit,
aufgehört haben, von der Ewigkeit zu träumen;
wenn wir über all den Anstrengungen unserer täglichen Arbeit
unsere Vision des neuen Himmels verblassen ließen.

Rüttle uns auf, Herr, damit wir kühner werden
und uns hinauswagen auf das weite Meer,
wo uns die Stürme deine Allmacht offenbaren,
wo wir mit schwindender Sicht auf das Ufer
die Sterne aufleuchten sehen.

In Namen dessen,
der die Horizonte unserer Hoffnungen weit hinausgeschoben
und die Beherzten aufgefordert hat, ihm zu folgen.2
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Sich von Gott ins tiefe Wasser führen zu lassen, das setzt Mut voraus und zugleich Demut. Denn man macht keine gute Figur, wenn die Füße den Halt verlieren und man ungewollt Wasser schluckt, – selbst wenn es Wasser des Lebens ist. Nicht an uns liegt es, eigenmächtig Grenzen zu überschreiten, sondern Gott führt uns über Grenzen hinaus, – wann Er will, wenn wir uns führen lassen. Wie Petrus, als er auf dem Wasser Jesus entgegenging. Auf Wasser zu gehen, ist nur scheinbar souverän. Jenseits deiner Grenzen kannst du nämlich gar nichts selber tun. Für jeden deiner Schritte bist du auf Gedeih und Verderb abhängig von Ihm. So lernen wir jenseits unserer Grenzen vor allem eines: Dass wir nichts, absolut nichts ohne Gottes Kraft ausrichten können. „Komm Jesus, ich brauche dich. Denn ohne dich kann ich nichts tun!“ – Das ist das Gebet jener, die den Boden unter den Füßen verloren haben, weil sie sich von Gott in die Tiefe führen ließen. Dort wo eigene Ohnmacht und gottgegebene Vollmacht einander die Hand geben. Das ist der Ort, wo der Heilige Geist führt und seine Charismen wirken. Wer aus dieser Tiefe lebt, wird selber tief: zum lebendigen Zeugnis für Jesus Christus, den Auferstandenen und Erstgeborenen einer neuen Schöpfung.

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Anmerkungen

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1 Übersetzung von Ruth Fazal, Where the River runs. https://www.amazon.com/Where-The-River-Runs/dp/B006LS066S

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2 Bischof Bienvenido Tudtud, in: Der Traum des Vaters, Basisgemeinschaften auf den Philippinen, Hg. v. Missio Aachen/München 1985.

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