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Universität als Inspirationsraum: Über einen Versuch forschenden Lernens im rechten Milieu
(Kurzansprache anlässlich der Verleihung des Lehreplus-Preises der Universität Innsbruck (23. November 2018))

Autor:Bauer Christian
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Kurzansprache anlässlich der Verleihung des Lehreplus-Preises der Universität Innsbruck (23. November 2018)
Datum:2018-12-12

Inhalt

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Eines Morgens war es einfach da. Es ist ungebeten in meine Alltagswelt eingedrungen – das schwarz-gelbe Zeichen der Identitären. Hier sehen Sie ein (leider etwas unscharfes) Handyfoto. Es klebte dort, wo ich sonst immer mein Fahrrad anschließe. Seither jeden Morgen die gleiche Erinnerung: Wir leben in einer gefährdeten Welt. Unsere offene Gesellschaft ist bedroht – und zwar nicht nur von rechten Hipstern wie den Identitären mit ihrem intellektuell aufgemotzten Rassismus, die sich als ‚außerparlamentarische Opposition’ der Gegenwart gerieren, sondern inzwischen auch von gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertretern. Es gibt ein Kontinuum identitären Denkens, dessen Spektrum längst von der extremen Rechten bis hin zu rechtspopulistischen Parteien in den Parlamenten reicht. Diese gesellschaftliche Problemlage motivierte mich, meinen Kollegen Gilles Reckinger von der Europäischen Ethnologie anzusprechen und mit ihm das nun vorzustellende Seminar[1] zu entwickeln. Wir kannten und schätzten einander schon länger, nun wollten wir ein gemeinsames Lehrprojekt starten, das fächerübergreifend, aktualitätsbezogen und selbstermächtigend sein sollte. Entlang dieser Stichworte, die das Seminar für uns und für andere besonders gemacht haben, werde ich es Ihnen nun in aller gebotenen Kürze vorstellen – und zwar als einen Versuch, die im Leitbild der Universität starkgemachten Grundsätze eines interdisziplinären Lernens an einer Thematik mit aktuellem Gesellschaftsbezug in einem epistemisch offenen Freiraum zu realisieren.

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1. Fächerübergreifender Ansatz

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Unser Seminar war prinzipiell, also in grundlegender Weise, interdisziplinär angelegt. Gilles Reckinger und ich gehören nicht nur verschiedenen Fächern, sondern auch unterschiedlichen Fakultäten an. Genauso die Studierenden unseres überfakultär ausgeschriebenen Seminars. Wir hatten nicht nur Ethnologinnen und Theologen mit dabei, sondern auch Psychologinnen, Politikwissenschaftler, Kunsthistorikerinnen, Juristen und Gender-Studies-Studierende. Sogar ein Mathematiker und eine Mathematikerin waren phasenweise mit von der Partie. In dieser disziplinären Vielfalt bildeten die Studierenden kleine ‚Feldforschungsteams’ von zwei bis drei Personen, die idealerweise interdisziplinär zusammengesetzt waren. Diese plurale Gesamtkonstellation ermöglichte es, komplexe Theoriezusammenhänge, die sich unmittelbar aus den Feldwahrnehmungen dieser fachlich gemischten Forschungsteams ergaben, unter Nutzung der studentischen Eigenressourcen fächerübergreifend aufzuarbeiten. Außergewöhnlich war in diesem Zusammenhang sicherlich die Kombination von empirisch-sozialwissenschaftlichem Feldbezug und damit verknüpften kulturwissenschaftlichen, theologischen, soziologischen, psychologischen, historischen, geographischen und rechtswissenschaftlichen Diskursarchiven.

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Entsprechende Interdisziplinarität setzt fachliche Exzellenz voraus – und sie ist auch mehr als nur eine wohlfeile Pathosformel akademischer Festreden. Verzwickte Zeiten erfordern vielmehr ein in grundlegender Weise plurales Denken. Und genau dafür stellt die Universität – gerade auch unsere Universität – einen großartigen Inspirationsraum bereit. Dessen Diversität ermöglicht produktive Differenzen[2] und somit auch das Erlernen und Einüben einer gegenwartsfähigen Form von Intellektualität, die mein Kollege Rainer Bucher als die Fähigkeit definiert, die Wirklichkeit „gleichzeitig aus mehr als einer Perspektive“[3] zu betrachten. Ein solchermaßen differenzfähiges Denken des Pluralen erfordert die grundsätzliche Bereitschaft zum Perspektivenwechsel. Denn die notwendige Kontingenz[4] der eigenen Perspektive verweist auf die Bedeutung der Anderen und nötigt zu deren Anerkennung – eine epistemische Herausforderung, die sich mit dem spätmodernen Mystikgeschichtler Michel de Certeau[5], der gerade vom kulturwissenschaftlichen Geheimtipp zur theologischen Pflichtlektüre avanciert, in die interdisziplinäre Maxime fassen lasst: „Nicht ohne die Anderen.“[6] Eine solche alteritäre Grundhaltung jedoch verunmöglicht jedes rechts-identitäre Denken bereits im Ansatz. Damit bin ich nun auch schon bei meinem zweiten Punkt:

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2. Aktualitätsbezogene Thematik

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Beide Lehrende des vorzustellenden Seminars sind in Programme kulturwissenschaftlicher Gegenwartsanalyse involviert. Gilles Reckinger in Form einer „engagierten Wissenschaft“[7], die mit einem hohen Commitment bis an die Ränder Europas geht[8], um die politischen Formationsbedingungen unserer Kultur zu erheben, ich selbst in Form einer christlichen Public Theology, die sich nicht auf eine Verteidigung gesellschaftlicher Machtbastionen versteift, sondern vielmehr auf solidarisch mitgehende Zeitgenossenschaft[9] zielt. Beide Ansätze treffen sich in einer auf aktuelle Probleme fokussierenden Wissenschaft, die mit Michel Foucault nach den jeweils bedrängendsten Zeichen der Zeit fragt: „Die [...] politische Wahl […], die wir jeden Tag treffen müssen, besteht darin zu bestimmen, was die jeweilige Hauptgefahr ist.“[10]

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Gilles und mir ist diese Wahl nicht schwer gefallen. Wir betrachten den weltweit grassierenden Rechtspopulismus inklusive seiner identitär-rechtsextremen Tendenzen als eine der aktuellen Hauptgefahren unserer offenen Gesellschaft[11]. Ihm wären andere Narrative, alternative Frames entgegenzusetzen[12], welche die Menschwürde jedes und jeder Einzelnen ins Zentrum stellen. Dazu muss ich aber im gegenwärtigen Strukturwandel unserer medialen Öffentlichkeit die Filterblase meiner eigenen gesellschaftlichen Echokammer verlassen und der zunehmenden digitalen Tribalisierung unserer Gesellschaft entgegenwirken. Hand auf’s Herz: Haben Sie schon einmal mit wirklich Rechten geredet?[13] Gegen die milieuspezifische Selbstbeschränkung auch des universitären Feldes hilft nur eines: Raus aus der eigenen Blase, hinein in die Gesellschaft. Hin zu denen, die anders denken und anders fühlen – und mit ihnen sprechen. Face to face. Auf Bauchgefühle nicht mit Kopfargumenten reagieren. Mehr Demokratie wagen, oder besser: überhaupt Demokratie wagen. Denn eine offene Gesellschaft kann man nicht mit geschlossenem Geist verteidigen.

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Rechtes Denken in entsprechender Weise wirklichkeitswahrnehmend und diskursöffnend zu kontern: das war der ursprüngliche Plan unseres Seminars – der angezielte Kontakt mit dem rechten Milieu hat sich jedoch leider als kaum möglich herausgestellt. Ein entsprechender Dialog erfordert nämlich die Bereitschaft beider Seiten. Und die war ganz offenkundig nicht in der symmetrischen Weise vorhanden, die Jürgen Habermas mit seinem sehr optimistischen Diskursbegriff[14] nahelegt. Die Frage ist: Wie diskutiert man mit Diskursverweigerern?[15] Generell beschränkte sich unser Kontakt mit dem rechten Milieu daher leider weitgehend auf mediale Zugänge. Die Palette studentischer Ideen war breit. Sie reichte vom archivgestützten Mapping, das anhand entsprechender Treffpunkte zeigte, wo und wie sich in Innsbruck rechtsextreme und burschenschaftliche Netzwerke überlappen und verknoten, über die juridisch-soziologische Medienanalyse eines rechten Facebook-Accounts bis hin zur bildtheoretischen Untersuchung der neofaschistischen Ikonographie der italienischen Bewegung Casa pound – um nur drei Beispiele für die methodische Phantasie zu nennen, mit der die Studierenden dabei zu Werke gingen. Damit hängt nun auch mein dritter und letzter Punkt zusammen:

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3. Selbstermächtigende Methodik

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Unser Seminar war als ein prozessorientierter, offen strukturierter Lehr-Lernprozess konzipiert, in dem die Studierenden ein selbstgewähltes Thema mit einem je nach Fachrichtung und Forschungsgegenstand adäquaten Methodenset bearbeiten konnten. Das Ganze war als ein teilgeblocktes Feldforschungsseminar strukturiert, bei dem sich Plenartreffen mit eigenständigen bzw. begleiteten Feldwahrnehmungen inkl. fachlicher Einzelberatung abwechselten. Aus diesem Rhythmus ergab sich eine klare Grundstruktur der wechselseitigen Theorie-Praxis-Erhellung, die allen Beteiligten (auch den Lehrenden!) einen nachhaltig inspirierenden Lernraum eröffnete. Als Felderkundung realisierte unser Seminar einen nicht applikativen, sondern konstitutiven Praxisbezug, für dessen explorativ-kritische Grundausrichtung die Lehrenden entsprechende Hilfestellungen z. B. mit Blick auf Methoden der empirischen Sozialforschung gaben. Im Laufe des Seminars kamen dabei auch innovative hochschuldidaktische Instrumente wie das ‚Speeddating’ oder Methoden des ‚Action Research’ zum Einsatz. Ansonsten war es jedoch bewusst als ein wenig materialorientierter, prozessoffener gemeinsamer Forschungsgang angelegt, in dessen Kontext entsprechende Theorien jeweils fallweise hinzugezogen wurden.

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Abschließend lässt sich sagen, dass die von uns in einem kommunikativen Setting praktizierte individuelle Freiheit in Bezug auf einen selbstgesteuerten und zugleich intensiv begleiteten Lernprozess für viele Studierende eine außergewöhnliche, durchaus auch neue Erfahrung war. Dabei kam es zu einer wechselseitigen Performanz von Lehrinhalt und Lehrform: das thematische ‚Was’ und das methodische ‚Wie’ des Seminars sollten zusammenstimmen. Ein wirksamer Kampf gegen rechts-identitäres Gedankengut braucht unserer Meinung nach nämlich kritische Studierende: interdisziplinär vernetzte Selbstdenkerinnen und Selbstdenker, die vermeintlich stabile Identitäten hinterfragen und mit dynamischen Hybriden gut leben können. Entsprechende wissenschaftliche Dekonstruktionen gilt es vorzubereiten und einzuüben. Dazu braucht es selbstermächtigende Prozesse eines forschenden Lernens, in denen die Studierenden Gegenstand und Methode ihres Forschens eigenständig festlegen – begleitet von Lehrenden, die sich ihrerseits auch selbst als Lernende verstehen. In der Hochschuldidaktik heißt das dann: shift from teaching to learning. Ein solcher partizipativer Seminaransatz schafft universitäre Orte sich wechselseitig intensivierender Freiheiten und somit auch die Bedingung der Möglichkeit von epistemischer Kreativität – ein auf die verschiedensten Fächer und Themen übertragbares Lehr-Lernformat. Natürlich war auch unser Seminar nicht perfekt – man kann immer alles noch besser machen. Es freut uns jedoch, dass die Universität Innsbruck zumindest den Versuch für lohnenswert erachtet hat…

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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Anmerkungen

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[1] Vgl. Daniela Pümpel: Augen öffnen, in: https://www.uibk.ac.at/newsroom/augen-oeffnen.html.de; Christian Bauer, Gilles Reckinger: Einblicke in die rechte Szene. Eine Seminarauswertung im ethnologisch-theologischen Dialog, in: Lebendige Seelsorge (2018), 440-443.

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[2] Vgl. Christian Bauer, Martin Kirschner, Ines Weber (Hg.): An Differenzen lernen. Tübinger Grundkurse als theologischer Ort, Münster 2013.

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[3] Rainer Bucher: Katholische Intellektualität. Ein Versuch, in: Wort und Antwort 46 (2005) 158-164, 160.

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[4] Vgl. Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit, Zürich 2008.

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[5] Vgl. Christian Bauer, Marco Sorace (Hg.): Gott, anderswo? Michel de Certeau im Gespräch mit der Theologie, Ostfildern 2018.

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[6] Vgl. Christian Bauer: Nicht ohne die Anderen? 200 Jahre katholische Theologie in Tübingen, in: www.feinschwarz.net (16. Januar 2018).

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[7] Pierre Bourdieu: Für eine engagierte Wissenschaft, in Le Monde diplomatique (Februar 2002), 3.

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[8] Vgl. Gilles Reckinger: Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas, Wuppertal 2013; Ders. Bittere Orangen. Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa, Wuppertal 2018.

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[9] Vgl. Christian Bauer: Christliche Zeitgenossenschaft. Pastoraltheologie in den Abenteuern der späten Moderne, in: International Journal of Practical theology (2016), 4-25 (= Innsbrucker Antrittsvorlesung). In meinen bisherigen Feldforschungs-Seminaren haben Studierende ‚zeitgenössische’ Themen wie Theologie im Popsong, Religion im Fußballstadion, Evangelisch in Tirol (mit dem Ethnologen Timo Heimerdinger) und Orte sozialer Innovation (mit dem Architekten Walter Klasz) bearbeitet.

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[10] Michel Foucault: À propos de la généalogie de l’éthique. Un aperçu du travail en cours, in: Ders.: Dits et Écrits II (1976-1988), Paris 2001, 1202-1230, 1205.

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[11] Vgl. Christian Bauer: Feinde der offenen Gesellschaft. Rechtspopulismus als theologisches Problem, in: www.feinschwarz.net (30. April 2016); Ders.: Verwundbarkeit der offenen Gesellschaft. Carl Schmitt und Jacques Derrida in Zeiten des Terrors, in: Hermeneutische Blätter (2017), 92-104.

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[12] Vgl. Elisabeth Wehling: Politisches Framing, Köln 2016 sowie Christian Bauer: Heimat in einer offenen Welt Heimat in einer offenen Welt? Ressourcen für ein spätmodernes Kohärenzgefühl, in: Sonja Strube (Hg.): Das Fremde akzeptieren – gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenwirken. Theologische Ansätze, Freiburg/Br. 2017, 153-168.

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[13] Siehe demnächst das Themenheft „Mit Rechten reden“ der Zeitschrift Lebendige Seelsorge sowie Per Leo, Maximilian Steinbeis, Daniel-Pascal Zorn: Mit Rechten reden. Ein Leitfaden, Stuttgart 2017.

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[14] Gerade am Diskursbegriff entzündete sich im Seminar eine spannende multidisziplinäre Diskussion zwischen den beiden Begriffspolen Jürgen Habermas und Michel Foucault.

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[15] Eine weitere sehr fruchtbare Debatte kreiste um die Frage, ob Rechte dasselbe wissenschaftliche Forschungsethos ‚verdienen’ wie alle anderen – ob man in ihrem Milieu also beispielsweise ‚undercover’ forschen darf („Die haben es doch gar nicht anders verdient“).

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