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Auf dem Weg ins Wohlstandsghetto. Eine Empörung

Autor:Guggenberger Wilhelm
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2018-06-29

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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„This is the dawning of the age of Aquarius“ wurde 1968 im Musical Hair gesungen, in der vielleicht naiven Hoffnung auf eine friedlichere, harmonischere Epoche der Geschichte. 2018 packt mich morgendliches Grauen, stoße ich bei der Zeitungslektüre auf den Namen Aquarius. Die Geschichte dieses und anderer Flüchtlingsschiffe lässt Bilder in meinem Gedächtnis aufsteigen, Bilder in schwarz-weiß, die einer Zeit entstammen, derer wir gern im Gestus der Betroffenheit gedenken. „Nie wieder!“ wird bei solchen Anlässen skandiert. Doch die farbigen Bilder der Gegenwart erlauben es nicht, bei der hypothetischen Frage stehen zu bleiben: „Wie hätte ich mich damals verhalten?“, sie zwingen uns die Gewissensfrage im Hier und Jetzt auf. Als katholischer Sozialethiker vertrete ich in Lehre und Forschung – im Einklang mit meiner Kirche – die Option für die Schwächsten. Angesichts der gegenwärtigen Asyldebatte frage ich mich jedoch: Kann ich meinen internationalen Doktoratsstudierenden gegenüber, die aus aller Welt stammen, viele auch aus Afrika, ein solches Prinzip noch aussprechen, ich als Österreicher, als Europäer, ohne dass mir die Schamröte ins Gesicht steigt?

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Es wird wohl so sein, dass es auch für das reiche Österreich und das wohlhabende Europa eine Belastungsgrenze im Hinblick auf Zuwanderung und Asyl gibt. Ist diese Grenze aber tatsächlich bereits erreicht, gar überschritten? Eine ernsthafte Debatte darüber nehme ich nicht wahr. Spontaneindrücke und der Widerhall aus den Echokammern der digitalen Medien werden zur Grundlage nationaler und europäischer Politik erhoben. Der berechtigte Verweis darauf, dass Ängste und Befürchtungen in der Bevölkerung ernst zu nehmen seien führt nicht zum Bemühen um Aufklärung und eine Beruhigung der Gemüter. Für den kurzfristigen und kurzsichtigen politischen Erfolg mag es erfolgversprechend sein, Probleme aufzubauschen um sich dann als heldenhafter Anbieter von Scheinlösungen zu präsentieren oder auf irgendjemanden mit dem Finger zu zeigen, der angeblich Ursache dieser Probleme ist. Wir scheinen uns daran gewöhnt zu haben.

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Was aber geht in unserer Gesellschaft vor sich, wenn bekennende Verfechter eines offenen und liberalen Europa dazu aufrufen, dieses Europa zur Festung auszubauen, wie Eric Frey am 23. Juni 2018 in seinem Standard-Plädoyer? Ich erinnere mich an eine offenbar ferne Vergangenheit, in der das europäische Friedensprojekt auf der Grundlage der Norm betrieben wurde: Europa darf nicht zur Festung werden! Eine einzige Silvesternacht mit fraglos übelsten Vorkommnissen hat gereicht, um diese Orientierung um 180 Grad zu drehen. Heute heißt es: Europa muss zur Festung werden! So wenig Widerstandskraft hat der liberale Geist. So wenig Widerstandskraft, dass er sich sogar der Grundlagen rationaler Argumentation entledigt, um seine Bocksprünge zu rechtfertigen, derer er sich befleißigt, sobald die Freiheit Kosten verursacht. Herr Frey selbst zitiert in seinem Text Studien darüber, dass die meisten EuropäerInnen die Anzahl und die finanzielle Belastungen durch Flüchtlinge und Asylanten überschätzen. Er hält selbst fest, dass im Alltagsleben der Meisten auf diesem Kontinent die Asylthematik praktisch nicht zu spüren ist. Doch das Eingeständnis kognitiver Dissonanzen mahnt nicht zur Arbeit an einer verzerrten Realitätswahrnehmung, vielmehr soll sich gute Politik in Hinkunft dadurch auszeichnen, dass sie Zerrbilder zur Basis ihrer Entscheidung macht. Der politische Streit um Werthaltungen und Anstand ist längst aufgegeben. Nicht dem ideologischen und vielfach menschenverachtenden Missbrauch des Migrationsthemas ist entschieden entgegenzutreten, vielmehr gilt es Migration aus der Welt zu schaffen. Ach nein, nicht aus der Welt; es genügt, sie in Zonen außerhalb der Europäischen Außengrenzen zu halten.

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Angesichts solcher Schlussfolgerungen erstaunt die Unverfrorenheit kaum noch, mit der man karitative Organisationen zu Feinden der offenen Gesellschaft erklärt und die humanitäre Entscheidung Angela Merkels von 2015 zum Verrat an Europa umdeutet. Wenn offenbar Konsens über den Satz herrscht: „2015 darf sich nicht wiederholen“, denkt dann eigentlich irgendjemand darüber nach, was hier alles für die Zukunft ausgeschlossen wird? Darf es sich nicht wiederholen, dass Kriegsflüchtlinge sich auf den Weg in einen sicheren Kontinent machen, in der Hoffnung dort Aufnahme zu finden? Darf es sich nicht wiederholen, dass in beispielloser Solidarität und Mitmenschlichkeit tausende BürgerInnen die Organisationslücken ihrer Staaten überbrückt haben? Die fraglose Akzeptanz des Neusprechs, mit dem auch Ministerpräsidenten und Bundeskanzler gegenwärtig die Realität zurechtbiegen, verheißt nichts Gutes für die Zukunft unseres Kontinents.

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Es sei nochmals wiederholt – man wird sich an den Begriff gewöhnen müssen: Es geht um die Zukunft der Festung Europa. Wie haben wir uns diese vorzustellen? Als Wohlstandghetto jener, die seit Jahrzehnten alle Warnungen davor in den Wind schlagen, dass unsere Welt in Arm und Reich auseinanderdriftet? Wussten wir denn bislang nichts von der halbierten Wirtschaftsliberalität, die mit subventionierten Agrarexporten aus Europa die afrikanischen Märkte ruiniert? Wussten wir nichts davon, dass Ressourcen des schwarzen Kontinents in die OECD-Welt strömen, ohne dass die Menschen vor Ort davon profitieren? Wussten wir nicht dass amerikanische und europäische Waffen von korrupten Eliten und Warlords zur Unterdrückung ihrer Völker verwendet werden? Wir wollen es nicht gewusst haben, denn das würde doch eine ethische Verpflichtung für uns bedeuten; auch jenen gegenüber, die wir als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen; ein Begriff, der nach der sich etablierenden Sprachregelung schon an die Sphäre des Verbrecherischen rührt.

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So barbarisieren wir all jene, die nicht zu uns gehören dürfen. Das Muster ist bekannt und offenkundig langlebiger als alle Ideale der Aufklärung. In einer globalisierten Welt mit ihren pluralisierten Gesellschaften wird die Barbarisierung aber nicht mehr so reibungslos funktionieren, wie in den Zeiten der Geschichte, die wir gern als dunkel bezeichnen. Zumindest hoffe ich darauf, dass da noch viele innerhalb der europäischen Grenzen sind, denen es um die Verteidigung der Ideale Europas geht und nicht nur um den Schutz seines exklusiven Wohlstands. Wie die derzeitigen politischen Rädelsführer darauf reagieren werden, ist leider nur allzu absehbar. Es war schon immer ein probates Mittel, die Verfeindung nach Außen mit der Hetze auf Sündenböcke im Inneren der Gesellschaft zu kombinieren. Halten die Festungswälle nicht lückenlos, was sie versprechen, sind die Kollaborateure unter uns rasch identifiziert. Da kann aus der Festung Europa dann im Handumdrehen für viele ein Kerker werden. Für wen werden Toleranz und Liberalismus dann noch gelten? Auf welcher Seite werden jene selbsternannten Verfechter der Freiheit dann stehen, die heute die Mittel rechter Politik zum Heilmittel gegen Rechtspopulismus erklären? 

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Dieser Text reagiert auf den Artikel von Eric Frey „Was aus liberaler Sicht für eine ‚Festung Europa‘ spricht“ (In: Der Standard vom 23. Juni 2018; https://derstandard.at/2000082091102/Was-aus-liberaler-Sicht-fuer-eine-Festung-Europa-spricht) und ist in Auszügen veröffentlicht unter: https://derstandard.at/2000082302158/Lesersturm-auf-die-Festung-Europa.

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